1. April 2007 Sophie Dieckmann, Steffi Graf, Matthias Klenk, Sarah Nagel, Jan Schalauske, Katharina Volk, Luigi Wolf und Simon Zeise

Vom SDS lernen heißt...

Ende Januar hatten über 500 Studierende den "Hochschulkongress für eine neue Linke" in Frankfurt/M. besucht, zwei Wochen später wurde die Gründung eines Hochschulverbandes beschlossen. Vom 4.-6. Mai wird die Gründungskonferenz in Frankfurt stattfinden. Entstanden aus dem Impuls der parteiförmigen Neuformierung der Linken, weckten Ort und Geist des Kongresses alte Gespenster: Gründet sich hier ein neuer SDS?[1]

Im Folgenden werden wir – Aktive aus Hochschulgruppen der Neuen Linken – erläutern, weshalb der Hochschulverband der Linken jenseits seines Namens vor allem eins braucht, um erfolgreich zu sein: SDS-Politik.

Ist mit dem Traditionsbezug auf den SDS jetzt eine Wiederholung der Geschichte als Farce zu befürchten, nachdem schon der erste Versuch als Tragödie endete? Mitnichten! Die Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) ist – trotz seiner Auflösung 1970 – keine Tragödie. Im Gegenteil: Sie ist das erfolgreichste Beispiel einer sozialistischen Studierendenorganisation in der deutschen Geschichte.[2] Ein neuer linker Hochschulverband kann viel gewinnen, wenn er an die Stärken des SDS anknüpft. Und er hat viel zu verlieren, wenn er die Schwächen wiederholt. Wir streben keine dogmatische Kopie einer Organisation an, die in einer anderen Zeit, unter anderen Umständen existierte, sondern ein Destillat aus den positiven Elementen des SDS, die unseres Erachtens heute (wieder) aktuell sind.

Welche Stärken hatte also der SDS aus unserer Sicht, an die ein linker Hochschulverband heute anknüpfen sollte? Denn es ist Zeit für einen neuen sozialistischen, demokratischen Studierendenverband.

1. Der SDS trug entscheidend zur Dynamik einer studentischen Massenbewegung bei und prägte ihre politische Orientierung.

In der Bundesrepublik Deutschland war der SDS ein wichtiger Akteur, Agitator und Antreiber der 68er-Bewegung. Die Mitglieder des SDS initiierten erste Aktionen gegen den Vietnamkrieg und unterstützten den Protest der Studierenden gegen Zwangsexmatrikulation, Berufsverbote und die Einschränkung studentischer Rechte. Als der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bundesweit für Empörung sorgte, rief der SDS überall zu Demonstrationen auf, artikulierte und organisierte den Protest. Doch die Funktion des SDS war nicht nur die eines Initiators von Aktionen. Der Verband trug maßgeblich dazu bei, dass 1968 nicht nur eine Revolte gegen "das Establishment", eine kulturelle Erneuerung steifer, miefiger Bürgerlichkeit wurde, sondern eine antikapitalistische Bewegung, die eine Generation neuer linker Akteure hervorbrachte. Die Deutungsmuster des SDS, d.h. seine marxistischen Positionen, wurden zu einem Orientierungspunkt sich radikalisierender Studierender. Dadurch gewann die Bewegung an Schärfe und Zuspitzung, sie wurde tiefgreifender und nachhaltiger.

Ein linker Hochschulverband steht heute vor ähnlichen Aufgaben. Seit Mitte der 1990er erleben wir immer wieder eruptive Ausbrüche von Protesten gegen Studiengebühren, gegen Kürzungen an den Universitäten. Diese sind jedoch in der Regel spontan, bunt, ein wenig anti-neoliberal und kurzlebig. Aber ein diskontinuierliches Aufbäumen gegen die Auswirkungen des neoliberalen Umbaus an den Hochschulen reicht nicht aus. Auch heute braucht eine studentische Bewegung Organisation und Orientierung.

2. Der SDS verband in seiner Praxis Aufklärung und Aktion. Dadurch konnte Theorie eine produktive Ressource für die Revolte werden.

Der SDS war Anfang der 1960er Jahre ein Verband, der sich durch eine relativ praxisferne Theoriediskussion auszeichnete. Schon kurze Zeit später verwandelte sich die intellektuelle Arbeit in eine entscheidende Stärke des Verbandes. Als Tausende von Studierenden sich nach links bewegten, konnte er dazu beitragen, die Kritik theoretisch zu fundieren. Kapitalismuskritische Argumente konnten erklären, warum die Hochschulen immer stärker entsprechend den Anforderungen kapitalistischer Rationalität umgebaut wurden (Zwangsexmatrikulation), warum die USA in Vietnam Krieg führten und warum und wie z.B. diese beiden Phänomene zusammenhingen. Zudem stärkten die kollektiven Diskussionen im Verband das individuelle Selbstbewusstsein der Aktiven, die so in die Lage versetzt wurden, die Autorität von Professoren und "bürgerlicher" Wissenschaft zu hinterfragen.

