25. Januar 2013 Otto König und Richard Detje: Die Tarifrunde 2013 ist eröffnet

Über Verteilungspolitik hinaus

Für rund 12,5 Millionen Beschäftigte stehen Verhandlungen über neue Einkommenstarifverträge an. So fordert ver.di für die 800.000 Beschäftigten im Öffentlichen Dienst der Länder eine Erhöhung der Gehälter um 6,5% und der Ausbildungsvergütungen um 100 Euro.[1] Um 6,5% geht es auch bei der Deutschen Bahn AG und in der Energie- und Versorgungswirtschaft; in der Holz- und Kunststoffindustrie sowie bei Nahrung-Genuss-Gaststätten liegen die Forderungen zwischen 5-6%. Im Organisationsbereich der IG Metall haben die Große Tarifkommission für die Eisen- und Stahlindustrie und die regionalen Tarifkommissionen in der Metall- und Elektroindustrie die Entgeltverträge zum 28. Februar bzw. 30. April 2013 gekündigt. Es geht um höhere Löhne und Gehälter – qualitative Forderungen stehen nicht auf der Tagesordnung.

Alte Verteilungskonflikte – Wiederkehr des immer gleichen? Das sollte nicht der Fall sein.

Gestärktes Selbstbewusstsein

Aus den Krisenjahren 2008-2010 sind die Gewerkschaften – entgegen allen historisch gesättigten Erwartungen – gestärkt hervorgegangen. Ablesbar an der Beschäftigungsbilanz, der Mitgliederentwicklung und eben auch an den Tarifergebnissen. Nach einer tarifpolitisch verlorenen Dekade (Reallohnverluste von 5,4% in 2000-2010) lagen die Einkommenszuwächse 2012 wieder oberhalb der Preissteigerungen. Auch effektiv, ohne dass betriebliche Umverteilungsprozesse den tarifpolitischen Erfolg wieder zunichte gemacht hätten. Anders wäre der Ansehensgewinn der Gewerkschaften bis in die Reihen der politischen Akteure – Wahljahr hin oder her – auch nicht zustande gekommen.

Anders formuliert: In einer ökonomisch, sozial und politisch angespannten Situation haben die Gewerkschaften durch Erfolge an Legitimation gewonnen, und zwar mehr, als es die Zahlen hergeben. Denn aus der betrieblichen Erfahrungspraxis wie aus Befragungen ist bekannt, dass Gewerkschaften als vertretungsstarke Schutzorganisation unter den organisierten wie unorganisierten Beschäftigten eine Aufwertung erfahren haben. Dazu gehört auch erfolgreiches Agenda-Setting in der maßgeblich von ver.di getragenen Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn und die Eindämmung prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs). Ohne diesen Druck hätte sich die SPD mit einem Personaltableau, das in der Führungsspitze bereits Mitte des letzten Jahrzehnts Verantwortung trug, nicht vom Erbe der Agenda 2010 so weit freischwimmen können, wie das der Fall ist.

Doch Legitimation kann schnell entzogen werden. Das wäre zum einen der Fall, wenn sich im weiteren Krisenverlauf die ideologische Mächtigkeit von Standortsicherungsdiskursen (Arbeitsplatzsicherung durch Lohnzurückhaltung) und Staatsverschuldung als Krisen­ursache behaupten sollte. Die Gefahr ist auch deshalb virulent, weil Gewerkschaften neben erfolgreichem Krisenmanagement unseres Erachtens zu wenig zur Krisendeutung und zur Verdeutlichung einer alternativen politischen Ökonomie unternommen haben. Legitimation kann aber auch dadurch zerfressen werden, dass das Erscheinungsbild der Gewerkschaften als Organisationen gesamtgesellschaftlicher Solidarität verblasst. Wachsende Lohnspreizung nicht nur gegenüber dem Sektor prekarisierter Arbeit, sondern auch zwischen Berufen und Branchen gefährdet diesen Zusammenhang. Koordinierte Tarifpolitik mit dem Ziel, das Lohnniveau insgesamt anzuheben, hat insofern nicht nur eine nachfragepolitische, sondern maßgeblich auch eine den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkende Dimension.

