17. Dezember 2013 Andrew Watt: Was bedeutet der deutsche Koalitionsvertrag für Europa?

Unbeabsichtigte Konsequenzen

Kategorie: Große Koalition

Zahlreiche Kommentatoren haben über der 185 Seiten starken Koalitionsvereinbarung zwischen der CDU/CSU und der SPD gebrütet. Deutschland, größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union, hat in den vergangenen Jahren maßgeblich jene Politik geprägt, mit der man – bis heute ohne Erfolg – versucht hat, die Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwinden. Was kann Europa dem Koalitionsvertrag zufolge von der neuen Regierung in Deutschland erwarten?

Wenn man den Abschnitt betrachtet, der sich explizit mit Europa befasst, lautet die Kurzantwort: nichts Gutes. Glücklicherweise gibt es jedoch eine Reihe von innenpolitisch begründeten Maßnahmen, die positive Anstoßeffekte auf den »Rest« von Europa haben werden.


Schwaches Europa!

Das Europakapitel im Koalitionsvertrag trägt den Titel »Starkes Europa« und beginnt mit Ausführungen über die »Europapolitische Verantwortung Deutschlands«. Beide Überschriften sind in hohem Maße irreführend. Die in Aussicht genommene Politik wird dazu beitragen, dass Europa geschwächt wird und Deutschlands Verantwortung begrenzt bleibt. Abgesehen von frommen Sprüchen können die neun Seiten, die sich mit dem Europa-Thema befassen, dahingehend zusammengefasst werden, dass die alte und neue Bundeskanzlerin Merkel und ihr Finanzminister Schäuble die deutsche Regierungspolitik in Euro­pa auch in den kommenden Jahren in ihren Händen halten werden.

Bei der Interpretation der Krisenursachen stehen die laxe Haushaltsführung einiger Mitgliedstaaten und unzureichende Wettbewerbsfähigkeit im Vordergrund, Lösungen sind auf »Strukturreformen für Wettbewerbsfähigkeit und eine strikte, nachhaltige Haushaltskonsolidierung« fokussiert. Wir wissen, dass das falsch ist. Bezeichnend für diesen Teil des Vertrages ist, dass den Sozialdemokraten nicht mehr als ein paar Knochen hingeworfen wurden: Haushaltskonsolidierung soll begleitet werden mit »sozial ausgewogenen Investitionen in Wachstum und Beschäftigung«, ohne an irgendeiner Stelle klare Aussagen darüber zu machen. Weiter hinten im Kapitel gibt es einen Abschnitt über die »soziale Dimension« der Integration, der viel sozialdemokratische Diktion beispielsweise zur Balance von Marktfreiheiten und fundamentalen sozialen Rechten enthält, aber eben wenig Belastbares.

Es gibt recht vage Ausführungen über die Notwendigkeit einer verstärk­ten ökonomischen und fiskalischen Koordinierung, auch hier ohne jeden konkreten Vorschlag, aber ebenso zu fortgesetzter Haushaltskonsolidierung (i.e. Austerität) und den Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Deutschland bietet reformorientierten Kräften Kredite und »technische Unterstützung« zur Wiedererlangung von Wettbewerbsfähigkeit an. Dies ist exakt das, was die Krisenstaaten brauchen: Deutsche Experten einfliegen zu lassen, die für jene Arbeitsmarktreformen der Jahre 2003ff. Verantwortung tragen, die nun von der Großen Koalition (teilweise) zurückgenommen werden (siehe unten). Schlimmer noch: Euro-Bonds werden strikt abgelehnt, und es wird darauf insistiert, dass finanzielle Hilfen nur Ultima Ratio sind, gebunden an strikte Auflagen und parlamentarische Zustimmung (des Bundestages).

Es gäbe weitere Beispiele, die man anführen könnte, doch sie würden das Bild nicht verändern: Nach den Exzessen der Vergangenheit müssten in den Krisenstaaten einschneidende »Reformen« umgesetzt werden. Etwas Unterstützung mag aus Deutschland – selbst untadelig, ohne Veranlassung, sich neu aufzustellen – kommen, aber nur in letzter Not und zu harten Konditionen. Und europäische Regeln müssen strikter ausgestaltet werden, um Rückfälle künftig zu verhindern. Kurz: Die Zukunft wird im Wesentlichen so sein wie die Vergangenheit war, soweit es Deutschlands Europapolitik und Verantwortung betrifft. Wir wissen, wie erfolgreich diese Politik war.[1]


Was für Deutschland gut ist, kann auch gut für Europa sein

Erfreulicherweise ist es aber so, dass in den Feldern, in denen die beiden Koalitionsparteien gerade nicht über Europa nachdenken, sondern über ihre nationalen Themen, eine Politik vorgeschlagen wird, die dem ganzen Kontinent zugute kommt. Die mit Abstand bedeutsamste Maßnahme ist die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro in der Stunde, beginnend ab dem Jahr 2015.

