25. Oktober 2014 Joachim Bischoff

Ungleichheit im modernen Kapitalismus

Die Konzentration des Einkommens und Vermögens beim obersten Prozent der Bevölkerung steigt rasant an: Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Der aktuelle Global Wealth Report der Schweizer Großbank Credit Suisse[1] hat diese These erneut bestätigt:

Besaß das oberste Prozent 2010 noch 43% des weltweiten Immobilien- und Finanzvermögens, so sind es im Sommer 2014 bereits gut fünf Prozent mehr, 48,2%. Der weitaus größere Teil der Menschheit besitzt nichts, höchstens  Schulden. Sie leben vom Verkauf ihrer Arbeitskraft, die aber im Verhältnis zu dem aufgehäuften Vermögen  und zur Kapitalrendite beständig an Wert verliert. (Siehe Abbildung 1.)

Diese zunehmend als ungerecht empfundene Vermögens- und Einkommensverteilung ist von dem französischen Ökonom Thomas Piketty umfassend dargestellt worden.[2] Der Autor, ein bis dahin nur in Fachkreisen bekannter französischer Volkswirt der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, hat das Entwicklungsgesetz des modernen Kapitalismus erneut empirisch bestätigt  – und zwar in jener zentralen Wirkung, die der etablierte Mainstream der Wirtschaftswissenschaften angeblich so gerne übergeht: den unerbittlichen Trend zur Spaltung der Gesellschaft in Reich und Arm. Der Autor verfügt als moderner Einkommens- und Vermögensforscher über bessere, mithin schärfere empirische Instrumente als Marx zu seiner Zeit. Selbst Ökonomen und Zeitgenossen, die eher eine andere gesellschaftspolitische Option verfolgen,[3] akzeptieren, dass Pikettys Werk fast 15 Jahre Verteilungsforschung zusammenfasst, die zum Teil bahnbrechend ist. Bisherige Kenntnisse und Einschätzungen über die Ungleichheit der Einkommens- und Reichtumsverteilung stützen sich hauptsächlich auf Umfragen. »Bei aller Nützlichkeit unterliegen Umfragedaten jedoch wichtigen Einschränkungen. In der Tendenz unterschätzen sie die Einkommen jener Handvoll Leute an der oberen Spitze der Einkommensskala, wenn sie diese nicht sogar verfehlen. ... An dieser Stelle kommen Piketty und seine Kollegen ins Spiel, weil sie eine völlig andere Informationsquelle aufgetan haben: Steuerunterlagen. ... Piketty et al. ... haben nun ganz neue Verfahren entwickelt: sie verknüpfen die Steuerdaten mit anderen Quellen und gelangen so zu Erkenntnissen, welche die Umfrageergebnisse auf entscheidende Weise ergänzen.«[4]

Auffallend ist, dass aus dem gesellschaftskritischen Spektrum mit Blick auf die überraschende mediale Akzeptanz der Intervention von Piketty und seinen KollegInnen eher zurückhaltende Kommentare dominieren. Ein Beispiel ist der US-amerikanische Marxist David Harvey: »Was Picketty ... statistisch aufzeigt (und dafür schulden wir ihm und seinen Kollegen Dank), ist, dass das Kapital historisch gesehen dazu tendiert, ein immer größeres Ausmaß an Ungleichheit zu produzieren. Viele von uns wird dies kaum überraschen. Überdies ist genau dies die theoretische Schlussfolgerung von Marx im ersten Band seines Werkes Das Kapital. Piketty ist das nicht aufgefallen, was einen aber nicht überrascht, denn angesichts von Anschuldigungen in der rechtskonservativen Presse, er sei ein getarnter Marxist, hat er inzwischen gesagt, er habe ›Das Kapital‹ von Marx nicht gelesen. … Pikettys Daten liefern viele wertvolle Einsichten. Doch seine Erklärung für das Aufkommen der Ungleichheiten und oligarchischen Tendenzen weisen schwere Mängel auf. Seine Vorschläge für die Beseitigung der Ungleichheiten sind bestenfalls naiv, schlimmstenfalls utopisch. Er hat ganz sicher kein funktionierendes Modell für das Kapital im 21. Jahrhundert geschaffen. Dafür brauchen wir immer noch Marx oder sein modernes Pendant.«[5]

Kurzum: Bei allen kritischen Einwänden im empirischen Detail, die vorgelegten Daten zu Vermögen, Vermögensverteilung und Volkseinkommen markieren eine neue Qualität und setzen somit eine Zäsur in der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Debatte.

