1. November 2008 Redaktion Sozialismus

Verstaatlichung als Königsweg?

Die globale Finanzmarktkrise ist im Frühjahr 2007 ausgebrochen. Milliardenschwere Abschreibungsverluste für die Landesbanken sind bereits aus dem zurückliegenden Jahr bekannt. Gleichwohl haben große Teile der Bevölkerung erst im Zusammenhang mit der Insolvenz der großen Investmentbank Lehman Brothers Mitte September 2008 und den nachfolgend riesigen Notfall-Finanzpaketen der Regierungen und der Notenbanken die Dramatik dieser Krise registriert. Seit dem Herbst 2008 ist die globale Finanzkrise im Alltagsbewusstsein angekommen.

Allerdings handelt es sich dabei mehr um Ahnungen denn um einigermaßen klare Vorstellungen über die zugrunde liegenden Zusammenhänge. Das demoskopische Institut Allensbach konstatiert Ende Oktober 2008: "Die Mehrheit der Bevölkerung ist angesichts der Nachrichten ratlos und verunsichert ... die überwiegende Mehrheit (hat) das Gefühl, ihr fehle jegliche Urteilsbasis. 78 Prozent sind überzeugt, dass das Finanzsystem so undurchsichtig geworden ist, dass es sich dem Verständnis des Bürgers völlig entzieht."[1] Vor diesem Hintergrund entfalten die Hinweise auf die Gier des Managements als vermeintlich entscheidende Krisenursache überhaupt erst ihre Wirksamkeit.

Die komplementäre Seite zur Finanzkrise und der offenkundigen Unklarheit im Alltagsbewusstsein eines Großteils der Bevölkerung sind die energischen Aktionen von Staat und Politik. In Rekordzeit wurden in den Parlamenten der entwickelten kapitalistischen Länder gigantische Rettungspakete durchgewunken. Auch für die meisten Parlamentarier dürfte gelten, dass sie nicht recht übersehen, welchen massiven Staatseingriffen sie da gerade zugestimmt haben. Tendenzen zur Verselbständigung der Staatsapparate haben damit in dieser Krise Fahrt aufgenommen.

Begleitet werden diese staatlichen Rettungsaktionen durch einen großen ideologischen Chor, der den Zusammenbruch des Neoliberalismus verkündet. Innerhalb des bürgerlichen Lagers sehen sich einige Ideologen durch diese Deutung zum Widerspruch herausgefordert. So stimmen beispielsweise Rechtskonservative wie Friedrich Merz und Roland Koch der Notwendigkeit massiver Staatsinterventionen zwar zunächst zu: "Der Staat ist jetzt als Katastrophenschützer tätig, und das Wort Katastrophe ist dabei wörtlich zu nehmen. Ein Übergreifen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft würde zu Unternehmens­pleiten, Millionen von Arbeitslosen allein in Deutschland und zu einem Zerfall des staatlichen Steueraufkommens mit allen Folgen für die Stabilität einer modernen Demokratie führen. In dieser Lage kann nur der Staat den Rückweg zu einem funktionierenden Markt ebnen."[2] Nach dieser Nothelferphase aber müsse – so diese rechtskonservative Strömung – der Staat sich wieder aus den wirtschaftlichen Prozessen herausziehen und könne nur mehr als Garant einer Regulationsstruktur wirken.

Für das Scheitern des "Raubtierkapitalismus" wollen sich diese Rechtskonservativen nicht in Haftung nehmen lassen. Nüchtern schätzen sie ein: "Die globale Lage wird politisch und ökonomisch instabiler. Im Verlauf dieser Entwicklung wird sich die Kritik am Kapitalismus noch einmal verschärfen, zumal einige Manager mit ihrer Gier und ihren halsbrecherischen Aktionen auf den Kapitalmärkten zu dieser Kritik geradezu einladen. Möglicherweise werden wir in eine längere Phase wirtschaftlicher Schwierigkeiten und politischer Kontroversen eintreten, die es in sich haben."[3] Von Selbstkritik oder gar Resignation ist hier nichts zu spüren. Im Gegenteil: Bei dieser Strömung des bourgeoisen Lagers existiert ein klares Bewusstsein darüber, dass man es nicht einfach mit einer ökonomisch-finanziellen Krise, sondern einer tiefen Erschütterung der bürgerlichen Werteordnung zu tun hat.

Die Reorganisation der eigenen Reihen zielt darauf, in den nächsten Jahren die Parole "Mehr Kapitalismus wagen" in konkrete Gesellschaftsveränderung umzusetzen. Dabei setzen die Anhänger der "freiheitlichen Ordnung" auch darauf, dass die massiven Staatseingriffe nach einiger Zeit wegen bürokratischer Fehlentwicklungen negative Schlagzeilen machen und damit die Voraussetzungen für eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft geschaffen werden.

