23. Dezember 2011 Gerhard Zahler-Treiber

Verwinkelte Wege zur sozialistischen Gesellschaft: Otto Bauer (1881-1938)

Der am 5. September 1881 in Wien als Sohn eines jüdisch-böhmischen Textilfabrikanten geborene Otto Bauer wird in der österreichischen Sozialdemokratie gerne an Jahrestagen geehrt. So auch heuer zum Jahrestag seines 130. Geburtstages.

Aber mit dem Politiker und Denker Otto Bauer beschäftigt man sich heute nur noch wenig. Mit dem Mann, der Glück und Ende der österreichischen Sozialdemokratie während der Zwischenkriegszeit maßgeblich mitgeprägt hat, sind zu viele schmerzliche Erinnerungen verbunden.

Auf der einen Seite stehen die Erfolge der sozialdemokratisch geprägten Sozialreformen nach der Republiksgründung 1918 (Betriebsrätegesetz, Arbeiterkammergesetz, Arbeitslosenversicherung usw.), die nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonar­chie mit dem Blick nach Russland wegen der Furcht der bürgerlichen Parteien vor einem revolutionären Umsturz zur Räteherrschaft ermöglicht wurden. Vor allem aber steht Otto Bauer auch für die Zeit der Errungenschaften des »roten Wien« im kommunalen Wohnungsbau und im Aufbau einer Gegenkultur zur bürgerlichen Gesellschaft zwischen 1919 und 1931, die international bis heute große Bewunderung finden.

Auf der anderen Seite wird mit Otto Bauer die fruchtlose Zeit in der Opposition von 1920 bis 1933 auf nationaler Ebene verbunden – und der lange Weg zum Austrofaschismus. Zwar glänzt die Sozialdemokratische Arbeiterpartei im Parlament immer wieder verbal mit radikalen Reden – Otto Bauer ist dabei eines der eloquentesten Beispiele – und revolutionärer Programmatik (siehe das Linzer Programm von 1926), die den Weg zur sozialistischen Gesellschaft vorzeichnet. Aber wenn es um konkrete Handlungen geht, ist die Partei unter der Führung von Otto Bauer stets zögerlich und abwartend. So verabsäumt es die Führung der SDAP, zu einer Großdemonstration aufzurufen, als nach den tragischen Ereignissen von Schattendorf (im Burgenland) am 14. Juli 1927 (wo ein Kind und ein Kriegsversehrter zu Tode kamen) die angeklagten Schützen der Heimwehrler (paramilitärische Organisation der Christlich-Sozialen Partei) freigesprochen werden. Somit müssen die Verantwortlichen der Partei den Ereignissen des 15. Juli ziemlich hilflos zusehen, wie nach dem Wiener Justizpalastbrand die Polizei wahllos in die Menge schießt und 89 Tote zurückbleiben. Einmal mehr bleibt Otto Bauer nicht mehr zu tun, als in seiner Parlamentsrede das Vorgehen der Polizei anzuklagen und den österreichischen Bundeskanzler Seipel von der Christlich-Sozialen Partei einen »Prälat ohne Milde« zu nennen.

Als dessen Nachfolger Dollfuß nach der so genannten Geschäftsordnungskrise vom 4. März 1933 das Parlament am 15. März 1933 nicht mehr zusammenkommen lässt, verabsäumt es Bauer, wie vorgesehen, den Generalstreik auszurufen. In kleinen Schritten werden anschließend die SDAP und die freien Gewerkschaften immer stärker an ihrer Arbeit behindert. Österreich schlittert langsam in die »austrofaschistische« Diktatur des Ständestaates, ohne dass die sozialdemokratische Partei entschiedene Schritte zur Verhinderung dieses Weges setzt.

Als nach einer versuchten Durchsuchung in der Linzer Parteizentrale im Hotel Schiff am 12. Februar 1934 gegen den Willen der Parteiführung viel zu spät der Kampf gegen die Ausschaltung des republikanischen Schutzbundes aufgenommen wird, ist die österreichische Sozialdemokratie durch die Demoralisierung aufgrund der schweren Wirtschaftskrise schon zu geschwächt, um länger Widerstand leisten zu können. Den schlecht bewaffneten ArbeiterInnen stehen ein mit schwerer Artillerie ausgerüstetes Bundesheer sowie eine unerbittliche Polizei und gut bewaffnete paramilitärische Kräfte gegenüber. Otto Bauer muss, um der Verhaftung und befürchteten Hinrichtung zu entgehen, in die angrenzende Tschechoslowakei flüchten. Am 15. Februar ist der »Aufstand der österreichischen Arbeiter« niedergeschlagen.

