1. Juni 2000 Stefan Keller / Verena Mühlberger

Vernetzt Euch!

Pierre Bourdieu mobilisiert für ein neues Projekt: Charta 2000 – eine europäische Bewegung gegen den Neoliberalismus, für ein soziales Europa. Die Redaktion der Zeitschrift Sozialismus ruft dazu auf, dieses Projekt zu unterstützen: Es handelt sich um einen wichtigen Impuls zur Überwindung der Zersplitterung der politischen Linken und der verschiedenen sozialen Bewegungen und zur Wiedergewinnung einer solidarischen, emanzipatorischen Perspektive für Europa.

Herr Bourdieu, am 1. Mai haben Sie einen internationalen Appell lanciert, den Sie in der französischen Fassung »Für Generalstände der sozialen Bewegung Europas« nennen.

Das ist die Bezeichnung, die wir nach einigem Nachdenken gefunden haben. Das Ziel dieses Aufrufes ist es, eine breite soziale Bewegung gegen den Neoliberalismus zu organisieren.

Was motiviert Sie dazu, sich in diesem politischen Kampf zu engagieren?

Nun, ich bin ja schon einige Jahre mit den Verantwortlichen von sozialen Bewegungen in Kontakt – in Deutschland, in Griechenland, in Frankreich – und es schien mir, dass diese sozialen Bewegungen einerseits sehr stark sind, sehr aktiv und effizient. Man hat es in Seattle gesehen, man hat es im April in Washington wieder gesehen, man hat die Arbeitslosenmärsche in Frankreich, in Deutschland gesehen usw. Gleichzeitig sind die sozialen Bewegungen aber auch sehr zersplittert, und zwar aus mehreren Gründen. Sie sind oft eng mit ganz speziellen Anliegen verknüpft – mit der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit, der Frage der illegalen Einwanderer, der Sache der Frauen oder der Schwulen –, und die Unterschiedlichkeit dieser Anliegen hat sie zersplittert. Zusätzlich stehen sie im Zusammenhang mit verschiedenen nationalen Traditionen; in Deutschland etwa gibt es soziale Bewegungen, die im Umkreis der evangelischen Kirchen stehen, in Frankreich gibt es Bewegungen im Umfeld der Kommunisten, in Spanien gibt es Bewegungen mit anarchistischer Tradition. Und obwohl diese Bewegungen häufig gemeinsame Ziele verfolgen, bleiben sie von einander isoliert. In langen Diskussionen ist uns daher der Gedanke gekommen, dass es notwendig wäre, so etwas wie eine Koordination dieser Bewegungen aufzubauen. Es geht aber keinesfalls darum, ein Zentralkomitee der sozialen Bewegungen einzurichten mit einem Apparat der alten Art – all diese Leute in den neuen sozialen Bewegungen haben einen Horror vor Apparaten! –, doch irgend etwas musste gefunden werden. Unser Projekt ist es nun, Netze zu organisieren. (...)<7p>

Sind die französischen Sozialisten gegen den Appell? Haben sie Stellung genommen?

Sie haben nicht direkt Stellung genommen, aber es ist wirklich nicht schwierig zu wissen, dass die Sozialistische Partei mit unserem Appell nicht glücklich ist. Sicher gibt es in der Partei Leute, die mit uns einverstanden sind. Aber insgesamt stört der Appell die französischen Sozialisten sehr, jedenfalls jene, die nur eine Sache im Kopf haben: dass Lionel Jospin Präsident der Republik wird. Ihnen ist der Appell peinlich.

Und die Kommunisten?

Den Kommunisten ist er vielleicht noch peinlicher, denn sie neigen traditionellerweise dazu, sich selber für die einzige soziale Bewegung zu halten. Doch das sind sehr diffizile Sachen. Schreiben Sie nicht allzu viel davon! Unsere Bewegung soll nicht durch solche Dinge gefährdet werden. Wenn diese Bewegung nämlich Erfolg hat, dann ist sie eine große Chance für Europa. Es mag gewaltig tönen, aber wenn wir etwas anderes wollen als jenes Europa, welches zur Zeit vorbereitet wird – ein Stützpunkt des Neoliberalismus, in dem alles gemacht wird, was die ökonomischen Mächte wünschen –, dann müssen wir diesem Europa auch etwas anderes entgegenstellen. Wir müssen die Vorstellung eines sozialen Europas entwickeln. Ein soziales Europa würde sich seiner großen wirtschaftlichen Stärke bedienen, um dem Neoliberalismus zu widerstehen: gegen den Abbau des Sozialstaates, für den Erhalt der sozialen Errungenschaften. Das wäre die Chance für Europa und es wäre, glaube ich, auch eine Chance für die Menschheit.