Reiche werden reicher, wer hingegen nur Einkommen aus Arbeit erzielt, fällt zurück. Verstärkt wird dieses Phänomen durch die Globalisierung, die die Lohnabhängigen in entwickelten kapitalistischen Ländern mit denen in Schwellenländern einer die Löhne drückenden Konkurrenz aussetzt und mit der begleitenden Deregulierungspolitik, die sozialpolitischen Rahmenbedingungen der Lohnarbeit aushebelt. Verstärkt wird die­se Entwicklungstendenz durch eine Verteilungs- und Steuerpolitik in den kapitalistischen Hauptländern, die die Vermögens- und Erbschaftsbesteuerung in den letzten Jahrzehnten drastisch reduziert hat.

Und die Ungleichheit wird verstärkt durch die von den Notenbanken geförderte Niedrigzinspolitik. Der Direktor der Europäischen Zentralbank, Yves Mersch, räumt ein: »Unkonventionelle Geldpolitik; im Besonderen Anleihekäufe in großem Umfang scheinen die Einkommensungleichheit zu erhöhen.«[6] Die Schlussfolgerung des EZB-Direktors: Die Verteilungseffekte seien ein weiterer Grund dafür, dass die von der Notenbank vorgestellten Maßnahmen temporär sein müssten. Hinter dieser Einschätzung steht die weitreichende These, dass das niedrige Zinsniveau, das von den Notenbanken befestigt wird, Vermögenswerte wie Wertpapiere und Immobilien im Preis steigen lässt und offenkundig dadurch Spareinlagen und Rücklagen für Alterssicherung deutlich entwertet werden. Ultralockere Geldpolitik befördert höhere Vermögens- und Einkommensungleichheit. Der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David Folkerts-Landau, unterstreicht diese These: In den USA habe die politisch verstärkte Niedrigzinspolitik einen »riesigen Vermögenseffekt« gehabt.
Die Vermögenseffekte der Niedrigzinspolitik greift auch die Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Janet Yellen auf.[7] Sie ist über Ausmaß und den kontinuierlichen Anstieg der Ungleichheit in den USA beunruhigt, der dazu führt, dass die oberen Schichten bedeutende Einkommens- und Vermögensgewinne bis in die letzte Zeit gewinnen, während die Mehrheit der BürgerInnen sich mit einem stagnierenden Lebensstandard arrangieren müsse. Nach einer aktuellen Untersuchung der Notenbank FED hielt die untere Hälfte der amerikanischen Haushalte nur 1% des Vermögens , während es 1989 noch 3% gewesen waren. Dagegen stieg der Anteil der reichsten 5% in den Jahren 1989 bis 2013 von 54 auf 63%.

Im Endergebnis dieser Entwicklungen  kommt es dazu, dass – bezogen auf die kapitalistischen Hauptländer –  das reichste Zehntel der Einkommensbezieher ein Viertel bis ein Drittel des Gesamteinkommens erzielt und das obere Zehntel der Vermögensbesitzer zwischen 50 und 70% des Gesamtvermögens besitzt. Piketty greift die keynsianische Kritik am Kapitalismus auf, wonach sich immer mehr Unternehmer in bloße Rentiers verwandeln. Dieser bedrohlich gewordene Strukturwandel des Kapitalismus führt zu massiven Akkumulations- und Wachstumsabschwächungen und dazu, dass die Eigentümer dauerhaft mehr Macht über diejenigen entwickeln, die vom Verkauf der Arbeitskraft leben.

Für die USA lässt sich hinsichtlich der Einkommensungleichheit zusammenfassen: Der Anteil  bei den Einkommen der »Top 1%«-Haushalte ist zwischen 1978 und 2013 von knapp 25% auf rd. 40% angestiegen. Sie zogen in der Periode unter Präsident Obama seit 2009 insgesamt 95% des Einkommenszuwachses an sich; unter Bush (2001-2008) waren es 65% und unter Clinton (1993-2000) »nur« 45%. Zwischen 1977 und 2007 haben sich die Top 1% fast 60% des Gesamtwachstums des US-amerikanischen Nationaleinkommens angeeignet. Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte wurde damit ein Anteil von mehr als 15% des Nationaleinkommens in den USA von den unteren 90% auf das oberste Zehntel verlagert.