Vorgesehen sind eine Reihe von Übergangsregelungen im Hinblick auf bestehende Tarifverträge und solche, die in der Zwischenzeit von »repräsentativen« Tarifpartnern abgeschlossen werden – aber spätestens 2017 wird es einen flächendeckenden Mindestlohn für alle abhängig Beschäftigten geben.

Darüber hinaus wird es leichter werden, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Dieser einst für den deutschen Arbeitsmarkt wichtige Regelungsmechanismus – die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) – war nahezu außer Gebrauch geraten. Damit wird die Lohnentwicklung jener gestützt, die etwas über dem Mindestlohn verdienen. Hinzu kommt, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen ausgedehnt wird. Dieses Gesetz sorgt für sektorale Mindeststandards und stellt sicher, dass sich auch ausländische Firmen, die zeitlich befristet Arbeiter in Deutschland einsetzen, daran halten müssen. Bislang galt das vor allem im Baugewerbe und im Pflegebereich. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben künftig die Möglichkeit, Mindeststandards auch in zentralen Bereichen des industriellen Sektors verbindlich anzuwenden.

Die Bedeutung dieser Maßnahmen kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie stärken die korporatistischen Institutionen, nachdem sie über mehrere Jahrzehnte geschwächt worden waren.

Im europäischen Vergleich ist der Anteil der Beschäftigten, die weniger als 60% des Medianlohns verdienen, in Deutschland am höchsten, ebenso wie der durchschnittliche Lohnabstand der Niedrigverdiener zum Medianlohn.[2] Hohe Arbeitslosigkeit zu Beginn und in der Mitte des letzten Jahrzehnts haben in Verbindung mit den damaligen Arbeitsmarktreformen die unteren Bereiche des Arbeitsmarktes aufgesprengt und sind wesentlich verantwortlich dafür, dass die Ungleichheit am unteren Ende der Verteilungspyramide in der Periode in Deutschland im Vergleich zur OECD am stärksten zugenommen hat.[3]

Dies wiederum war ein wesentlicher Bestandteil des wichtigsten Treibers der Euro-Krise: die Ungleichgewichte in der Wettbewerbsfähigkeit und im Außenhandel zwischen dem Kern und der Peripherie Europas.[4]

Mindestlohnanhebungen, in einigen Fällen in bedeutendem Umfang, für rund 14% der abhängig Beschäftigten machen einen erheblichen Unterschied aus. Sie stärken die Binnennachfrage in Deutschland. Nicht nur das. Ein Teil dieser zusätzlichen Kaufkraft wird zu höherer Nachfrage nach den Exporten von Waren und Dienstleistungen aus anderen Staaten der Europäischen Währungsunion führen.

Die Zahl der in Deutschland direkt Betroffenen – schätzungsweise knapp sechs Millionen – ist zum Beispiel deutlich höher als die Gesamtbeschäftigung in Portugal und macht rund zwei Drittel der Beschäftigung in den Niederlanden aus. Ebenfalls ist mit positiven Effekten oberhalb des Mindestlohns zu rechnen. Die höheren Lohnkosten werden teilweise in höheren Preisen weitergegeben. Das wiederum führt zu einer Neu-Ausbalancierung der Wettbewerbspositionen – und zwar auf eine die Nachfrage weniger beschädigende Weise als durch die Politik einseitiger Kürzungen in der Peripherie.

Die stärkere Lohn- und Preisdynamik wird – unter sonst gleichbleibenden Bedingungen – den Außenwert des Euro nach unten drücken, was wiederum den Druck auf Produzenten in anderen Staaten der Währungsunion verringern wird.