Doch es bleibt eine europäische Bewegung?

Ja, wobei das nicht so einfach ist, denn der Gegner ist ja eben nicht auf Europa beschränkt, sondern weltweit präsent. Die Aktion in Seattle hat das symbolisiert. Andererseits ist ein Kampf auf weltweitem Niveau häufig etwas abstrakt, während der Kampf in Europa für uns sehr konkret ist. Hier wird verhandelt, hier gibt es Maastricht, die Europäische Gemeinschaft, welche Entscheidungen trifft, ein europäisches Parlament, das seine Aufgabe nicht wahrnimmt und auch gar keine Macht hat. Hier gibt es Herrn Prodi, der einen Neoliberalismus reinster Art praktiziert und unglaubliche Reden hält. Hier gibt es einen unmittelbaren Gegner, unmittelbare Gefahren – und andererseits eine soziale Tradition: Europa ist ein Reservoir von wichtigen sozialkritischen Kräften, die es zu mobilisieren gilt.
Zu den unmittelbaren Gefahren gehört die Konkurrenz zwischen den Ländern, das soziale Dumping. Dafür ist das Beispiel der Lastwagenfahrer sehr typisch: Sie haben in Frankreich soziale Vorteile gegenüber ihren Kollegen in anderen Staaten, aber heute spricht man über diese Vorteile, als wären sie ein Fehler. Tatsächlich verfügen die Franzosen aus historischen Gründen sehr häufig über bessere soziale Errungenschaften als die Menschen in manchen anderen europäischen Staaten, und nur aus der Sicht des »Washingtoner Konsenses« – der Wirtschaftspolitik von IWF und Weltbank –, ist das eine Schande. Denen gefällt es nicht, wenn die französischen Lastwagenfahrer nur 35 Stunden arbeiten, während in Portugal Arbeitszeiten von vielleicht 45 oder 50 Stunden gelten, weshalb es dort auch mehr Unfälle gibt.
Für die soziale Bewegung in Europa ist es nun sehr wichtig, dass sich die europäischen Normen und Standards an den höchsten sozialen Errungenschaften orientieren: Wenn gewählt wird zwischen den 35 Stunden der französischen Routiers und den 45 oder 50 Stunden der portugiesischen Routiers, dann wählt man die französischen Routiers, voilà! So gesehen ist der französische Sonderstatus, die »exception française«, wirklich nicht schlecht. – Interessant ist übrigens: Der Präsident der portugiesischen Republik steht unseren Positionen sehr nahe. (...)

Ist der Appell auch eine Bewegung von Intellektuellen?

Nein, nicht wirklich. Natürlich sind Intellektuelle dabei, in Deutschland zum Beispiel Günter Grass, aber die bilden nicht die Basis der Bewegung. Man kann es vielleicht so sagen: Die Verantwortlichen der neuen sozialen Bewegungen sind häufig Personen mit einem intellektuellen Hintergrund, sehr kultivierte Leute. Sie finden da Gewerkschaftsführer, die besser in Soziologie sind als manche Soziologen. Aber das sind nicht Intellektuelle im Sinn jener Leute, die in den Zeitungen schreiben und im Fernsehen auftreten.

Welche Rolle spielen denn die Intellektuellen?

