1. April 2007 Joachim Bischoff / Björn Radke

Überwindung des Chaos – Die Linke

Mit großer und eindeutiger Mehrheit haben die Delegierten der Parteitage von Linkspartei.PDS und WASG in Dortmund der Verschmelzung ihrer Parteien zugestimmt. In einem wahren Antrags-Abstimmungs-Marathon, der von den Verantwortlichen beider Parteien gut vorbereitet war, zeigten die Delegierten ein hohes Maß an Selbstdisziplin und politischer Vernunft. Über das Erscheinungsbild der Parteitage und ihre mediale Spiegelung wird kaum jemand in Schwärmerei verfallen. Die Schaffung der organisatorisch-juristischen Rahmenbedingungen für eine neue Partei ist in jedem Fall keine aufregende Operation. In Dortmund wurden die Arbeitsaufträge erledigt.

Chaos und politischer Narzissmus – dies waren bislang die Assoziationen im Zusammenhang mit dem Handeln der politischen Linken jenseits der Sozialdemokratie. Die Linke hat diese Charakterzüge in Deutschland zwar nicht vollständig aufgehoben, aber sie ist in jüngster Zeit auch zu entschiedenen Schritten fähig. Das WählerInnenpotenzial räumt dem Parteibildungsprozess durchaus einen Bonus ein: Bemerkenswert ist – so die Göttinger Parteienforscher Walter und Micus –, "wie wenig die zuweilen unordentlichen Verhältnisse in der Partei links von der SPD bei Umfragen bislang geschadet haben. Der Anhang im Linkssozialismus scheint loyaler und stabiler, als man das einer Protestpartei gemeinhin unterstellt."[1]

Die stabile Entwicklungstendenz des Linkssozialismus hat – was auch die Wählerumfragen seit den Bundestagswahlen 2005 belegen – einen gesellschaftlichen Hintergrund. "Von der objektiven Konfliktstruktur der Gesellschaft ... liefert das 21. Jahrhundert durchaus genügend Benzin für die historische Weiterfahrt einer linken Partei in Deutschland. Die Gesellschaft nach dem Industrialismus und der kollektiven Interessenorganisation wird sehr viel weniger nivelliert, integriert und institutionell pazifiziert sein. Schon jetzt hat sich der Wohlstandsgraben zwischen den Klassen und Schichten nach Maßgabe ihrer verfügbaren Bildungs- und Besitzsubstanz weit geöffnet. Die Gegensätze zwischen oben und unten, zwischen Netzwerkfähigen und Netzwerklosen, zwischen Menschen mit und ohne Sozialkapital haben erheblich zugenommen. Insofern werden die Quellen, aus denen der Linkssozialismus zuletzt seine Wahlerfolge in Ost und West schöpfte, aller Voraussicht nach in den kommenden Jahrzehnten nicht versiegen. Der sozioökonomische Konflikt wird weiterhin Interessen, Mentalitäten und Handlungsweisen produzieren, die – ob man es nun mag oder nicht – nach einer pointierten politischen Repräsentanz auf der linken Achse des Parteiensystems streben."[2]

Niedergang der Sozialdemokratie

Wir registrieren eine charakteristische Scherenentwicklung: Während die "Neue Linke" bei entsprechender Präsentation ihrer pluralistischen und systemkritischen Politikkonzeption über exzellente Entwicklungschancen auch in einem widersprüchlichen und krisenhaften System verfügt, nimmt der Niedergang der Sozialdemokratie als früherer "Schutzmacht der kleinen Leute" immer deutlichere Formen an. Das jüngste Beispiel: Die Differenzen zwischen der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften werden mit zunehmender Schärfe ausgetragen. Der DGB in Bayern hat nach den Abstimmungen über die Gesundheitsreform und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) einige SPD-Bundestagsabgeordnete als Redner bei den 1. Mai-Kundgebungen ausgeladen. Im SPD-Präsidium wurde daraufhin erwogen, eigene Kundgebungen abzuhalten. Der DGB-Vorsitzende Sommer kommentierte diese Ankündigung mit der ironischen Feststellung: "Wir werden mit Interesse verfolgen, wen die SPD dazu mobilisieren kann."