»Tarifparteien sollten endlich mal mutig sein« (DIW)

Selbstverständlich sind für eine Tarifrunde die ökonomischen Rahmenbedingungen maßgeblich. Die Wirtschaftsforschungsinstitute und der Sachverständigenrat (SVR) haben ihre Wachstumsprognosen für 2013 in den vergangenen Monaten nach unten korrigiert; sie liegen zwischen 0,3% (RWI und IfW Kiel) und 0,9% (DIW). Insgesamt wird im ersten Halbjahr von einer sich fortsetzenden Abschwächung der Konjunktur ausgegangen. Das Risiko, dass die deutsche Wirtschaft wie andere Euro-Staaten in einer Rezession feststeckt, sei damit allerdings nicht gewachsen, im zweiten Halbjahr 2013 soll sich die Nachfrage wieder leicht beleben. In ihrem ökonomischen Szenario verweist die IG Metall auf steigende Industrieaufträge aus dem Inland, ein leichtes Plus bei den Investitionsgüterproduzenten und laut Ifo verbesserte Geschäftserwartungen, die die fehlenden Wachstumsimpulse aus dem Ausland ausgleichen.

Für eine nachfragestärkende Tarifpolitik erhalten Gewerkschaften Unterstützung aus Kreisen der Ökonomen. Der Leiter des DIW, Gert Wagner, spricht sich für Lohnerhöhungen von »im Durchschnitt 4% und mehr aus«, um »die Binnennachfrage anzukurbeln und so die extrem ausgeprägte Exportabhängigkeit zu mindern«.[2] Das Sachverständigenrats-Mitglied Peter Bofinger geht noch darüber hinaus: »5% Plus über alle Branchen sollten es schon sein.«[3] Darin ist ein »zweiprozentiger Zuschlag zur Euro-Rettung« enthalten. Argument: »Wir können bei Tarifverhandlungen nicht länger so tun, als lebten wir auf einer Insel«.

In das Horn eines europapolitischen Mandats der Tarifpolitik bläst auch Wagner: »Wenn wir hier in Deutschland mehr konsumieren, dann heißt das auch, dass wir mehr aus unseren Nachbarländern importieren. Und das kann dort Wachstumsimpulse auslösen, die dringend nötig sind, wenn Schulden abgebaut werden sollen.« Und das IMK empfiehlt: »Aus Gründen der europäischen Stabilität und auch aus Gründen der deutschen Stabilität, die ja unmittelbar mit der europäischen Stabilität verbunden ist, dürfen es in den nächsten zwei bis drei Jahren auch mal 4% oder etwas mehr sein – als kurzfristigen Beitrag Deutschlands zur Stabilisierung des Euroraums.« (Gustav Horn) Zudem empfehlen diese Ökonomen, den Niedriglohnsektor einzuschränken und einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen.

Folgt man den Prognosen, wird die gesamtwirtschaftliche Produktivität um rund 1,5% steigen; bei der Preissteigerungsrate wird ein Plus von 2,1% erwartet. Daraus ergibt sich ein verteilungsneutraler Spielraum von rund 3,6%. Die Tarifforderung der IG Metall setzt sich aus diesen beiden Elementen (Produktivitäts- und Preissteigerungsrate) zusammen; hinzu kommt eine Umverteilungskomponente – damit die Schere von Lohn- und Gewinnentwicklung sich nicht weiter öffnet, sondern etwas schließt. Verteilungspolitische Gerechtigkeitsargumente und eine europapolitisch begründete Erweiterung der Tarifpolitik kreuzen sich.

Dass von Arbeitgeberseite »deutliche Bremsspuren« in der Konjunkturentwicklung betont werden, versteht sich von selbst. Ein europäisch erweitertes verteilungspolitisches Mandat wird als »volks- und betriebswirtschaftlicher Unsinn« zurückgewiesen (Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Peer-Michael Dick). Beistand leistet der Vorsitzende des Sachverständigenrates, Wolfgang Franz, der wie gehabt für eine »beschäftigungsfreundliche Tarifpolitik« mit niedrigen Lohnabschlüssen plädiert.

»Same procedure as last year, Miss Sophie?« Auch hier meinen wir, dass weiter gedacht werden sollte.

