1. Februar 2001 Johannes Steffen

Überschaubare Korrekturen

»Das ist ein Erfolg der Gewerkschaften und insbesondere ein Erfolg der IG Metall.«
Klaus Zwickel am 18.1.2001

Wer die Reform jetzt noch verhindern wolle, so DGB-Vorstandsmitglied Heinz Putzhammer Mitte Januar, bekomme es »mit den Gewerkschaften zu tun«. Solch martialische Töne haben einerseits – obwohl (oder gerade weil) an Arbeitgeber und Union gerichtet – ihre wohl kalkulierte Innenwirkung, setzen andererseits aber auch der über Monate zu beobachtenden Orientierungslosigkeit der gewerkschaftlichen Führungsebenen in Sachen Rente die Krone auf. Vom – verbal – schärfsten Kritiker des Systemwechsels in der Rentenpolitik mutierten die Arbeitnehmerorganisationen auf den letzten Metern zum politisch-ideologischen Gepäckträger. Dafür, so darf vermutet werden, gibt es gute Gründe. Was also hat sich über die vergangenen Wochen in der Sache so Entscheidendes getan?

Die Ausschuss-Anhörung zum Altersvermögensgesetz (AVmG) Mitte Dezember war nach einhelliger Einschätzung ein einziger Verriss des Riesterschen Ausgleichsfaktors; dessen Folge wäre bekanntlich eine Senkung des Eck-Rentenniveaus (2000: 70,74% im Westen) für den Rentenzugang des Jahres 2030 auf gerade noch 61,09% gewesen. Dieser Kürzungsfaktor war bereits vor Weihnachten vom Tisch. Auch nach 2010 wird es damit ein einheitliches Rentenniveau für Bestands- und Zugangsrenten geben – ein Wert an sich, der auch nicht kleingeredet werden soll. Dafür, dass die Jüngeren weniger bluten, werden nun allerdings Rentenbestand und rentennahe Jahrgänge etwas stärker als zunächst geplant zur Kasse gebeten. Am Dogma der Beitragssatzbegrenzung auf maximal 22% (2030) wurde nämlich auch am 17. Dezember nicht gerüttelt. An jenem denkwürdigen dritten Advent trafen der Kanzler und sein Arbeitsminister in Hannover mit den Vorsitzenden von DGB und DAG sowie der drei großen Einzelgewerkschaften zusammen, um in trauter Männerrunde die Kuh vom Eis zu holen. Für die Rentenanpassungen ab dem Jahre 2011 einigten sie sich auf den VDR-Vorschlag – modifiziert um eine »DGB-Korrekturvariante«. Anschließend war von einem »wichtigen Erfolg der Gewerkschaften« (Zwickel) und der Erwartung einer »absolut breiten Mehrheit« (Schulte) der Mitgliedsorganisationen für den Rentenkompromiss zu lesen. Und auch das letzte Scharmützel, nämlich der Streit darüber, ob nicht zugunsten einer weiteren Dynamisierung des Einkommensfreibetrages bei den Hinterbliebenenrenten neuen Rechts statt der von den Gewerkschaften verlangten 90% doch nur 85% der Lohnerhöhung für die Rentenanpassung berücksichtigt werden sollen, war Anfang des Jahres schnell ausgefochten.

Seither ist auch auf Seiten der Gewerkschaften die Rede von der 67%-Schwelle, die das Nettorentenniveau künftig nicht unterschreiten werde; das wären 6%-Punkte mehr als Riester für den Zugang 2030 vorgesehen hatte und kann somit gar nichts anderes sein als ein Erfolg gewerkschaftlicher Gegenwehr. Die Zahlen sprechen allerdings dagegen (vgl. Übersicht 2): Zwar weist die Modellrechnung der Koalition nunmehr für das Jahr 2030 ein Niveau (Nettostandardrente zu durchschnittlichem Nettoarbeitsentgelt) von 67,85% aus – hierbei handelt es sich allerdings um den »geriesterten« Wert, bei dem das durchschnittliche Nettoarbeitsentgelt pauschal um den freiwilligen Privatvorsorgebeitrag gesenkt wird. Nach heutiger Berechnungsweise betrüge das Rentenniveau demgegenüber nur 64,32% und läge somit ganze 0,32%-Punkte oberhalb der seinerzeitigen Blümschen Niveausicherungsklausel von 64%. Die vermeintliche Niveaugarantie von 67% schrumpft also auf gerade mal 63,5% zusammen.

Erinnern wir uns an das Jahr 1998: Nach den Worten des seinerzeitigen Kandidaten und heutigen Kanzlers war die Absicht der Altkoalition, das Rentenniveau perspektivisch auf 64% zu senken, »unanständig«. Auch der DGB sah dies in der Sache nicht anders. Die schriftliche Stellungnahme für die Ausschussanhörung hält fest: »Der DGB hat im Rahmen der Diskussion um das RRG 1999 die Veränderung der Anpassungsformel durch die Einführung eines demographischen Faktors kritisiert, weil sie zu einer Absenkung des Rentenniveaus auf 64% geführt hätte.« Was bis vor kurzem noch kritisiert und abgelehnt wurde, gilt inzwischen als Erfolg – eine recht eigenwillige Art von Politikwechsel, die hier zu Tage tritt. “Wir werden nicht alles anders, dafür aber vieles besser machen« – bezogen auf die erfolgreiche Einbindung der Gewerkschaftsspitze in den Rentenklau hat dieser Wahlkampf-Slogan seinen Praxistest bestanden. Allein der öffentlich erweckte Eindruck, Koalition und Regierung hätten sich auf Gewerkschaftsforderungen eingelassen, reicht unter rot-grüner Regentschaft aus, um einen von vielen schon seit langem als lästig und störend empfundenen Konflikt zu beenden. Nicht etwa Fortschritt in der Sache, sondern Symbolik und inszenierter Schein sind hierbei Maßstab gewerkschaftlichen Erfolgs. Eine vermutlich zu fragile Basis, um daraus einen dauerhaften Zugewinn an Vertrauen und Glaubwürdigkeit oder gar einen gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch für die Zukunft ableiten zu können. Denn anders als im Märchen bedarf es nicht einmal der unverbrauchten kindlichen Offenheit, um festzustellen: »Der Kaiser hat ja nur die Unterhosen an.«