In der Tat: Die von der SPD mitzuverantwortende Politik der Großen Koalition mit massiven Einschnitten in die Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung (Gesundheitsreform, Kürzung der Pendlerpauschale, Fortsetzung von Hartz IV, Ausweitung des Niedriglohnsektor, Mehrwertsteuererhöhung, Strompreiserhöhung, Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, Rentenkürzung, Studiengebühren usw.) ist auf Kundgebungen der Gewerkschaften nicht mehr zu vermitteln. Mit der Politik der Agenda 2010, die eben nicht nur mit der Person des früheren Parteivorsitzenden und ehemaligen Bundeskanzlers Schröder verbunden ist, sondern auch von den nachfolgenden Parteivorsitzenden Müntefering, Platzeck und Beck vertreten wurde und wird, ist gleichsam ein "point of no return" erreicht worden. Die SPD sieht in ihrer Mehrheit keine Alternative zu ihrem Kurs der Neubestimmung sozialer Sicherheit. Auf Kritik an ihrer Konzeption reagiert sie mit dem Vorwurf des Populismus, des Verrats und der Personalisierung: Lafontaine sei "ein Populist, die größte Ich-AG in unserer Republik" (Müntefering).

Die SPD nimmt weder die offenkundige Entfremdung zu den Gewerkschaften und Sozialverbänden zur Kenntnis, noch betrachtet sie die Neue Linke als ernsthafte Herausforderung. Die Partei muss nach Worten von Vizekanzler Franz Müntefering stärker Wähler der Linkspartei für sich gewinnen. "Unsere Aufgabe ist es nun, diese Stimmen alle zu den Sozialdemokraten zu ziehen, auch Wähler der PDS zu gewinnen. Das wird uns auch gelingen", zeigte sich der SPD-Politiker überzeugt. Die sozialdemokratische Idee habe eine große Mehrheit in Deutschland. "Klar ist: Es wird mit der PDS auch 2009 keine Koalition geben." Es gebe "keine Möglichkeit der ernsthaften Auseinandersetzung – geschweige denn des Zusammenwirkens" mit der neuen Partei. Dem Chef der Linksfraktion und ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine warf Müntefering vor, er habe die linke, sozialdemokratische Idee verraten. Die Menschen würden verstehen, dass man das Soziale nicht nur politisch fordern dürfe, sondern auch dafür sorgen müsse, den Wohlstand auf hohem Niveau zu erhalten.

Wohlstand auf hohem Niveau?

Offenkundig hat die SPD-Führungsspitze eine völlig andere Interpretation der gesellschaftlichen Entwicklungstrends und der Bewertung durch die Wahlbevölkerung. Vize-Kanzler Müntefering hat nach drei Nullrunden für die Altersrenten eine Erhöhung um 0,54% vorgeschlagen. Sie liegt damit auch im laufenden Jahr unter den Preissteigerungsrate. Zu Recht kritisieren Gewerkschaften und Sozialverbände diese Entwicklung als Verschlechterung des Lebensstandards für die Altersrentner. Aber auch die Löhne sind – trotz der Abschlüsse im Jahr 2006 und vermutlich im laufenden Jahr – im letzten Jahrzehnt von der Entwicklung der gesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt worden. Der Anteil der Arbeitseinkommen aus prekärer Beschäftigung wird immer drückender. Rund 900.000 BürgerInnen in Vollzeit-Beschäftigung erhalten aufstockende Sozialleistungen, weil die Arbeitseinkommen nicht existenzsichernd sind. Untersuchungen kommen zu der Einschätzung, dass die verdeckte Armut weit höher liegt, weil rund 1,9 Mio. GeringverdienerInnen ihren Anspruch auf öffentliche Zusatzeinkommen nicht wahrnehmen.