Bei der Herausarbeitung der verschiedenen Faktoren, die diese immense Ungleichheit verursacht haben, stehen  Piketty und seine Arbeitsgruppe erst am Anfang. Die Diskussion konzentriert sich zu Recht auf die Interpretation der vorgelegten Tatbestände. Zwei Entwicklungslinien müssen künftig genauer durchleuchtet werden: Zum einen wuchsen, begünstigt durch die Deregulierungen, Globalisierung und Reduzierung der sozialen Standards Finanzvermögen und -schulden rasant an. Selbst Organisationen wie der Internationale Währungsfonds oder die OECD sehen heute, dass die entstandene Einkommens- und Vermögensungleichheit ein massives Hindernis für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung und Wachstum ist. Zum anderen erzeugt die Entwertung der Arbeitseinkommen für große Teile der Lohnabhängigen und der gesellschaftlichen Mittelklassen nicht nur eine immer tiefer werdende Kluft zu der Klasse der Eigentümer und Vermögenden, sondern die Prekarisierung schlägt in wachsende Armut und Deprivation um.

Allerdings setzen an diesem Punkt zu Recht auch grundlegende Kritiken an Pikettys Verständnis vom ökonomischen Bewegungsgesetz des Kapitalismus ein: Piketty differenziert unzureichend zwischen dem kapitalistischen Produktionsprozess im engeren Sinne und den abgeleiteten Reichtumsformen wie Wertpapieren und Immobilien; zum anderen ist die Auffächerung der Arbeitseinkommen und die Ausbreitung der prekären Entlohnungsverhältnisse in der Untersuchung unzureichend erfasst, womit auch die Gewichtung zwischen Kapitalrenditen und Lohneinkommen problematisch wird.

Notenbankchefin Yellen liefert auch eine weitere Bestätigung dafür, weshalb Piketty gerade in den USA eine so starke mediale Aufmerksamkeit gewonnen hat. Die US-Gesellschaft war nach der Phase der »großen Kompression« der Einkommens- und Vermögensunterschiede einige Jahrzehnte eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« mit einer tief verankerten Vorstellung eines meritokratischen Leistungsgefüges.[8] Yellen beunruhigt die Entwicklung, weil die entstandene und sich verschärfende Ungleichheit nicht mit dem amerikanischen zivilgesellschaftlichen Wert der Chancengleichheit zu vereinbaren ist.

An diesem Punkt setzen viele »linke« Kritiker an Pikettys Thesen ein. Piketty legitimiere die bürgerliche Leistungs­ideologie. Von dieser Kritik ist es nur ein kleiner Schritt zum wenig hilfreichen Verbalradikalismus: »Leistungsideologie geht Hand in Hand mit einem Wohlstandschauvinismus, der sich europaweit in Rassismus und einem Hass auf vermeintlich ›unproduktive‹ Menschen ausdrückt.«[9] Diese Abgrenzung bewegt sich auf dünnem Eis. Denn es ist das Charakteristikum, dass der einvernehmliche Kauf und Verkauf der Arbeitskraft umschlägt in den Diebstahl an fremder Arbeitskraft. Der Umschlag im Aneignungsgesetz ist das Kernstück der Kritik der politischen Ökonomie und erklärt, weshalb im normalem Gang der gesellschaftlichen Entwicklung Reichtum und Armut begrenzt vereinbar sind. Die Zerstörung der meritokratischen Illusion durch die kapitalistische Akkumulation ist ein Zentralpunkt der politischen Auseinandersetzung.