Es gibt ja auch gar nicht mehr die starre Aufteilung in Intellektuelle und Arbeiter, wie man sie früher kannte, das hat sich völlig verändert. Es gibt heute viele Leute in den Gewerkschaften und in unserer Bewegung, die gerade durch ihre Arbeit dazu gebracht worden sind, die Welt intellektuell zu betrachten. Noch vor 30 Jahren hatte in Frankreich die Arbeiterbewegung eine außerordentlich starke Tradition des Intellektuellenhasses, heute sind es die Leute in den Gewerkschaften selber, die lesen und nachdenken.
Wenn man mich mit dieser Frage nach den Intellektuellen nervt, von der rechten Seite her, dann sage ich immer: Die Intellektuellen sind Experten gegen die Experten! Zum Beispiel gegen einen Mann wie Anthony Giddens – ein britischer Soziologe, der zum Vordenker der neoliberalen Rechten geworden ist, bzw. der neoliberalen »Schein-Linken« Tony Blairs. Und wer zählt nun mehr gegen Giddens als ein Bourdieu? Ich habe die wissenschaftliche Autorität, und ich kenne seine Waffen! Dasselbe gilt für die Widerlegung der falschen neoliberalen Nobelpreisträger für Ökonomie; auch da ist es gut, einen Ökonomen zu haben, der zeigen kann, was ihre Theorien wirklich bedeuten. In diesem Sinne haben die Intellektuellen eine Rolle, aber sie sind nicht die »Führer« [deutsch] der Bewegung, sie arbeiten innerhalb der Kollektive. Man braucht sie wegen ihrer Autorität und wegen ihrer technischen Kompetenz als intellektuelle Arbeiter, die bei einem Problem sagen können: Voilà, wir werden Euch dies analysieren!

Sie haben einmal gesagt, die Soziologen hätten unter den Intellektuellen die wichtigste Rolle. Wie meinen Sie das?

Ich meine, dass die Soziologen – per definitionem – die soziale Welt besser kennen sollten. Als Soziologe hat man Erkenntnisinstrumente, die einem erlauben, Dinge herauszufinden, die andere nicht wissen. Zum Beispiel glaubte man noch vor 30 Jahren, die Schule sei ein Tor zur Elite; heute wissen dank der Soziologie alle, dass die Schule einen sehr großen Beitrag leistet zur Reproduktion der sozialen Ungleichheit.
Zur Zeit bereiten wir eine neue große soziologische Arbeit vor, die sich als sehr schwierig erweist, aus technischen Gründen, weil die Statistiken so schlecht und so falsch sind. Wir versuchen systematisch zu zeigen, dass es eine Korrelation gibt zwischen der neoliberalen Politik und allen Phänomenen, die die Soziologen mit dem Begriff der Anomie bezeichnen: Selbstmord, Scheidung, Delinquenz, Alkoholismus, Gewalt usw. Daran wird wissenschaftlich gearbeitet, um den Chefs der europäischen Länder zu zeigen: Es gibt zwar ökonomische Indikatoren, es gibt aber auch gesellschaftliche und demographische Indikatoren. Diese Arbeit können nur die Soziologen machen, und die »Wissenschaften« (in Anführungszeichen) – die Ökonomie, aber auch die Soziologie – sind heute zu mächtigen Waffen geworden. Was der Marxismus über die Religion sagte, muss man heute über gewisse »Wissenschaften« sagen: Es heißt nicht mehr »Gott ist mit uns«, es heißt, »die Wissenschaft ist mit uns«.

Die Soziologie wäre dabei ein Gegengewicht zur Ökonomie?

Ja.

Traditionellerweise ist es die Politik, die ein solches Gegengewicht herstellen müsste.

Aber Sie haben ja unseren Appell gelesen: Es gibt ein vollständiges Versagen der Politiker. Die Politiker der Linken in Frankreich und in Deutschland – über Blair reden wir gar nicht erst – haben die kritischen Positionen vollständig aufgegeben.

Machen Sie keinen Unterschied zwischen den Sozialisten in Frankreich und den Sozialdemokraten in Deutschland?

Wenn ich einen machen würde, dann höchstens den, dass die Franzosen noch scheinheiliger sind.

In welchem Sinne?