Ein europapolitisches Mandat der Tarifpolitik erfordert eine gesellschaftliche Aufklärungsarbeit, die gegen den wettbewerbs- und sparpolitischen Mainstream gerichtet ist. Es leuchtet ein, dafür die Öffentlichkeit der Verteilungsauseinandersetzung zu nutzen. Aber ohne Engführung auf eine ausschließlich auf Angleichung der Lohnstückkosten orientierten Strategie – grob: Senkung im Süden, Steigerung in den Exportüberschussländern. Wir meinen: Der lohnpolitischen Pfad wird überfrachtet. Das europapolitische Mandat muss breiter angelegt werden. Das DGB-Programm für einen »Europäischen Marshallplan« bringt diese Erweiterung in realwirtschaftlicher – Industrie- und Dienstleistungssektor umfassender – Perspektive: Zehn Jahre lang sollen in Europa jährlich 260 Mrd. Euro staatliche Investitionen in die Volkswirtschaften fließen. Das zielt auf eine neue ökonomische Arbeitsteilung in Europa und auf einen massiven Ansatz zur Eindämmung der Arbeitslosigkeit. Deren Dimension hat nicht erst bei Raten von 25% in Spanien und Griechenland eine gesellschaftszerstörende Dimension angenommen.

Worauf die Arbeitslosigkeit in Euro­pa bereits hinweist: Von einem Nach-Krisen-Szenario kann keine Rede sein. Viel spricht dafür, dass aus struktureller Überakkumulation – einer nicht mehr beschleunigten Investitionsentwicklung – ein Stagnationsszenario geworden ist, in dem realwirtschaftliche Wachstumsraten tendenziell unterhalb der Produktivitätsentwicklung liegen. Und dies nicht in einer Situation der Kapitalknappheit, sondern des Überflusses an anlagesuchendem Kapital. Tarifpolitik, die nicht im Käfig der »industriellen Reservearmee« eingesperrt werden will, sollte über verteilungspolitische Eingriffe hinausgehen. Nicht dass dies im Rahmen einer Tarifrunde zu bewältigen und 2013 bereits umsetzbar wäre. Aber notwendig ist u.E. konzeptioneller Vorlauf für eine Politik, die ihre Erfolge künftig nicht mehr aus beschleunigter Produktivkraftentwicklung (bei kon­trollierter Preisentwicklung) zieht. Anders formuliert: eine Tarifpolitik, die nicht nur Verteilungsgrößen im Fokus hat, sondern auch Dienstleistungs- und Industriepolitik neu durchdenkt. Von Schweden ließe sich historisch nicht nur im Sinne »solidarischer Lohnpolitik«[4] lernen, sondern auch im Hinblick auf eine Politik, in der sich Gewerkschaften für öffentliche Investitionsfonds einsetzen – als tarifliches, aber vor allem als gesellschaftspolitisches Programm.

Das mag weit vorausgedacht sein. Fern der aktuellen Verteilungskonflikte ist es allerdings nicht.

Richard Detje ist Redakteur, Otto König Mitherausgeber von Sozialismus.

[1] Zudem soll eine Übernahmegarantie für Ausgebildete durchgesetzt werden. Die Verhandlungen führen gemeinsam die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Gewerkschaft der Polizei (GdP), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Beamtenbund (DBB). Für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst im Bund und in den Kommunen erstritt ver.di im Frühjahr 2012 ein Gehaltsplus von 6,3% in mehreren Stufen bei einer Laufzeit von zwei Jahren.
[2] www.derwesten.de/nachrichten/diw-chef-wagner-fuer-lohnabschluesse-von-vier-prozent-und-mehr-id7422328.html
[3] SPIEGEL online v. 06.01.2013
[4] Siehe maßgeblich: Thorsten Schulten: Solidarische Lohnpolitik in Europa. Hamburg 2004.


Tarifkalender 2013

  • Ende Dezember 2012: Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst (Länder), die Deutsche Bahn AG, die Wohnungswirtschaft, die Holz und Kunststoff verarbeitende Industrie und einige Energiekonzerne
  • Februar 2013: Eisen- und Stahlindustrie sowie weitere Bereiche der Energiewirtschaft
  • Ende März 2013: Bauhauptgewerbe, Versicherungsgewerbe und einige Bereiche des Einzelhandels sowie des Groß- und Außenhandels
  • Ende April 2013: Metall- und Elektroindustrie, Kautschukindustrie, weitere Bereiche des Einzel- und Großhandels sowie des Kfz-Gewerbes
  • Ende Mai 2013: Papierindustrie, Textilreinigungsgewerbe und weitere Bereiche des Kfz-Gewerbes und des ostdeutschen Einzelhandels
  • Juni 2013: Volkswagenwerke
  • Ende September 2013: Gerüstbaugewerbe sowie Maler- und Lackiererhandwerk
  • Ende Oktober 2013: Gebäudereinigerhandwerk, Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau sowie Leih-/Zeitarbeit
  • Ende Dezember 2013: Druckindustrie, private Abfallwirtschaft und Teile der chemischen Industrie

Quelle: WSI-Tarifarchiv

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