All diese Entwicklungen fassen sich in einer wachsenden Polarisierung zwischen Armut und Reichtum zusammen. So konstatiert das Institut für Wirtschaftsforschung: "Die Einkommensarmut in Deutschland nimmt, soweit das statistisch zurückverfolgt werden kann, seit 30 Jahren allmählich zu." Das Institut kommt aufgrund eigener langfristig angelegter Untersuchungen unter Einbeziehung der ausländischen Wohnbevölkerung zu der Aussage: "Zuletzt sind die Einkommensarmutsquoten sechs Jahre in Folge gestiegen, und zwar von 12% im Jahr 1999 auf 17,4% im Jahr 2005... An der Tendenz der Zunahme der Armut in Deutschland kann nach diesen Daten kein Zweifel bestehen."[3]

Wachsende und zum Teil sich verfestigende Armut führt zunächst zu einer wachsenden Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Die soziale Marktwirtschaft basierte stets auf gravierenden Diskrepanzen in den Verteilungsverhältnissen. In dem Maße, wie größere Teile von der allgemeinen Reichtumsentwicklung abgekoppelt werden, die Reproduktion des Wertes des Arbeitsvermögens aus eigener Anstrengung immer schwerer fällt, verliert die Vorstellung von "Leistungsgerechtigkeit" an Überzeugungskraft. Die Abkoppelung größerer Teile der Bevölkerung von der allgemeinen Reichtumsentwicklung wird aber auch zu einem sozio-ökonomischen Problem:

  unzureichende Dynamik der Binnenökonomie, hohe Arbeitslosigkeit, Ausdehnung von prekären Beschäftigungsverhältnissen;

  beschleunigte Erosion der sozialen Sicherungssysteme;

  wachsende Probleme bei den öffentlichen Finanzen, verstärkt durch eine Steuersenkungspolitik zugunsten von Unternehmen und Vermögenden; Abbau öffentlicher Beschäftigung, geringere öffentliche Investitionen; Privatisierung von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen;

  wachsende Zukunftsängste, Vertrauensverlust in Politik und gesellschaftliche Institutionen; letztlich Gefährdung des sozialen Friedens.

Von dieser wachsenden Unzufriedenheit sind nicht nur die unteren sozialen Schichten beherrscht. Auch die mittleren und teilweise gehobenen Segmente der Republik vermissen den sozialen Ausgleich und die Anerkennung der auf eigener Arbeit gegründeten Leistung.

Vize-Kanzler Müntefering und die sozialdemokratische Führung agieren politisch naiv, wenn sie diese Entwicklungstendenzen bestreiten und von einer Blindheit der betroffenen Bevölkerung ausgehen. Zum Ausdruck kommt darin, dass die SPD die Lebensverhältnisse der unteren sozialen Schichten und ihr Alltagsbewusstsein nicht mehr versteht. Es handelt sich um eine substanzielle, nachhaltige Entkoppelung von zwei grundverschiedenen, mittlerweile einander zutiefst fremd gewordenen Lebenswelten. Die Sozialdemokratie müsste sich gleichsam neu erfinden, wenn sie die WählerInnen der neuen Linken zurückgewinnen wollte. Umgekehrt gilt allerdings auch: Es gibt keinen automatischen Übergang der WählerInnen zur Neuen Linken.