Weil sie eine sozialkritische Bewegung an ihrer linken Seite haben, verschleiern sie ihre Positionen besser. Ich würde sagen, es gibt einen Unterschied in dem Sinne, dass die Rhetorik bei den Franzosen sozialistischer ist. Das ist aber schon alles. Nehmen wir das Gesetz zur Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich: Die 35-Stunden-Woche ist eine ganz außerordentliche Finte der sozialistischen Regierung! Sie ist sehr schwierig zu analysieren, und ich hoffe, dass es mir gelingt, einen Forscher zu motivieren, sich daran zu setzen. Das Gesetz trägt zwar alle Merkmale des Progressiven, in Wirklichkeit ist es aber zutiefst konservativ, und überall dort, wo es angewendet wird, brechen Streiks aus. Das Gesetz erlaubt, dass alle Freiräume verschwinden, die es in den Arbeitsbeziehungen noch gab und die auf ihre Weise die Interessen der Arbeitenden geschützt haben. Die 35-Stunden-Woche wird als Gelegenheit benützt, die Kontrolle der Unternehmer und des Staates zu verstärken und die sozialen Vorteile zum Verschwinden zu bringen.
Bei der Linken im deutschsprachigen Raum gibt es aber so etwas wie eine Begeisterung für die Franzosen. Man sagt: »Ah, Frankreich!« [deutsch], und hält die französischen Sozialisten immer noch für etwas ganz besonderes. Absurderweise wird dabei die soziale Bewegung in Frankreich, die gegen die französischen Sozialisten ist, von den sozialen Bewegungen des Auslandes für einen Teil des französischen Sozialismus gehalten.

Immer wieder plädieren Sie für eine Rehabilitation des Sozialstaates und der sozialen Errungenschaften der Vergangenheit. Ist das nicht ein ziemlich konservatives Projekt, einfach den Staat zu bewahren, wie er entstanden ist?

So etwas habe ich natürlich nie verlangt, das würde meiner ganzen wissenschaftlichen Kritik an diesem Staat widersprechen. Natürlich muss der Staat verändert werden, aber ich glaube, dass es nötig ist, gewisse staatliche Funktionen zu erhalten – Funktionen auf dem Gebiet der Solidarität und der Umverteilung. Die Umverteilung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates überhaupt: Man erhebt Steuern und Abgaben und verteilt sie neu, auf eine weniger elitäre Weise. Solche Funktionen sind zu bewahren und sogar weiter zu entwickeln! Außerdem wird der neue Staat ein europäischer Staat sein, kein Nationalstaat mehr, das ändert schon sehr viel.<7p>

Geht es Ihnen nicht auch darum, die europäische Idee des Staates gegenüber der Idee des US-amerikanischen Staates verteidigen?

Ja. Absolut! Aber das ist eine sehr schwierige Frage, in der die Leute in unserer Bewegung wohl sehr uneinig sind. – Ich habe von den Funktionen des Staates gesprochen, die zu verteidigen sind: die öffentlichen Investitionen zum Beispiel, die öffentlichen Dienste. Es gibt heute eine systematische Entwertung von allem, was öffentlich ist. Und gerade im Bereich des Transports, im Bereich der Ökologie werden erschreckende Entscheidungen getroffen. Ich komme aus den Pyrenäen; in einem der schönsten Täler der Pyrenäen, dem Vallée d’Aspe, das ganz außerordentlich ist, sehr wild, da bauen sie jetzt eine vierspurige Autobahn. Sie wird eine der schönsten Landschaften zerstören, nur damit die Lastwagen schnellstmöglich französischen Spargel nach Spanien und spanische Orangen nach Frankreich bringen können. Dabei weiß man heute sehr genau über alle Aspekte der Verkehrspolitik Bescheid, was den Bahnverkehr betrifft, den Straßenverkehr, die ökonomische Bedeutung, die Ökologie, die Unfälle usw.

Ein anderes Beispiel ist der Montblanc-Tunnel: Gerade haben die französischen Sozialisten und »Grünen« – es war die grüne Ministerin Dominique Voynet – einem Abkommen über die Wiedereröffnung dieses Tunnels zugestimmt, der eine fantastische Verschmutzung produziert. Alle Leute in der Region sind gegen den Tunnel, und nach dem großen Unfall, nach der Schließung, hätte man Gelegenheit gehabt, eine neue Lösung zu suchen, den Verkehr auf die Eisenbahn umzuleiten, wie sie es in der Schweiz ja praktizieren.

Der Staat muss die Eisenbahnen erhalten und die Zahl der Lastwagen beschränken! Aber die privaten Interessen wollen ständig größere Profite und damit auch Lastwagen, die ständig etwas größer, etwas schwerer, etwas gefährlicher werden und ständig ein bisschen länger unterwegs sein dürfen. Staatliche Aufgabe ist es, solche Einzelinteressen, aber auch nationale Interessen oder Standesinteressen zu transzendieren und Normen aufzustellen. Es braucht einen europäischen Staat. Aber was für ein Staat das dann sein soll, weiß ich nicht genau; jedenfalls nicht ein Staat nach französischem Muster.

