1. Dezember 2008 Redaktion Sozialismus

VEB Opel und ein NEW Deal des 21. Jahrhunderts

In Detroit, dem Zentrum der US-Automobilindustrie, wird seit längerem auf Sicht gefahren. Doch jeden Monat wird der Horizont dunkler. Mit einem staatlichen Hilfsprogramm in Höhe von 25 Mrd. Dollar – zusätzlich zu einem in gleicher Höhe bereits bewilligten Unterstützungsprogramm für nachhaltige Produktinnovationen – wollten sich die "Big Three" der US-Autoindustrie Perspektiven sichern – und sind damit zumindest vorläufig gescheitert.

Kontrovers waren im US-Kongress vor allem zwei Punkte: Zum einen konnten die Vorstandsvorsitzenden von General Motors, Ford und Chrysler nicht ausweisen, dass mit einer weiteren Finanzspritze tatsächlich eine nachhaltige Sanierung auf den Weg gebracht werden kann. Zum andern verweigern die Republikaner im Kongress nach wie vor eine Öffnung des 700 Mrd.-Dollar-Pakets über die Stützung der Finanzmärkte hinaus für industrielle Notfalloperationen.

Angesichts schwindender Kapitalreserven wird bei den großen Automobilunternehmen über eine Insolvenz mit Gläubigerschutz (Chapter 11 US-Konkursrecht) nachgedacht. Taumelnde Konzerne können sich über diesen Weg von Altschulden und Lohnansprüchen befreien, um eine neue Unternehmenskarriere eröffnen zu können.

Der anhaltende Absturz an den Wertpapierbörsen hat viele Gründe. Wesentlich ist gleichwohl: Die Wachstumsprognosen müssen nach unten revidiert werden. In den USA ist von einem Rückgang des realen Bruttoinlandsproduktes im vierten Quartal um (aufs Jahr hochgerechnet) bis zu 5% die Rede. Angesichts dieser Entwicklung und der schwindenden Handlungsmöglichkeiten macht sich mehr und mehr ein Gefühl der Hilflosigkeit breit. Die massiven staatlichen Interventionen im Finanzsektor, seien es Maßnahmen der Notenbank oder des Finanzministeriums, haben bislang keine durchschlagende Wirkung gezeigt. Das untergräbt das Vertrauen nicht nur in die Finanzinstitute, sondern auch in den Staat. Mit einem Leitzins von 1% ist die traditionelle Munition der US-Notenbank fast aufgebraucht. Mit dem direkten Ankauf privater Schuldpapiere hat sie sich bereits auf den unkonventionellen Weg der "quantitativen Lockerung" begeben. Die staatlichen Handlungsparameter bleiben schwach und das makroökonomische Umfeld verschlechtert sich rapide. Die Arbeitslosigkeit steigt nicht nur in den USA stark an. Weltweit leidet das Konsumentenvertrauen. Dies schlägt sich in geringeren Detailhandelsumsätzen und steigenden Überkapazitäten nieder.

Wir fragil die Situation ist, macht die gigantische Auffangaktion für die einst weltgrößte Bank "Citigroup" deutlich. Die Citigroup hatte bereits im September 2008 25 Mrd. Dollar aus dem Notplan von US-Regierung und US-Notenbank erhalten. Außer einer Kapitalspritze von 20 Mrd. Dollar bürgt die US-Regierung jetzt für riskante Anlagen und Wertpapiere im Volumen von 306 Mrd. Dollar, was ca. 15% der Bilanzsumme von 2.005 Mrd. Dollar ausmacht. Diese Stützungsaktion hat auf die Finanzmärkte zunächst eine positive Wirkung gehabt. Gleichwohl besteht weiterhin Grund zur Skepsis; denn die Citigroup hat insgesamt 1.230 Mrd. Dollar "toxischer" Wertpapiere in so genannten Vehikeln außerhalb der Bilanz. Wenn der Preisverfall beim Hauseigentum und damit die Ausweitung notleidender Hypothekenkredite nicht gestoppt wird, wird auch die Citigroup auf weitere Stützungsoperationen angewiesen sein.