Von Brünn aus gibt Bauer weiterhin die Arbeiterzeitung heraus und gründet zur Unterstützung der österreichischen Genossen das »Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie«. International bemüht er sich um Kontakte mit den Kommunisten, um den gemeinsamen Kampf gegen den Faschismus zu führen. Er erkennt nun klar, dass der Nationalsozialismus den Weltkrieg vorbereitet.

In seinen letzten Schriften sucht Bauer nach neuen Wegen, wie dennoch der Sozialismus seinen Siegeszug antreten kann. Als nach dem Anschluss Österreichs die Arbeit in der Tschechoslowakei nicht weiter fortgesetzt werden kann, übersiedelt Bauer im Mai 1938 nach Paris, wo der passionierte Kettenraucher am 4. Juli 1938 nach einem Herzinfarkt stirbt.

Neben den »unglücklichen Politiker« Bauer, der stets die Größe hatte, eigene Fehler einzugestehen, gesellt sich jedoch der große Denker der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Der bedeutendste Vertreter des Austromarxismus wirft sich schon mit knapp 27 Jahren mit seinem ersten Hauptwerk »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie« (1908) mitten in die Debatte zu einem der schwierigsten Themen für die Sozialdemokratie dieser Zeit. Mit einem differenziert ausgefeilten marxistischen Instrumentarium entwickelt er eine sozialdemokratische Sicht auf eine der Grundfragen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und das gewichtigste Problem der Habsburgermonarchie. Mit dem Begriff der »Kulturnation« bemüht er sich darum, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen mit der Internationalität des Proletariats auszusöhnen.

Nach seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft bis zu seinem Tod hat sich Otto Bauer immer wieder kritisch mit der Entwicklung der Russischen Revolution und dem Bolschewismus auseinandergesetzt. Seine Haltung blieb stets ambivalent, da er einerseits die terroristischen und diktatorischen Züge des Bolschewismus ablehnte, andererseits aber doch auch immer wieder von den Fortschritten der Sowjetunion bei der Industrialisierung fasziniert war. Bis zuletzt (siehe seine letzte Schrift »Die illegale Partei«) hegte er die Hoffnung, dass die Sowjetunion ihren diktatorischen Charakter schließlich überwinden und den Weg des demokratischen Sozialismus einschlagen werde, um gemeinsam mit der Sozialdemokratie den Faschismus hinwegzufegen. Seine Hoffnung in den »integralen Sozialismus« hat sich bis zum Zusammenbruch des Realsozialismus nicht erfüllt.

Sein zweites Hauptwerk, »Die österreichische Revolution« (1923), ist eine historische Meisterleistung, da es Otto Bauer hier gelingt, schon wenige Jahre nach den Ereignissen ein umfassendes Bild der revolutionären Ereignisse zwischen 1917 und 1919 zu zeichnen. Die Besonderheit dieser Schrift ist die Sichtweise, die Gründung der Republik Österreich als revolutionäres Geschehen einzuordnen. Bis zum heutigen Tag ist seine Einschätzung umstritten, dass für Österreich die Schaffung der Republik die einzig verwirklichbare Zielsetzung war und die Gründung einer Räterepublik wie in Bayern oder Ungarn aufgrund der historischen Umstände vollkommen aussichtslos gewesen wäre.

Die während der Weltwirtschaftskrise verfasste Schrift »Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg. Erster Band: Rationalisierung – Fehlrationalisierung« (1931) sollte der erste Band eines mehrbändigen Zyklus zur Analyse des modernen Kapitalismus werden, den Bauer jedoch aufgrund der Ereignisse im Februar 1934 nicht fortsetzen konnte, da er viele seiner Notizen dafür zurücklassen musste. Bauer analysiert in diesem Werk fundiert, wie in Nachfolge des Taylorismus die Rationalisierung der Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts große Fortschritte macht und dadurch eine Reduktion der Arbeitszeit ermöglicht, nach dem Ersten Weltkrieg jedoch in eine Überproduktionskrise mündet, weil die Rationalisierung für die Industrie zugleich eine Fehlrationalisierung für die Gesellschaft bedeutet. Denn durch die gesteigerte Produktivität werden weniger ArbeiterInnen benötigt, um die gleiche Menge an Gütern zu erzeugen. Die Kosten für die dadurch gestiegene Arbeitslosigkeit tragen jedoch nicht die Unternehmen, sondern diese müssen von der Gesellschaft übernommen werden.

