1. Juli 2007 Ewald Wehner

ver.di: mehr Zeit für die Programmdebatte

Der ver.di-Gewerkschaftsrat hat die neue Version eines Programmentwurfs verabschiedet und will die Beschlussfassung dazu auf 2011 vertagen. Damit ist der Versuch, der neu gegründeten gewerkschaftlichen Massenorganisation ein Programm der politischen Beliebigkeit mit unverbindlichen Allerweltsaussagen überzustülpen ohne auch nur ansatzweise den Klassencharakter einer kapitalistischen Gesellschaft zu berücksichtigen, gescheitert.[1]

Der Beschluss des Gewerkschaftsrates, die Programmdebatte erst mit dem Kongress 2011 zum Abschluss zu bringen, ist aber nicht nur aus diesem Grund richtig, sondern schafft auch eine für die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Selbstverständnisses wichtige Voraussetzung.

Erstens: Die gewerkschaftlich identitätsstiftende Wirkung entwickelt sich vorrangig im Diskussionsprozess und ggf. in den Auseinandersetzungen um das Programm, über die Ziele der Organisation, über Strategie und Taktik – das heißt vor der Beschlussfassung. Die Formel "Wer nicht weiß, wo er herkommt, kann auch nicht wissen, wo er hin will" trifft besonders für eine neue Gewerkschaft zu. Keine andere Gewerkschaft hat eine größere Bandbreite, was die Zusammensetzung ihrer Mitglieder betrifft, als ver.di. Dies ist Problem und Chance zugleich. Problem, weil unterschiedliche Herkunft und berufliche Differenzierung den Blick für die gemeinsame Lage aller ArbeitnehmerInnen – eben die Klasseninteressen – verstellen können. Chance, weil die gemeinsame gewerkschaftliche Organisation von der grundsätzlichen sozialen Abhängigkeit der Mitglieder – die existenzielle Notwendigkeit des Verkaufs ihrer Arbeitskraft – ausgeht.

Wer sich mit aktiven ver.di-FuktionärInnen unterhält, erfährt nach kurzer Zeit, dass die Mitglieder der fünf so genannten Quellgewerkschaften noch weit davon entfernt sind, so etwas wie ein "Wir-Gefühl" entwickelt zu haben. Alle Erfahrungen mit früheren programmatischen Konzeptionen weisen darauf hin, dass die Zeit der Auseinandersetzung, des Ringens um wichtige Forderungen, für das gewerkschaftliche Selbstverständnis der Mitglieder von hohem Wert ist. Hierzu gehört auch die Aufarbeitung der Arbeitskämpfe der vergangenen Jahre, z.B. im öffentlichen Dienst oder aktuell bei der Telekom, und die gewerkschaftlichen Fähigkeiten zur Mobilisierung der Mitglieder über die betroffenen Fachbereiche hinaus.

Zweitens: Im Beschluss des Gewerkschaftsrates vom 29.-31. Mai 2007 wird der bevorstehende Bundeskongress aufgefordert, die Verlängerung der programmatischen Diskussion mit folgenden konkreten Aufträgen zu verbinden:

– Die Diskussion wird auf der Grundlage des von der "Redaktionskommission" überarbeiteten Entwurfs unter Einbeziehung aller vorliegenden Rückmeldungen und Positionen fortgesetzt. Dazu veröffentlicht der Bundesvorstand unmittelbar nach dem Kongress alle Dokumente für die weitere Debatte in ver.di in Form eines Readers und stellt sie zusätzlich im Internet zur Verfügung.

– Bis Ende 2008 sollen alle bezirklichen Gremien sich mit den vorliegenden Positionen und Alternativen beschäftigen. Jeder Bezirk soll auf gesamtbezirklicher Ebene Veranstaltungen anbieten. Zielsetzung ist es, möglichst viele Mitglieder einzubeziehen und bis Ende 2008 Positionen an Landesbezirk und Bundesebene weiterzureichen.

– Bis Ende 2009 sollen Landesbezirke und Fachbereiche Diskussionsangebote zum Programm machen. Diese sollen eine Austauschmöglichkeit für die Bezirke darstellen, aber auch weitergehende Diskussionen ermöglichen. Fachbereichs- und bezirksübergreifende Veranstaltungen sollen den Grundstock einer breiten Diskussion bieten. Darüber hinaus ist jeder Landesbezirk eingeladen, weitere Austausch- und Diskussionsangebote zu machen. Zielsetzung ist es, bis Ende 2009 eine Positionierung an die Bundesebene weiterzuleiten. Den weiteren Beschlussformulierungen zufolge sollen die Fachbereiche in breit angelegten Diskussionen und unterstützt durch Veranstaltungen auf der Ebene des Bundesfachbereichs ebenfalls bis Ende 2009 ihre Positionen und Forderungen an das Programm formulieren und dokumentieren. Die Bildungsstätten werden beauftragt, ihre bisherigen Aktivitäten zum Programm zu verbreitern und die Fachbereiche und Ebenen bei ihren Vorhaben zu unterstützen. Das weitere Verfahren wird dann auf Bundesebene geregelt. Hierzu gehört eine Dokumentation in einer Internetplattform und die Bildung von Arbeitskreisen zur themen- und rangbezogenen Konkretisierung und Abstimmung zwischen Fachbereichen und Ebenen.