In der Tat sind die herrschenden Eliten und ihre Ideologen darüber irritiert, dass die gesellschaftliche Ungleichheit wiederum ein Maß wie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erreicht hat. Der durch Piketty erzwungene Vergleich der Vermögens- und Einkommensquote zu Beginn des 20.Jahrhunderts und einem erneuten Gipfelpunkt am Anfang des 21. Jahrhunderts wirft die Frage nach einer katastrophischen oder zivilsatorischen Anpassung auf.[10]

Piketty bleibt nicht bei der Analyse und empirischen Faktensammlung, er zieht Konsequenzen aus der wachsenden Ungleichheit. Denn diese gefährde im Verein mit der frustrierenden Erfahrung, dass man es selbst mit hochqualifizierter Arbeit meist nicht schafft, zu den herrschenden Schichten vorzudringen, die soziale Stabilität und Demokratie. Abhilfe könnte eine global zu verordnende Kapitalregulierung schaffen. Piketty schlägt vor, eine progressive Vermögenssteuer einzuführen, um auf der ganzen Welt den auf Vererbung beruhenden Kapitalismus in die Schranken zu weisen. Angesichts der Tatsache, dass – gerade bei flauen Perioden des Wirtschaftswachstums – alle Staaten weltweit versuchen, durch Steuerbegünstigungen und andere Finten das erfolgreichste Kapital den anderen Staaten abzuwerben, wurde dieser Vorschlag schnell als illusorisch und utopisch gebrandmarkt.

Auch wenn die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse weder in Nordamerika noch in Europa eine tiefgreifende Reformpolitik erwarten lassen, bleibt Pikettys Position doch richtungsweisend: Der Trend zu immer größeren Vermögen und Einkommensungleichheit kann durch eine konfiskatorische Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen gebremst und schließlich gestoppt werden. Dies ist auch im Kapitalismus grundsätzlich möglich, was die Verteilungspolitik vor der Phase des Neo­liberalismus demonstriert. Von 1932 bis 1980 betrug der Spitzensteuersatz auf Einkommen in den USA durchschnittlich 81%. Auch bei der Erbschaftssteuer waren die USA in dem Zeitraum Vorbild mit 70-80%. Und in Europa bewegten sich die Sätze zwischen 30 und 40%.

Daniel Stelter[11] macht in seiner Kritik an Pikettys Darstellung zu Recht deutlich, dass die gegenwärtig hohe Verschuldung in den kapitalistischen Ländern nur durch eine einmalige Vermögensabgabe zu lösen ist. Piketty unterschätzt die quantitative Dimension des Problems.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus.

[1] Handelsblatt Nr. 198 vom 15.10.2014, S. 34; Credit Suisse Research Institute, Global Wealth Report 2014, Oktober 2014.
[2] T. Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014.
[3] Neuerdings hat der Milliardär Bill Gates eingeräumt, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit  zwar tatsächlich systemimmanent  sei – und damit gibt er Piketty recht. Er glaube aber nicht, dass Amerika einer aristokratischen Gesellschaft gleiche, in der sich die Reichen auf ihren Lorbeeren ausruhen und Geldrenten einsammeln. (Handelsblatt vom 19.10. 2014)
[4] P. Krugman, Thomas Piketty oder die Vermessung der Ungleichheit, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik, Heft 6/2014, S. 74.
[5] http://davidharvey.org/2014/05/afterthoughts-pikettys-capital/01/05/2014. Ähnlich zurückhaltend: Stephan Kaufmann/Ingo Stützle, Kapitalismus: die ersten 200 Jahre, Berlin 2014; Rainer Rilling, Die Ungleichheitsmaschine. Eine Übersicht zu »Capital« von Thomas Piketty, www.heise.de/tp/artikel/42/42568/1.html.
[6] EZB: Anleihekauf erhöht Ungleichheit von Arm und Reich, in: FAZ vom 18.10.2014.
[7] Siehe dazu: Amerikas Notenbankchefin warnt vor wachsender Ungleichheit, in: FAZ vom 20.10.2014.
[8] Dazu ausführlich Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Der moderne Kapitalismus = eine oligarchische Gesellschaft?, in: Sozialismus 7-8/2014; Dies., Pikettys »Kapital im 21. Jahrhundert«, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Heft 9/2014; Bernhard Müller, Erosion der gesellschaftlichen Mitte, Hamburg 2013.
[9] Ingo Stützle, Des Teufels großer Haufen, in: AK 598, Oktober 2014, und Kaufmann/Stützle a.a.O.
[10] Dazu im Anschluss an Polanyi: Joachim Bischoff/Christoph Lieber, Die große Transformation des 21. Jahrhunderts, Hamburg 2013.
[11] D. Stelter, Die Schulden im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014.

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