Der Anlass für die gewerkschaftlichen Protestaktionen der vergangenen Monate ist jedenfalls nicht vom Tisch; nach wie vor

  wird das sozialpolitische Ziel der Lebensstandardsicherung für so genannte Standarderwerbsbiographien über die soziale Rentenversicherung ebenso aufgegeben wie dessen paritätische Finanzierung;

  wird zwecks Begrenzung der gesetzlichen Lohnnebenkosten und zur vermeintlichen (Wieder-)Herstellung von »Generationengerechtigkeit« der Arbeitnehmeranteil zur Altersvorsorge im Jahre 2030 auf 15% steigen und damit 4%-Punkte höher liegen als der Arbeitgeberanteil;

  ist Privatvorsorge nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz für bislang paritätisch finanzierte, solidarische Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung angelegt;

  fällt die »Riester-Rente« perspektivisch noch unter die »Blüm-Rente«;

  bleiben Frauen, Arbeitslose, Langzeitkranke und Ewerbsgeminderte auf der Strecke und

  wird das Armutsrisiko im Alter, bei Invalidität und im Hinterbliebenenfall künftig wieder steigen.

Vor allem aber gab und gibt es – nach koalitionseigenen Berechnungen – keinerlei akuten finanziellen Handlungsdruck, der diesen Systemwechsel vermeintlich erzwungen hätte: Mit einem Arbeitnehmeranteil von 11,8% (2030) wäre das bisherige Leistungsspektrum bei paritätischer Mittelaufbringung und einem Rentenniveau von rd. 69½% auch künftig zu für alle Beteiligten tragbaren Bedingungen finanzierbar gewesen.

Mit welch essentiellem Erfolg also können die fünf Spitzengewerkschafter wie auch die mittleren Führungsebenen der Mitgliedschaft gegenüber den rentenpolitischen Kurswechsel begründen? Mit keinem einzigen. – Was sollten sie auch apportieren, wo sie doch über Monate zum Jagen getragen werden mussten? Ach ja – da wäre noch die Stärkung der tariflichen Ebene beim Ausbau der (arbeitnehmerfinanzierten!) betrieblichen Altersversorgung und die Hoffnung auf deren künftig paritätische Finanzierung. Beides aber will selbst in den Tarifbereichen der Großorganisationen erst einmal durchgesetzt sein. Nicht wenige befürchten daher schon heute, dass diesem Vorhaben ein ähnlich grandioser Erfolg beschieden sein könnte, wie der tarifpolitischen Auseinandersetzung um die »Rente mit 60« vor genau einem Jahr.

Waren die vielen Protestaktionen vor Ort im Nachhinein also sinnlos und überflüssig? – Sicher nicht. Denn ohne Gegenwehr hätte sich der Basta-Kanzler wohl nicht veranlasst gesehen, durch kleinere Zugeständnisse und devote öffentliche Gesten diejenigen aus der Schusslinie – in die sie in den eigenen Reihen zu geraten drohten – zu nehmen, deren Unterstützung er noch zu brauchen glaubt. Zum anderen lässt sich der Erfolg des Protestes nicht alleine am kurzfristig Erreichten messen. Die trotz mangelhafter zentraler Koordination und Unterstützung erreichte Breite und Intensität der Kritik widerlegt all jene, die – selbst immobil – ihre Kollegen und Belegschaften immer wieder aufs neue für nicht mobilisierbar in Sachen Rente erklärten.

Die nachhaltigsten Lehren werden aus Niederlagen gezogen – und daraus, wie sie zustande kamen. Welches Selbstverständnis haben Gewerkschaften von ihrer Schutz- und Gestaltungsfunktion unter einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung? Für den Fortgang dieses leidvollen aber notwendigen Klärungsprozesses hatten und haben die Aktionen ihre unbestrittene Bedeutung. Die Rückgewinnung von Kampagnefähigkeit bei den anstehenden Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaats ist für die Attraktivität der Arbeitnehmerorganisationen allemal hilfreicher, weil glaubwürdiger, als millionenschwere Werbekampagnen abseits konkreter politischer Auseinandersetzung. Denn die in der Rentendebatte am Ende zu Tage getretene Bereitschaft, für vom Kanzler aufpoliertes Schuhwerk auch den falschen Weg mit zu gehen, ist der erste Schritt zur Selbstaufgabe.

Johannes Steffen ist Referent für Sozialpolitik bei der Arbeitnehmerkammer Bremen. Von ihm erschien das Buch Der Renten-Klau. Behauptungen und Tatsachen zur rot-grünen Rentenpolitik, Hamburg 2000.

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