Der aktuellen Akzeptanz einer massiven Staatsintervention wird die Eigenverantwortung der BürgerInnen gegen­übergestellt, die – im geregelten Rahmen einer Zivilgesellschaft – stets bessere Lösungen zu Wege gebracht hätte. Die Forderung nach einer Ausweitung der Staatsintervention in Richtung auf eine EU-Wirtschaftsregierung, einer globalen Initiative zur Reform der Wirtschafts- und Finanzordnung (Bretton Woods II) und einem New Deal für das 21. Jahrhundert zur Verhinderung einer weltwirtschaftlichen Krisenentwicklung wie 1929ff. wird, wenn nicht abgeblockt, so doch eindeutig nicht befürwortet.

Aus dem aktuell notwendigen Krisenmanagement des Staates auf dem Finanzmarkt dürfe nicht der falsche Schluss gezogen werden, dass wir eine Ausweitung der Regulation auf Europa und eine neue weltweite Währungs- und Finanzarchitektur benötigten. Auch das Vorbild des New Deals in den USA unter Präsident Roosevelt dürfe nicht zur Beurteilung der gegenwärtigen Entwicklungsdimensionen der Globalkrise herangezogen werden. "Weil der New Deal der unsichtbaren Hand des Marktes misstraute und eine ›mixed economy‹ bevorzugte, musste er in Kauf nehmen, was ursprünglich gar nicht beabsichtigt war: einen autoritären Staat, der mit anmaßendem Wissen die Wirtschaft steuert und – trotz prinzipieller Achtung des Privateigentums – vor Enteignung nicht zurückschreckte ... Dass der New Deal Amerika aus der Wirtschaftskrise befreit habe, ist ein Mythos. Im Gegenteil: Er hat die wirtschaftliche Misere verlängert ... Nicht der Sozialkapitalismus des New Deal, sondern das gigantische Nachfrageprogramm, das der große Weltkrieg bedeutete, brachte dem Land schließlich die wirtschaftliche Erholung."[4]

Keine Frage: Die Auseinandersetzung über die gesellschaftspolitische Deutung der globalen Finanzkrise ist gerade erst eröffnet. Für die große Mehrheit der Bevölkerung steht außer Frage, dass der Staat das Bankenwesen stärker kontrollieren und regulieren muss. Ein wichtiger Hintergrund: Zwar hat die Mehrheit der Bevölkerung nur ein äußerst geringes Vermögen, gleichwohl machen sich 52% Sorgen, ob die Sparrücklagen sicher sind. Hinter diesen Sorgen stehen vor allem, dass viele BürgerInnen auf ergänzende Sicherungssysteme gesetzt haben, mit denen über privatkapitalistische Anlageinstrumente und Versicherungen die Beschädigung der staatlichen, auf Umverteilung basierenden Sicherungssysteme kompensiert werden sollte. Zu Recht konstatiert das Institut für Demoskopie: "Noch nicht zu überschauen sind ... die Auswirkungen auf das Weltbild und das Systemvertrauen der Leute. Nur zu deutlich zeigt die Krise, dass freiheitliche Systeme vor allem von denen diskreditiert und damit unterminiert werden, die Freiheitsräume überdehnen und missbrauchen."[5]

Die globale Finanzkrise hat die kapitalistische Gesellschaftsordnung in den Grundfesten erschüttert. In den USA summieren sich die diversen Notoperationen zur Rettung von Kredit- und Bankensystem sowie der Konjunktur der Realökonomie auf 1,7 Bio. US-Dollar. In einer entsprechenden Größenordnung haben die europäischen Länder auf diese Systemkrise reagiert. Gleichwohl: Der Schwerpunkt der Notmaßnahmen liegt im Bereich der Stützung der Banken und des Kreditkreislaufes.

Der eigentliche Kern der Krise aber sind die notleidenden Hypothekenkredite. Wegen des anhaltenden Preisverfalls bei Immobilien nicht nur in den USA, sondern auch in den anderen Ländern mit einem übersteigerten Immobilienbereich (Irland, Spanien, Großbritannien) expandiert der Krankheitsherd. Durch die Abschwächung der Realökonomie, d.h. rückläufige Beschäftigung und Einbußen bei den Einkommen der privaten Haushalte, spitzt sich die Entwicklung weiter zu. Neben den Hypothekarkrediten sind die privaten Haushalte auch durch Kreditkartenschulden und sonstige Raten- oder Konsumentenschulden extrem belastet (ca. 2,6 Bio. US-Dollar).

Die Schranken der Schuldenökonomie, die einsetzende Tendenz der Konsumzurückhaltung angesichts der ökonomischen Unsicherheit und die Rückwirkungen über den Arbeitsmarkt sind die wichtigsten Faktoren einer einsetzenden Kontraktionsbewegung der Binnenökonomie. Die meisten Ökonomen raten daher der Administration in den USA zur Auflage eines weiteren Konjunkturprogramms.