Warum nicht?

Er ist zu zentralistisch. Es braucht eher eine föderalistische Staatsform, die nach dem Prinzip der Subsidiarität funktioniert. Das ist ein sehr gutes Prinzip, es delegiert so viele Dinge wie möglich auf das lokale Niveau, und gleichzeitig garantiert es eine Form der gemeinsamen Regulation. (...) Jedenfalls ist es schwierig, eine Utopie für einen europäischen Staat zu entwerfen. Dieser Staat braucht natürlich auch eine technokratische Dimension – man sagt ja immer, die Technokratie sei ein Fehler, aber das stimmt nicht notwendigerweise. Unter den Entscheidungen, die von den Technokraten in Brüssel getroffen werden, gibt es viele, die exzellent sind: Jene zur Jagd, jene zur Umweltverschmutzung beispielsweise.

Gibt es schon erste Strukturen, erste Ansätze zur Konstruktion dieses neuen Staates?

Wie gesagt, es ist sehr schwierig. Andererseits: Wenn man einfach alles so passieren lässt, wird es nie eine Gegenmacht geben! Der Sinn unseres Appells ist es ja, ein Forum zu kreieren, wo die Leute Projekte vorstellen und sich artikulieren können. Wir werden versuchen, eine Tagung in Athen zu machen; die Griechen sind bereit, sie zu finanzieren, im März 2001. Außerdem arbeiten wir am Projekt einer Charta des europäischen Staates. Das ist alles noch nicht sehr präzis, aber es ist auch nicht schlecht. Auf allen Ebenen gibt es Forderungen, die entwickelt werden, und anstatt immer den herrschenden Diskurs wiederzugeben, könnten die Medien das einmal aufgreifen. Auch unter den Journalisten gibt es doch viele Leute, die guten Willens sind.

Noch einmal zur Basis dieser Bewegung: sind auch Arbeitslose, Leute aus prekären Beschäftigungsverhältnissen dabei? Wer ist die Basis?

Was das für Leute sind, lässt sich nicht genau sagen. Ich glaube, es sind ungefähr 15 Prozent der europäischen Bevölkerung, die zu dieser Bewegung gehören werden. Es ist nicht eine kleine Minderheit winziger Grüppchen, es ist wesentlich mehr als das. Wenn ich z.B. in die Provinz fahre und auftrete, was ich nicht oft mache, dann sehe ich, dass dort, wo vor ein paar Jahren tausend Leute kamen, heute plötzlich fünftausend kommen. Kürzlich war ich in Neuchâtel, was keine große Stadt ist, und auch dort füllte sich ein enormer Saal mit Leuten; es war eine sehr bewegende Situation, ich kam fast nicht zum Reden. Oder Serge Halimi, der dieses Büchlein geschrieben hat über das Fernsehen in Frankreich: Bei ihm kommen dreitausend Leute, und er ist erst 30 Jahre alt. Oder der Erfolg von »Le Monde diplomatique«, oder der von Attac.
Ich weiß nicht, was das für Leute im einzelnen sind, vielleicht ist es eine neue Intelligentsia? Das Bildungsniveau ist ja sehr viel höher geworden, es gibt heute sehr viele enttäuschte Leute, die gebildet sind. – Sie nehmen zum Beispiel den Zug und treffen dort auf einen Schaffner, der drei Sprachen spricht. Es gibt viele Leute, die sozial deklassiert wurden, die einen ausgezeichneten Mittelschulabschluss haben, und die als Briefträger arbeiten und zwar in ganz Europa. Max Weber würde vielleicht sagen: proletaroide Intelligenz.
Das ist eine soziale Gruppe, die unter Umständen auch sehr gefährlich werden kann. Nicht die Lebensmittelhändler haben in Deutschland den Nationalsozialismus hervorgebracht, sondern es war die Intelligenz, es waren die »Privatdozenten« [deutsch]. In der aktuellen Konjunktur sind diese Leute enerviert, sie finden keine Befriedigung in den Zeitungen, die sie lesen, oder in dem, was ihnen die Politik offeriert. Diese Leute sind ein Faktor der Veränderung.