Entfremdung demokratischer Willensbildung und sozialer Lagen

In der bundesdeutschen Gesellschaft haben sich tiefsitzende Zukunftsängste und ein massiver Vertrauensverlust in gesellschaftliche Institutionen breitgemacht. In der letzten Konsequenz führt dies zu einer Entkoppelung der Politik und der demokratischen Willensbildung von den von der Ökonomie ausgelösten Veränderungen. Die wachsende Distanz drückt sich in rückläufigen Mitgliederzahlen bei den Parteien und geringerer Beteiligung bei Wahlen, aber auch in einem deutlichen Ansehensverlust der Politik aus. Laut einer Umfrage war die Kluft zwischen Politik und Bevölkerung noch nie so groß wie Ende des Jahres 2006. 82% der BundesbürgerInnen gehen davon aus, dass die Politiker keine Rücksicht auf die Interessen des Volkes nehmen. Die starke Entfremdung zwischen demokratischer Willensbildung und ökonomisch-sozialen Verhältnissen schlägt sich aktuell noch nicht in einer politisch-gesellschaftlichen Krisenkonstellation nieder. Allerdings dürfte die Hoffnung auf eine Selbstkorrektur dieser Entwicklung auch illusionär bleiben. Entscheidend für die Wirksamkeit einer gesellschaftlichen Alternative ist freilich die Beantwortung der Frage, was denn die Ursachen dieser Entwicklung sind. Tendenziell unterschätzen auch die Parteiführungen von Linkspartei und WASG das Phänomen der politischen Entfremdung. So erklärt beispielsweise Klaus Ernst (WASG) die unzureichende Resonanz der Wahlalternative damit, dass die von der SPD enttäuschten Menschen der WASG noch nicht trauten, weil "wir uns in den vergangenen Monaten eher mit uns selbst beschäftigt haben".

Die Politik der Schonung der Unternehmer und der Reichen oder gar deren Privilegierung (etwa Unternehmenssteuer"reform", Erbschaftssteuer) der großen Koalition mit massiven Einschnitten in die Lebensbedingungen breiter Teile der Bevölkerung führt nicht im Selbstlauf zu einer Stärkung der nicht-sozialdemokratischen Linken. Viele BürgerInnen sind von den traditionellen Parteien und damit auch der Linken enttäuscht. Nach wie vor wächst die Zurückhaltung, sich an der politischen Willensbildung und an Wahlen überhaupt noch zu beteiligen. Die Linke kann der Politikverdrossenheit nur durch eine Erneuerung der politischen Kultur begegnen. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob eine neue Formation den Kapitalismus abschaffen kann. Es geht um die Veränderung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und die Durchsetzung neuer sozialer Kompromisse wie Mindestlohn, eine solidarische Krankenversicherung, den Ausbau öffentlicher Dienstleistungen etc.

Die Geschichte hat gezeigt, dass dies im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse möglich, aber zugleich immer begrenzt ist. Grundsätzliche Kritik des Kapitalismus und Diskussionen über Möglichkeiten seiner Überwindung haben ihren Platz in der Neuen Linken, dürfen aber nicht das Engagement für konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse überlagern.

Resümierend – vielleicht zu optimistisch, aber als Ausblick vielversprechend – stellt der Parteienforscher Franz Walter fest: "Die Linke hat gelernt, dass man die bessere Gesellschaft nicht erzwingen kann. Sie hat durch etliche Fehlschläge und Pervertierungen begriffen, dass die Vision vom ›neuen Menschen‹ die Personalität und Würde des unvollkommen Einzelnen zutiefst verletzt, dass dieses Projekt oft genug in schlimme Inhumanitäten abgleitet... Die Renaissance der Linken in Form einer Fusion von Populismus und Konservatismus – und dies ausgerechnet als Folge der Vergreisung der Kernländer des klassischen, mittlerweile überkommenen Industriekapitalismus."[4]

Gelingt es der Linken, sich auf dieser Basis gesellschaftlich interventionsfähig zu erweisen, wäre dies nicht nur ein Beitrag gegen die Passivitätskrise der Demokratie, sondern könnte auch weiterführende Bildungsprozesse zu einer modernen Linken des 21. Jahrhunderts einleiten.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus, Björn Radke ist freier Dozent, beide sind Mitglieder der WASG.

[1] Franz Walter und Matthias Micus, Kader der Arbeitsgesellschaft, 21.3.2007, spiegel-online
[2] Ebd.
[3] DIW-Wochenbericht 12, 2007, 177
[4] Franz Walter, Ergraut und erfolgreich, in: TAZ vom 24.3.2007

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