Bauer hat auch eine Reihe anderer Schriften zu Wirtschaftsfragen und zur Kapitalismusanalyse verfasst (z.B. »Die Teuerung«, »Das Finanzkapital«). Die­se Schriften sind von einer eigentümlichen Mischung aus neoklassischer Freihandelslehre (Bauer studierte ja Nationalökonomie in der Wiener Schule der Jahrhundertwende) und marxistischer Analyse geprägt, die ihn immer wieder zwischen der Vorstellung eines stabilen Kapitalismus und einem Kapitalismus, der von schweren Krisen heimgesucht wird, schwanken ließ. Obwohl seine Untersuchungen mit feinziselierten Betrachtungen der ökonomischen Entwicklung glänzen, fehlt ihnen der Keynessche Ansatz, der durch Unsicherheit verursachten kapitalistischen Instabilität durch staatliche Eingriffe zur Anregung von Nachfrage entgegenzuwirken.

Sein letztes Hauptwerk, »Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus« (1936), verfasste Otto Bauer im Banne des Vormarsches des Faschismus in Europa. Er zeichnet darin zugleich ein düsteres und hoffnungsvolles Bild von den zukünftigen Möglichkeiten des Sozialismus. Bauer sieht nun zwar völlig klar, dass Hitler die Welt in einen furchtbaren Krieg stürzen wird und die Chancen für einen erfolgreichen sozialdemokratischen Widerstand in den faschistischen Regimes wenig hoffnungsvoll sind. Aber dennoch ist er noch immer vom Siegeszug der Sozialdemokratie überzeugt. Neue Möglichkeiten für die Verwirklichung des Sozialismus ortet er in den Wirren des kommenden Krieges und der danach kommenden Ära der Erschütterung. Die dann noch möglichen Wege zeichnet er akribisch nach – unter Einbeziehung aller Verwinkelungen und Sackgassen, die dazu gehören werden.

Auch wenn sich seine Hoffnungen während und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht erfüllt haben, bleibt der Denker Otto Bauer das intellektuelle Leuchtfeuer des Austromarxismus, dessen unerschütterlicher Glauben an die Möglichkeit der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft allen aufrechten Sozialdemokraten ein Vorbild bleiben sollte. Auch wenn viele seiner Schriften in den historischen Umständen ihrer Entstehung befangen sind, verdienen sie es, nicht in den Archiven zu vermodern, sondern in unserem Denken lebendig erhalten zu bleiben, damit auch wir einmal sagen können, dass wir unerschütterlich den Weg zur sozialistischen Gesellschaft verfolgt haben.

Werke (Auswahl)

  • Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1908
  • Die Teuerung, Wien 1910
  • Die Russische Revolution und das europäische Proletariat, Wien 1917
  • Der Weg zum Sozialismus, Berlin 1919
  • Rätediktatur oder Demokratie?, Wien o.J.
  • Die Sozialisierungsaktion im ersten Jahre der Republik, Wien 1919
  • Bolschewismus oder Sozialdemokratie?, Wien 1920
  • Die österreichische Revolution, Wien 1923
  • Der Kampf um Wald und Weide, Wien 1925
  • Sozialdemokratische Agrarpolitik, Wien 1926
  • Sozialdemokratie, Religion und Kirche, Wien 1927
  • Revolutionäre Kleinarbeit, Wien 1928
  • Kapitalismus und Sozialismus nach dem Weltkrieg. Erster Band: Rationalisierung – Fehlrationalisierung, Berlin 1931
  • Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Seine Ursachen und seine Wirkungen, Prag 1934
  • Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus, Prag 1936
  • Die illegale Partei, Paris 1939 (posthum)
  • Einführung in die Volkswirtschaftslehre, Wien 1956 (posthum)

Gerhard Zahler-Treiber (Wien) hat Philosophie studiert und ist in der Österreichischen Gewerkschaftsbewegung sowie in der Sozialdemokratischen Partei Österreichs aktiv.

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