Die eigentlichen Opfer des Neoliberalismus werden von dieser Bewegung aber noch nicht erfasst?

Nicht direkt. Ich glaube, jene Leute werden mobilisiert auf dem Umweg über die andern. Historisch ist das vielleicht ganz ähnlich wie bei den großen religiösen Bewegungen. Diese wurden zwar von verarmten Bauern gemacht, aber die Bauern wurden angeführt von abgesprungenen Ordenspriestern. So ähnlich könnte die soziale Struktur der neuen Bewegung sein: eine Kombination von proletarisierter Intelligenz – kultiviert, kritisch, enttäuscht, politisch gebildet – zusammen mit den Opfern der Geschichte. Auch eine Arbeitslosenbewegung besteht ja heute nicht einfach aus Arbeitslosen; sie würde gar nicht vorwärtskommen mit Arbeitslosen allein. Es braucht andere Leute, welche die Interessen der Arbeitslosen aufgreifen, sich ihrer annehmen, sie organisieren und mobilisieren. Natürlich besteht ein Arbeitslosenmarsch aus Arbeitslosen, aber die Anführer solcher Bewegungen sind typischerweise Intellektuelle von der Art, wie ich sie vorhin beschrieben habe. Der Begriff »intelligentsia prolétaroide« passt hier sehr gut. Zu anderen Zeiten waren solche Leute in anderen Bewegungen, z.B. in der Kommunistischen Partei. Der Konkurs der kommunistischen Bewegung hat hier auch politische Energien freigesetzt, die vorher eingefroren und erstarrt waren.

Auch der Begriff »États Généraux« in Ihrem Appell richtet sich – mit seinem Verweis auf die Französische Revolution – ja eher an gebildete Leute. Er ist übrigens viel schöner als das Wort »Tagung« in der deutschen Übersetzung.

Klar, der Begriff hat etwas Mystisches, etwas von revolutionärer Mystik. Wir überlegten uns auch andere Begriffe – »Constituante« oder »Convention« –, ebenfalls revolutionäre Metaphern, um bei den Leuten Vertrauen zu wecken. Die herrschenden Kräfte bedienen sich ständig solcher Symbole, und zwar sehr geschickt.
Sie haben auch das Geld dafür, im Gegensatz zu uns. Wir haben im Moment überhaupt kein Geld. Man kann sich gar nicht vorstellen, auf welche Schwierigkeiten man stößt, wenn man kein Geld hat. Ich habe hier zwei junge Männer, die mit mir intensiv für die Charta arbeiten – neben ihrer Forschungstätigkeit. Gestern Abend habe ich bis ein Uhr morgens gearbeitet, Mails überall hin geschickt. Jeder gibt einen Teil seiner Zeit und seiner Energie. Hätten wir nur ein Hundertstel von dem Budget, über das manche Stiftungen verfügen, wäre es viel einfacher. Franz Schultheis, der in Neuchâtel Professor ist, koordiniert in Deutschland alles und leistet fantastische Arbeit. Wir müssen enorm viel Energie aufwenden, um Glaubwürdigkeit hervorzurufen – bei denjenigen, die mit uns arbeiten, aber auch bei denjenigen, die wir erreichen wollen. In Griechenland hat ein einziger junger Mann bereits dreihundert Unterschriften für den Appell gesammelt und die Mittel organisiert, um drei- bis vierhundert Personen für die geplante Tagung in Athen zu empfangen.
»Les Etats Généraux«, die müssen wir erst erfinden; ich hoffe, dass in Athen Texte zur Diskussion gestellt werden, dass kollektive Arbeiten entstehen. Und nachher müssen wir um dieses Ereignis eine Art Mythologie schaffen. Man muss wissen, dass in Athen etwas passiert ist. Dabei wird die Rolle der Journalisten zentral sein. Wenn die Journalisten nur schreiben, das sei wieder so eine Spinnerei von Bourdieu, dann wird uns das schaden.

In Ihrem Buch »Das Elend der Welt« haben Sie gezeigt, dass die Opfer des Neoliberalismus sehr verschiedene Menschen sind und dass sie sehr unterschiedliche Interessen verfolgen. Jetzt wollen Sie eine Bewegung ins Leben rufen, die sich auf universelle Werte beruft: Im Widerstand gegen den Neoliberalismus. Wie bringen Sie das zusammen?