Die politische Klasse bleibt allerdings gefangen in der Logik des Finanzsystems. In der Abwehrschlacht gegen die Abschreibungen auf "toxische" Wertpapiere und rückläufige Eigenkapitalquoten bleiben die Nöte der privaten Haushalte und die Realökonomie auf der Strecke. In der Tat ist mit der Verstaatlichung oder Teilverstaatlichung der Finanzinstitute allein relativ wenig gewonnen. Denn der Großteil der Bevölkerung macht seine Bewertung der staatlichen Interventionen davon abhängig, in welcher Weise diese Maßnahmen zu einer Zurückdrängung der Unsicherheit für die privaten Haushalte beitragen. Vorrangig für eine linke Konzeption einer Antikrisenpolitik sind deshalb:

  Aussetzung der Zwangsversteigerungen, Stabilisierung der Hypothekenkredite;

  Sicherung der Ersparnisse, der Lebensversicherungen und der Zusatzrenten zu den staatlichen Umverteilungssystemen;

  Stabilisierung der Binnenkonjunktur durch öffentliche Investitionsprogramme;

  funktionierende Kredite über das regionale Sparkassennetz;

  Reorganisation der Einnahmen für die öffentlichen Haushalte; Rücknahme der Steuersenkungspolitik zugunsten von Unternehmen und Vermögenden, also Wiedererhebung der Vermögenssteuer und Etablierung wirksamer Steuersätze für den Unternehmensbereich.

Die politische Linke ist herausgefordert. Sie wird eingeladen, sich ohne weitere Überlegungen der Parole der Verstaatlichung zu bedienen. Aber die Ausweitung des staatlichen Einflusses alleine ist keine zukunftsträchtige Antwort. Die Ausdehnung öffentlicher Einflussnahme muss an klare Auflagen mit sozialen Komponenten gekoppelt werden – gerade im Banken- und Sparkassenbereich. Damit kann eine moderne Linke bei einer Antikrisenpolitik auch ArbeitnehmerInnen, die über Ersparnisse und Kleinvermögen für ihre soziale Sicherung (vor)sorgen, einbinden und verhindern, dass sie von möglichen rechtspopulistischen Emeuten angezogen werden.

Schrittweise muss die Kapitalisierung auf dem Gebiet der Alters- und Lebensversicherung von den Kapitalmärkten zurückgenommen und an das Sparkassensystem vor Ort rückgebunden werden. Weitergehende Privatisierungen müssen gestoppt und das staatliche Umlagesystem renoviert und wieder gestärkt werden. Staatliche Interventionen oder (Teil-)Verstaatlichung können aber nur einen ersten Schritt darstellen zur Öffnung für eine Veränderung des Wertschöpfungsprozesses selbst. Dieser hat sich mit dem Nachkriegsfordismus zu einer Überschussproduktion entwickelt, die allererst weitergehende politische und sozialstaatliche Umverteilung für die privaten Haushalte und die öffentliche Infrastruktur ermöglichte. Der neo­liberale Finanzmarktkapitalismus hat die­se Strukturen deformiert und durch rabiate Marktöffnungsprozesse die profitratengesteuerte Surplusproduktion dem Regime der Vermögensbesitzer unterworfen. Diese einseitige Verteilung der Produktivitätsgewinne in der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion zur Bedienung und weiteren Verwertung von Vermögens- und Besitztitelansprüchen muss gebrochen werden und die Gesellschaft ihren Einfluss zu einer rationellen Steuerung dieser Surplusproduktion zurückgewinnen.

Unter Berücksichtigung einer Pluralität von Eigentümerpositionen lässt sich eine solche "Zivilisierung" des Wertschöpfungsprozesses keineswegs auf einem einfachen Weg von Verstaatlichung bewerkstelligen, sondern nur in einem zivilgesellschaftlich ausgestalteten politischen Prozess. Angesichts der gegenwärtig bedenklichen Verselbständigungstendenzen des Staates als Antwort auf ein unaufgeklärtes Sicherheits- und Krisenbewusstsein in der Gesellschaft würde die Beschränkung auf eine Politik der Verstaatlichung aufseiten der Linken die Passivität und Subalternität der Bevölkerung nur fortschreiben.

An einer solchen beschränkten Konzeption scheiterte auch schon der staatssozialistische Entwicklungsweg im zurückliegenden Jahrhundert. Linke Antikrisenpolitik muss mit Aufklärung und Stärkung von Handlungsfähigkeit der durch die Krise subaltern gehaltenen Menschen verknüpft sein. Denn gerade in der gegenwärtigen Konstellation entscheidet eine solche soziale Dimension der Krisenbewältigung und die damit gewonnene Fähigkeit zur Reorganisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses über die Zukunft der gesellschaftlichen Opposition zum Kapitalismus.

[1] Renate Köcher, Wasser auf die Mühlen der Linken, FAZ 22.10.08
[2] Roland Koch, Versagt hat nicht die Marktwirtschaft, FAZ 22.10.08
[3] Friedrich Merz, Mehr Kapitalismus wagen, München 2008, S. 17
[4] Rainer Hank, Die neue Sehnsucht nach einem New Deal, FAS 19.10.08
[5] Köcher, a.a.O.

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