Vor dem Hintergrund der globalen Rezession, eines immer noch möglichen Systemabsturzes des Finanzsystems und massiver Nachfrageeinbrüche steht nicht nur die US-Automobilindustrie mit dem Rücken zur Wand: Umsatzeinbrüche, die im Oktober auf dem US-Automobilmarkt bei 32% lagen und damit den Umsatz auf den tiefsten Stand seit 1991 fallen ließen, eine Verschuldung, die allein bei General Motors bei 48 Mrd. Dollar liegt, und eine rapide zur Neige gehender Restliquidität. Ob das Geld noch bis zum Januar oder gar Februar ausreicht, wenn sich der neu gewählte Kongress versammelt, ist zumindest bei GM und Chrysler unklar. Dort hatte man unter anderem damit kalkuliert, nach einem Bailout die Fusionsgespräche fortzusetzen und in deren Rahmen über die Herausnahme größerer Kapazitäten aus dem Markt zu entscheiden. Das heißt: Auch im Fall einer zügigen Verabschiedung eines Rettungspakets wäre es mit Betriebsschließungen in großem Stil, mit der Deindustrialisierung ganzer Regionen und Massenentlassungen unter den gegenwärtig noch rund 250.000 Beschäftigten der "Großen Drei" und den drei Mal so vielen in der Zuliefererindustrie weitergegangen. Nach zwei Jahrzehnten des Schreckens ohne Ende – in denen der Marktanteil von GM auf rund 20% abgesackt ist (in der Blütezeit des Fordismus lag er mal bei 53%) – zeichnet sich der schlechteste Fall eines Endes mit Schrecken ab.

Damit rechnet Opel – zumindest als eine Entwicklungsvariante. Für den "schlimmsten anzunehmenden Fall" – einer Insolvenz von GM – werden 1,8 Mrd. Euro Bürgschaften für notwendige Bankkredite gebraucht: 1,3 Mrd. für das kommende Jahr, 500 Mio. für 2010. Wie in Washington, so in Berlin: Der Staat soll einspringen. Denn als hundertprozentige GM-Tochter hat Opel keinen eigenständigen Zugang zum Kreditmarkt. Opel wird die Bürgschaft aller Voraussicht nach auch bekommen, denn die Zusage, die die Bundesregierung einfordert, wird gesellschaftsrechtlich möglich sein: dass die Gelder die Liquidität der GM-Tochter sichern und nicht beim Mutterkonzern landen. Und auch über die Verteilung der Finanzlasten zwischen dem Bund und den Ländern, in denen Opel produziert, wird schnell Einigung zu erzielen sein.

Doch auch danach bleibt die Frage nach den Perspektiven einer durch chronische Überakkumulation gekennzeichneten Branche. Schrumpfung ist in jedem Fall angesagt. Im kommenden Jahr will Opel die Kapazitäten um mindestens zehn Prozent auf dann noch 1,5 Mio. neu produzierte Autos herunterfahren. "Diskutiert wird eine 30-Stunden-Woche in allen unseren europäischen Werken mit Ausnahme von Rüsselsheim, weil dort der neue Insignia anläuft", so der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Klaus Franz. Einen vollen Lohnausgleich wird es dafür nicht geben – der Betriebsrat verhandelt mit der Geschäftsführung bereits über einen Abschlag von einem Prozentpunkt vom soeben abgeschlossenen Metall-Entgelttarifvertrag, der eine gestaffelte Lohnerhöhung von 4,2% ab Februar 2009 vorsieht. Doch im schlechtesten Fall geht es um sehr viel mehr Geld: Bis 2012 sind für neue Fahrzeuge, neue Antriebssysteme und produktivitätssteigernde Produktionsverfahren Neuinvestitionen in Höhe von 9 Mrd. Euro vorgesehen, ohne die Opel nicht überlebensfähig sein dürfte. Wo sollen die außerhalb der GM-Welt herkommen?

Der "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger hat vorgeschlagen, Opel zu verstaatlichen. Allerdings mit einem ganz und gar defensiven, abwiegelnden Argument: "Bei einer temporären Übernahme in Staatseigentum sehe ich weniger die Gefahr, dass andere Konzerne folgen. Die meisten deutschen Autobauer und Zulieferer werden kaum ein Interesse daran haben, vorübergehend in Staatseigentum überzugehen." Verstaatlichung als marktstärkende Abschreckungsmaßnahme! Das ist weder unternehmens- noch industriepolitisch als Lösungsansatz gedacht.