Das ist der große Widerspruch. Doch wir sind gezwungen, diesen Widerspruch zu lösen. Wenn wir nichts machen, werden die Rechtsextremen an Zulauf gewinnen. Ich habe das in einem Text im Zusammenhang mit Haider in Österreich geschrieben: Die Abwesenheit einer Bewegung, die dem Leben einen Sinn gibt, begünstigt den Aufstieg von faschistoiden Bewegungen. Meiner Meinung nach gehört es zu den Funktionen dieser sozialen Bewegung, Le Pen und seine Anhänger zu bekämpfen – es ist nicht ihre Hauptfunktion, aber es ist eine sehr wichtige Nebenfunktion. 1995, als es in Frankreich zur großen Streikbewegung kam, war plötzlich keine Rede mehr von Le Pen. Auch Leute, die für rassistisches Gedankengut anfällig gewesen wären, schlossen sich dieser Streikbewegung an. Es ist wahr, dass die Folgen des Neoliberalismus dramatisch sind: Er atomisiert die Leute, er bringt sie auseinander, er zerstört die Gruppen, die Kollektive, die kollektiven Verteidigungsstrukturen und lässt die Leute isoliert zurück, mit antagonistischen Interessen, mit gegensätzlichen Hoffnungen. All das begünstigt die Entwicklung faschistoider Bewegungen. Mittellose, verzweifelte Leute sprechen auf Populismus an.
Eine der Funktionen einer neuen Bewegung ist es nun, diesen Leuten zu sagen, dass all dies kein Zufall ist, dass es auch nicht die Schuld der Ausländer ist, sondern das Produkt einer Wirtschaftspolitik – einer Politik, die auch anders sein könnte. Gerade am Beispiel der politischen Haltung gegenüber den Immigranten sehen wir ja die Scheinheiligkeit der französischen Sozialisten: Ihre Politik gegenüber den illegal Eingereisten war äußerst hart, und auf die Demonstrationen in den Vororten antworteten sie mit schärfster Repression. Heute führen sie überall in den Schulen strenge ausländerpolizeiliche Kontrollen durch, aber für die Integration der Leute haben sie überhaupt nichts getan. Vor zehn Jahren kritisierte ich Mitterands Scheinheiligkeit, als er den Immigranten sagte: »Ihr seid hier zu Hause!« Zu Hause? Ohne Identitätskarte, ohne nichts?

Liegt der Ursprung Ihres politischen Engagements in Ihrer Arbeit als Forscher für »Das Elend der Welt« oder forschten Sie gerade aus diesem politischen Engagement heraus?

Beides. Als ich die Arbeit begann, wollte ich einerseits eine neue Erhebungsmethode testen, andererseits hatte ich auch politische Absichten. Die Sozialisten waren schon vier, fünf Jahre an der Macht, Wahlen standen an, und ich wollte davor eine Art Bilanz der sozialistischen Aktion ziehen – eine reelle Bilanz. Sicher hat die Arbeit dann bei mir das Gefühl von Dringlichkeit intensiviert. Nachdem ich diese Dinge gesehen hatte – und ich habe viel mehr gesehen, als im Buch steht – wurde es für mich unmöglich, mich nicht einzumischen. (...)

Was für Konsequenzen hatte der Erfolg des Buches in Frankreich?

Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, es hatte sicher einen großen Einfluss. Alle Politiker haben es gelesen, Leute von der Rechten, sogar Jacques Chirac hat mir geschrieben, es war erstaunlich. Viele Politiker waren betroffen, weil kein anständiger Mensch dieses Buch lesen kann, ohne davon betroffen zu sein. Ich bekam auch viele Reaktionen von Intellektuellen, von Schriftstellern. Doch leider glaube ich nicht, dass es wirklich politische Konsequenzen nach sich gezogen hat.

Und wie hat sich »Das Elend der Welt« auf diejenigen ausgewirkt, die darin ihre Geschichte erzählen? Haben sich für diese Menschen neue Perspektiven geöffnet?