Es gibt einen weiteren Effekt für die öffentlichen Haushalte. Gegenwärtig zahlt der deutsche Staat Milliarden an Unterstützung für Bezieher von Niedriglöhnen. Dies wird in erheblichem Umfang nicht mehr nötig sein, sobald sie den Mindestlohn erhalten. Mehr noch: Die Anhebung der Mindestlöhne plus der davon ausgehende Schub bei den darüber liegenden Einkommen zieht Mehreinnahmen bei der Einkommenssteuern nach sich, und gleichzeitig nehmen auch die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer infolge höherer Preise zu. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt die kurzfristigen fiskalischen Effekte auf bis zu 3,3 Milliarden Euro pro Jahr.[5] Dies erleichtert zumindest teilweise die Finanzierung einer Reihe von ausgabenwirksamen Maßnahmen des Koalitionsvertrages – so die von der CDU geforderte »Mütter-Rente« oder die von der SPD geforderte abschlagfreie Verrentung nach 45 Versicherungsjahren.

Und es gibt die Zusage, wenn auch vage und unzureichend, dass man den Trend rückläufiger öffentlicher Investitionen in Infrastruktur, Bildung und anderen Bereichen umkehren will. Kurz: die deutsche Haushaltspolitik wird die Gesamtnachfrage etwas stützen – auch hier mit (begrenzten) positiven Effekten für die europäischen Nachbarstaaten.

Es wäre – für Deutschland wie für Europa – noch besser gewesen, wenn man die Wohlhabenden stärker besteuert hätte, um damit eine umfassende Investitionsoffensive zu starten, wobei insbesondere die klammen Kommunen mit mehr finanziellen Mitteln auszustatten wären. Doch die SPD hat dafür (mit ihren 193 Parlamentssitzen gegenüber 311 Sitzen für die Konservativen) nicht die nötige Kraft (bzw. nicht die entsprechende politische Vision). Nichtsdestotrotz sind – obwohl eigentlich auf die Entwicklung im Inland zielend – die Auswirkungen der vereinbarten Maßnahmen in Deutschland auf Europa beträchtlich. Im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) werden wir in nächster Zeit die Effekte abzuschätzen versuchen.


Koalitionsvereinbarung – unbeabsichtigte Konsequenzen

Die positiven Wirkungen der innerdeutschen Reformen müssen abgewogen werden gegenüber der Tatsache, dass die Bundesregierung weiterhin ein Hindernis für Reformen wie die einer Bankenunion, eines Schuldentilgungsfonds oder einer weitergehenden, aggressiveren Geldpolitik darstellt.[6] Zum jetzigen Zeitpunkt scheint der Kampf verloren zu sein.
Merkel und Schäuble werden weiterhin sagen, wo es langgeht, ungehindert von Einsprüchen der Sozialdemokraten. Denn das, was Merkel und Schäuble machen, stimmt weitgehend mit den Positionen der SPD, als sie noch in der Opposition war, überein.[7] Nicht zuletzt im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament wird es umso wichtiger sein, überall in Europa Unterstützung für Alternativen zugunsten von Solidarität und Investitionen, gegen bornierte nationalistische Stimmungen und Austerität, zu mobilisieren.

Andrew Watt ist Abteilungsleiter im Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, verantwortlich für die operative Leitung des Instituts. Von 2000-2012 war er Senior Researcher am Europäischen Gewerkschaftsinstitut (EGI) in Brüssel, zuletzt Koordinator der Einheit »Economic, social and employment policies« und als Chefökonom des Forschungsinstituts der europäischen Gewerkschaften zuständig für die Analyse der europäischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und die vergleichende sozioökonomische Forschung. Übersetzung aus dem Englischen von Richard Detje.

[1] http://www.social-europe.eu/2012/09/euro-area-adjustment-be-careful-what-you-wish-for/
[2] http://www.social-europe.eu/2013/10/the-german-minimum-wage-debate-lessons-from-an-eu-comparison/
[3] http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_study_32_2013.pdf
[4] http://www.boeckler.de/imk_5269.htm?produkt=HBS-005447&chunk=2&jahr=
[5] Vgl. Jürgen Wiemers: Fiskalische Auswirkungen eines Mindestlohns, IAB, 24.7.2013, www.iab.de/UserFiles/File/kub_Mindestlohn_2013-07-24.pdf
[6] http://www.social-europe.eu/2013/10/getting-aggressive/
[7] http://www.social-europe.eu/2012/10/the-spds-big-missed-opportunity/

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