Allerdings sollte wie bei den Banken auch bei Industriekonzernen gelten: staatliche Hilfen nur bei Gegenleistung in Form einer Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik. Unabhängig von der hier nicht zu diskutierenden Frage, ob Opel eigenständig außerhalb der GM-Welt mit einem Marktanteil von zuletzt 7,2% überhaupt überlebensfähig ist, ist es sinnvoll, das Geschäftsmodell kritisch unter die Lupe zu nehmen. Dabei ginge es nicht nur um eine Orientierung an strikteren CO2-Grenzwerten, sondern sehr viel weitergehender um die (Re-)Aktivierung eines unternehmenspolitischen Leitmodells, das den schrittweisen Übergang von der ausschließlichen Orientierung auf den automobilen Individualverkehr hin zu Mobilitätskonzepten der Zukunft in den Fokus nimmt.

Der entscheidende Transformationsprozess läge damit in einer neuen industriepolitischen Profilierung staatlicher Aktivitäten. Bürgschaften mit Einflussnahme auf die Unternehmenspolitik wären dafür ein erster Schritt, der dann sinnvoll ist, wenn er eingebettet ist in ein zukunftsorientiertes Verkehrskonzept, für das der Staat industrie- und strukturpolitisch Verantwortung übernimmt. In dieser Perspektive könnte es dann auch zur Bildung von Partnerschaften und Allianzen kommen, die für Opel außerhalb von GM weitere Perspektiven eröffnen. Das wäre eine Vergesellschaftungsstrategie, bei der es zentral um Wirtschaftssteuerung nach gesellschaftlichen Bedarfen geht – und das ist weit mehr als eine (Teil-)Verstaatlichung von einzelwirtschaftlichen Aktivitäten.

Völlig utopisch muss das nicht sein. Denn der Fluchtweg aus der Absatzkrise in den Metropolen, auf den sich Volumen- wie Premiumhersteller kapriziert hatten, schließt sich gegenwärtig: Die Wachstumsmärkte China, Indien und Russland werden die Umsatzverluste in Nordamerika, Europa und Japan nicht ansatzweise kompensieren können. Genau umgekehrt schätzt es die VW-Vertriebsabteilung ein: "Die Finanzkrise wird die Schwellenländer sogar noch härter und langfristiger treffen als die westlichen Märkte." Dennoch hält Volkswagen an seiner Zehnjahresstrategie "Mach 18" fest, mit der der immerhin teilstaatliche Konzern seinen weltweiten Absatz bis 2018 nahezu verdoppeln will (in der Kernmarke von 3,6 auf 6,5 Mio., insgesamt von gut 5 Mio. auf über 11 Mio. Autos). Das macht die Crux einer zwangsläufig strikt wettbewerbsorientierten Konzernperspektive deutlich: In einer Situation massiver Überproduktion werden Wachstumsprogramme gefahren, um Konkurrenten aus dem Markt zu verdrängen und die Economics of Scale mit den entsprechenden Gewinnmargen für das Einzelunternehmen zu sichern.

Nicht Einzelunternehmen sind "too big to fail". Aber eine Branche, die aktuell 13,1% der industriellen Kapazitäten des industriellen Exportweltmeisters Deutschland ausmacht. In Frankreich hat man das – traditionell, wenngleich in einem nationalen Sinn weiterhin wettbewerbspolitisch verpackt – erfasst. Hierzulande dominiert weiterhin die betriebliche Kostenrechnung, mit der es "derzeit schwer fällt" – wie Daimler-Chef Dieter Zetsche einräumt –, "Prognosen für den Rest der Woche, des Monats oder gar des Jahres abzugeben. Unsere Branche steht am Scheideweg." Der Einstieg des Staates kann genutzt werden, einen industriepolitisch ausgewiesenen Zukunftspfad zu wählen.