Es kommt drauf an. Oft war schon allein die Tatsache, reden zu können, wichtig für sie. Viele haben das übrigens im Buch gesagt. Doch man müsste noch weitergehen. Ich habe da eine Utopie: eine Art Weltgesellschaft für Sozioanalyse zu gründen, wie es sie für die Psychoanalyse gibt. Ich habe im Laufe meiner Arbeit zunehmend festgestellt, dass viele persönliche Dramen, wegen denen die Leute Psychoanalytiker aufsuchen, von Soziologen wenigstens zum Teil behandelt werden könnten. Es gibt so viele arbeitslose Soziologen, die könnten wir ausbilden, damit sie dann in den Krankenhäusern, in den Gefängnissen, in den Schulen, in vielen Institutionen und Kollektiven, den Leuten helfen, ihre persönlichen Probleme anzugehen. Ich denke z.B. an die zahlreichen Eltern, die Probleme mit ihren Kindern haben, weil sie in der Schule scheitern. (...) Die Psychologie und die Psychoanalyse stehen in einer individualistischen Tradition, und wir wollen hier die gesellschaftliche Komponente einführen. – Sie haben mich vorhin gefragt, was die Rolle der Intellektuellen in einer sozialen Bewegung sein könnte: Ich meine, es könnte die Sozioanalyse sein. (...)

Kommen wir auf die Rolle der Gewerkschaften. Sie haben geschrieben: »Der europäische Syndikalismus muss erst erfunden werden.«

Oft wird uns in Zusammenhang mit diesem Projekt vorgeworfen, dass es das alles schon gibt: Es gibt ein europäisches Parlament, es gibt eine europäische Föderation der Gewerkschaften. Ich sage aber: Nichts ist schon gemacht! Scheinbar gibt es in Europa alles, aber in Wirklichkeit gibt es gar nichts. Die europäische Gewerkschaftsföderation ist eine reine Lobby; es gibt keine wirkliche europäische Gewerkschaftsbewegung. Die Frage ist: Wie könnte sich eine solche bilden? Wäre sie eine Föderation der bereits bestehenden Gewerkschaften? Das würde eine Menge Verhandlungen voraussetzen. Aber vielleicht könnte sie auch auf Druck einer Bewegung von Minderheitsgruppen entstehen, die auf europäischer Ebene Kämpfe führen, welche von den Gewerkschaften selber vernachlässigt werden. Wenn wir einen europäischen Syndikalismus wollen, müssen wir Druck machen, um die Gewerkschaften zu einer Veränderung zu zwingen. Dazu brauchen wir Verbündete in den Gewerkschaften selber. Zum Beispiel gibt es in der deutschen IG Metall sehr einflussreiche Leute, die auf unserer Seite sind, in der IG Medien ebenfalls, was kein Zufall ist, weil sich dort die Intellektuellen befinden. Sehr wichtig sind auch die Gewerkschaften der kleinen Länder. Die Griechen spielen eine zentrale Rolle, weil sie ein kleines Land vertreten und sich vielleicht mit den Portugiesen zusammenschließen könnten. Auch die Dänen sind wichtig, und die Schweiz könnte eine interessante Rolle spielen. Man muss den sozialen Kräften helfen. (...)

Nachdem die Charta am 1. Mai der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, was haben Sie als nächstes vor?

Die nächste Etappe werden transnationale Arbeitstreffen sein, in Belgien, in Österreich, in anderen Ländern, um spezifische Punkte der Charta weiter zu entwickeln und um das große Treffen nächstes Jahr in Athen vorzubereiten. Dort sollen dann die Arbeiten der verschiedenen Gruppen diskutiert werden. Natürlich sind auch Publikationen geplant. Wir haben unsere Bücherreihe »Raisons d’agir«: Die Texte liegen ganz frisch in deutscher Übersetzung vor, jetzt sollen sie auch in Englisch erscheinen. Das alles soll zu einem Netzwerk heranwachsen – zu einer Art von gemeinsamem intellektuellem Instrument. Es sind aber auch Interventionen und Stellungnahmen zu bestimmten Problemen vorgesehen: z.B. findet im Herbst in Nizza ein Treffen statt, wenn Frankreich die Präsidentschaft Europas übernimmt. Voraussichtlich werden wir uns dort einmischen.

Zuerst erschienen in: WoZ, Die Wochenzeitung Nr. 19 vom 11. Mai 2000. Das Gespräch führten Stefan Keller und Verena Mühlberger mit dem französischen Soziologen in Paris. Wir danken der WoZ für die Nachdruckerlaubnis.

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