Dies allein reicht jedoch nicht aus, um eine demokratischen Grundsätzen gerecht werdende Meinungs- und Willensbildung einer gewerkschaftlichen Massenorganisation zu gewährleisten. Schon in der Vergangenheit behielt niemand mehr die Übersicht, welche Anträge, Vorschläge und Positionen aus den ver.di-Bezirken von der so genannten Redaktionskommission – hierzu gehörte auch der ver.di-Vorsitzende – überhaupt und wie berücksichtigt und behandelt worden sind. Im Vorwort des ver.di-Vorsitzenden zur zweiten Version des Entwurfs vom 18.8.2006 liest sich das so: "Seit Mai dieses Jahres hat eine Redaktionskonferenz aus fünf Kolleginnen und Kollegen des Gewerkschaftsrates sowie dem Vorsitzenden und seinen StellvertreterInnen alle eingegangenen Rückmeldungen gewürdigt und sie, wo immer das möglich war, in den Text integriert." Durch diese paternalistische Zentralisierung von Ergebnissen gewerkschaftlicher Meinungsbildung fehlt nicht nur die für eine Programmdiskussion notwendige Transparenz, sondern es wird auch eine Diskussion über unterschiedliche gewerkschaftliche Positionen verhindert. So heißt es im weiteren Text des Vorworts: "Ich bitte Euch, Anträge der Vorkonferenzen zum Programmentwurf nicht allein auf dem üblichen Antragsweg, sondern auch per e-Mail an die ›Redaktionskommission‹ des Gewerkschaftsrates weiterzuleiten, damit diese die Anträge würdigen (d.Verf.) und den Gewerkschaftsrat entsprechend beraten kann."

– Die unterentwickelte – auch weil nicht organisierte – Diskussion wird im Beschluss des Gewerkschaftsrates vom 29.-31.5.2007 – wenn auch mit gefälligen Formulierungen – zugegeben: "Die vom Bundskongress angestoßene programmatische Diskussion ist in den zurückliegenden Jahren vorangekommen: In Workshops und bundesweiten Veranstaltungen wurden Positionen entwickelt und präzisiert. In zahlreichen Veranstaltungen in Bezirken, Landesbezirken und Fachbereichen wurden Positionen diskutiert, Ziele konkretisiert und Forderungen entwickelt. Beiträge zur Debatte und Zwischenstände wurden dokumentiert und auch lebhaft abgerufen... Aus zwei Diskussionsphasen sind Beiträge zur Weiterentwicklung und Vorschläge zur Veränderung des jeweils aktuellen Zwischenstandes an den Bundesvorstand geleitet worden, die die Redaktionskommission des Gewerkschaftsrates aufgenommen und an vielen Stellen eingearbeitet hat... In den letzten Monaten hat sich allerdings auch gezeigt, dass die Diskussion noch nicht alle Bereiche der Organisation erreicht hat und dass auch in vielen Gliederungen, die sich schon mit dem Programm befasst haben, die Diskussion noch nicht breit genug entwickelt ist, um eine endgültige Beschlussfassung vorzunehmen."

Offensichtlich müssen dem Gewerkschaftsrat neben Einzelpositionen mindestens zwei weitere beschlossene Programmentwürfe vorgelegen haben. Die in der Vorlage des Gewerkschaftsrats enthaltene Bezugnahme auf die Beschlüsse der "Redaktionskommission" teilt Einzelpositionen mit teils schwer nachvollziehbaren Gründen in übernahmefähig oder nicht ein. Die im ver.di-Programmentwurf übernommenen Positionen sind insgesamt sicher positiv zu bewerten.

Drittens: Die Positionierung von ver.di zur Friedenspolitik wurde durch den Einschub des Satzes "ver.di wirbt für ein Verbot von Angriffskriegen in der Europäischen Verfassung" erweitert. Begründet wird dies sibyllinisch wie folgt: "Damit soll unterstrichen werden, dass die Europäische Union von den Bürgerinnen und Bürgern als Friedensmacht gesehen und gewollt wird, die Konflikte mit den Mitteln der Diplomatie, des sozialen Ausgleichs oder über Aufbauhilfen beilegt, dabei aber auf militärische Gewalt verzichtet, soweit diese nicht im Rahmen eines UN-Mandates zum Einsatz kommt."

Weitere neu aufgenommene Programmpunkte sind:

– "Faschismus, Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus soll aufgenommen werden."

– "ver.di erachtet den politischen Streik als eine legitime Form der Auseinandersetzung und tritt für die Kodifizierung eines Rechtes auf politischen Streik in Deutschland ein, wie man sie in vielen europäischen Ländern findet."

– "Um die Rolle der Gewerkschaften als Kampforganisation stärker zu betonen, wurde in den Zeilen 2.66–2.67 der Hinweis darauf aufgenommen, dass Gewerkschaften, um ihre Ziele zu erreichen, in der Lage sein müssen, Kampfkraft entfalten zu können."

So wichtig der Inhalt dieser Positionsbestimmungen ist, sie bleiben bei der unübersichtlichen Gliederung des Programmentwurfs selbst oft zusammenhanglos und verlieren in der Vielzahl der "Allerweltsformulierungen" ihre zentrale Bedeutung.

Die vier Jahre, die sich ver.di für die weitere Programmdiskussion nehmen will, sollten deshalb auch dazu genutzt werden, noch mehr die konkreten Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Hierzu gehören auch die Streikerfahrungen der letzten Jahre. Auch die neue Version des ver.di-Programmentwurfs hinterlässt eher den Eindruck der Abschlusserklärung eines Kirchentages, als die einer Kampforganisation, die nach eigenen Angaben in der Lage sein muss, Kampfkraft zu entfalten.

Ewald Wehner war langjähriges Vorstandsmitglied der Deutschen Postgewerkschaft. Er lebt in Frankfurt a.M.

[1] Wir berichteten über die einzelnen Abschnitte der Programmdiskussion in dieser Zeitschrift: Heft 7/8-99: Macbeth oder: Politik in Zeiten des Umbruchs, 6/2005: Gewerkschaftsprogramm von der Stange?, 5/2006: Zwischen lyrischem Opportunismus und kritischer Diagnose.

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