Auf der anderen Seite: Die Übernahme von Unternehmen im Bank- und Industriebereich wird absehbar die Ausnahme bleiben. Noch ist die staatliche Intervention auf die Stabilisierung der makroökonomischen Rahmenbedingungen gerichtet. Immer deutlicher zeigt sich, dass die Stützung von Finanzinstituten der berühmten Sisyphos-Arbeit gleicht. Ohne eine Stabilisierung im Bereich der notleidenden Immobilienkredite und des Häusermarkts in den USA dürften die Abwärtstrends bei Konjunktur und Börsenkursen nur schwierig zu stoppen sein. Der Staat hat zudem nur begrenzte Ressourcen, die Tendenz zu einer deflationären Depression zu stoppen. Gefordert sind also einerseits Maßnahmen gegen die verschuldeten privaten Haushalte. Andererseits kann nur im Rahmen eines allgemeinen Konjunkturprogramms zur Rekonstruktion der sozialökonomischen Infrastruktur ein Strukturwandel im Bereich der Industrieproduktion auf den Weg gebracht werden.

Die kommende US-Administration Obama ist sich der massiven Herausforderung offenkundig bewusst: Das neue Regierungsteam, das in groben Konturen offenkundig steht, will nach dem Regierungswechsel Anfang 2009 ein Konjunkturprogramm von ca. 700 Mrd. Dollar auf den Weg bringen. Dieses Volumen entspricht ca. 5% des Bruttoinlandsprodukts. Die neue Administration verfolgt die Konzeption, dass ein Paket gegen die Wirtschaftskrise groß genug sein müsse, um Wirtschaft und Unternehmen aufzurütteln. Zu Recht betont Obama, dass man die Wirtschaft erst wieder unter Dampf setzen müsse. Erst dann könne man zu einer nachhaltigen Finanzpolitik zurückkehren, wobei auch dann an der grundlegenden Ausrichtung festgehalten werden soll, dass die Reichen stärker zur Kasse gebeten werden. Offen bleibt bei diesen Überlegungen freilich, wie der unverzichtbare Strukturwandel umgesetzt werden soll. Die Wirtschaft in den überlieferten Strukturen unter Dampf setzen zu wollen, wird mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt sein.

Wenig strittig dürfte sein: Das Jahr 2009 wird in der Globalökonomie durch Schrumpfungsprozesse geprägt sein. Die Volksrepublik China will mit einem historisch einzigartigen Konjunktur- und Strukturprogramm einen Richtungswechsel zu einer binnenwirtschaftlichen Entwicklung durchsetzen. Der neue US-Präsident Obama hat angekündigt, über den Ausbau der Infrastruktur, die Modernisierung des Bildungsbereiches und Investitionen im Bereich der Energie eine Aufwärtsbewegung der Ökonomie und damit die Schaffung von 2,5 Millionen Arbeitsplätzen auf den Weg zu bringen. In Japan und Europa sind die Festlegungen bislang noch nicht eindeutig, aber auch hier soll massiv einer ökonomischen Abwärtsbewegung entgegengesteuert werden.

Auch ein koordiniertes Vorgehen der wichtigsten Länder wird die Abwärtsbewegung nicht mehr aufhalten können. Allerdings könnte eine Verfestigung des Schrumpfungsprozesses und ein möglicher Übergang in eine deflationäre Depression vermieden werden. Entscheidend für den Erfolg sind nicht nur Art und Umfang der mobilisierten Ressourcen solcher Konjunkturprogramme. Wichtig ist vielmehr auch, dass es nicht zu weiteren spektakulären Unternehmenskonkursen kommt. Unter diesem Blickwinkel ist entscheidend, ob der weitere Niedergang der Automobilindustrien gestoppt und – jeweils im nationalstaatlichen Kontext – in das Programm eines New Deals für das 21. Jahrhundert eingebaut werden kann.

Das politische Gewicht und damit der Einfluss von Gewerkschaften und aller Strömungen und Parteien der politischen Linken im weiteren Sinne zur Beeinflussung einer New Deal-Operation in allen Teilen der Globalökonomie sind zwar begrenzt oder vielleicht gar bescheiden. Gleichwohl sollten sich alle kapitalismuskritischen Kräfte diesen Herausforderungen stellen. Ein weltweiter "New Deal" muss von neuen Strategien zur Aufhebung der verteilungspolitischen Schieflagen und der Stärkung der öffentlichen Sektoren begleitet werden.

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