Exemplarisch trat diese Stärke beim ersten großen Sit-in an der FU Berlin im Sommersemester 1966 in Erscheinung. Es handelte sich dabei um ein spontanes Aufbegehren, das sich gegen angedrohte Zwangsexmatrikulationen in der juristischen und medizinischen Fakultät richtete. SDS-Mitglieder initiierten ein Sit-in vor den Räumen des geschlossen tagenden Akademischen Senats. An Ort und Stelle wurde eine Diskussion unter den knapp 3.000 Studierenden organisiert, die insgesamt zehn Stunden dauerte. SDS-Mitglieder konnten aufgrund ihrer vorausgegangenen theoretischen und analytischen Diskussionen "spontan" über die Hintergründe der Hochschulreform und ihres gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs referieren. Am Ende verabschiedeten die traditionell konservativen Mediziner und Juristen eine Resolution, in der es hieß, dass der Konflikt an der FU Teil eines Konflikts in der Gesellschaft ist, "dessen Zentralgegenstand weder längeres Studium noch mehr Urlaub ist, sondern der Abbau oligarchischer Herrschaft und die Verwirklichung demokratischer Freiheit in allen gesellschaftlichen Bereichen".[3]

Dieses Beispiel verdeutlicht im Konkreten, welche bedeutende Rolle der SDS in der gesamten 68er-Bewegung spielen konnte. Er war treibende Kraft, mittendrin in der Revolte und konnte gleichzeitig eine Verbindung zwischen den unmittelbaren Anlässen des Protestes und einer allgemeinen Kritik der Gesellschaft vermitteln. Der SDS rief zu zahlreichen z.T. provokanten Protestaktionen auf und veranstaltete Lesekreise, in denen theoretische Grundlagen für die Aktivitäten gelegt wurden. Im Rahmen der Kritischen Universität mit insgesamt 33 studentischen Arbeitskreisen sowie der Anti-Springer-Kampagne wurden ab 1967 Ansätze einer Gegenöffentlichkeit geschaffen. Dadurch erreichten die Positionen des SDS – vermittelt durch Aktivitäten, Publikationen und die Berichterstattung der Medien – eine enorme Reichweite und etablierten sich als konkurrierendes Deutungsmuster gegenüber der affirmativen Lehre an den Universitäten und den Medien, insbesondere der Springer-Presse. In einer Blitzumfrage, die der "Spiegel" Anfang 1968 unter Jugendlichen durchführte, antworteten 67% der Befragten, dass sie die studentischen Demonstrationen gut fänden und 27% erklärten, mit den Ideen Rudi Dutschkes übereinzustimmen. Eine neue Generation von Kapitalismuskritikern war geboren. SDS im 21. Jahrhundert bedeutet: Eine Organisation, die den Protest theoretisch reflektiert und unterfüttert sowie Gegenöffentlichkeit schafft.

3. Die Analyse der Hochschulen ermöglichte dem SDS ein neues Verständnis studentischer Politik: Studierende sind Subjekt politischer Veränderungen. Die Durchsetzung ihrer Interessen steht in einem Wechselverhältnis mit Bewegungen außerhalb der Hochschulen.

Die Verbindung von Theorie und Praxis, die den SDS zum Agens der 68er-Bewegung machte, hing mit der präzisen Analyse der Funktion der Hochschulen zusammen, die der SDS in den 60er Jahren entwickelt hatte. Schon 1962 veröffentlichte der SDS die Denkschrift "Hochschule in der Demokratie", in der in Zusammenarbeit mit verschiedenen kritischen Wissenschaftlern eine Bestandsaufnahme der Veränderungen im Bildungssystem entwickelt wurde.[4] Die Denkschrift beschrieb, wie das Hochschulbildungswesen auf den Wandel des deutschen Kapitalismus zugeschnitten wurde und damit in partiellen Widerspruch zu den Interessen der Studierenden geriet.

In den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hatte sich die Zahl der Studierenden in großem Umfang erhöht. Dies ging auf den zunehmenden Bedarf der Industrie nach akademisch ausgebildeten Fachkräften zurück. Dies und die widersprüchlichen, potenziell konfligierenden Anforderungen von Wirtschaft und Studierenden an Bildung bildete die Grundlage für die Proteste. Was heute relativ alltäglich ist, hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Vor 1968 gab es keine linke Studierendenbewegung. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Hochschulbildung auf die Angehörigen der reichsten Schichten beschränkt. Die dominante politische Kultur an den Hochschulen war elitär und konservativ. Eine lebendige, linke Interessenvertretung gab es nicht und die Bildungsexpansion brachte nur eine geringe Öffnung der Hochschulen für Kinder aus Arbeiterfamilien.

Da der SDS eine Analyse der Veränderungen an den Hochschulen entwickelte, konnte er politisch darauf reagieren. Der SDS emanzipierte sich von einem Selbstverständnis, nach dem die Rolle von Studierendenorganisationen ausschließlich in der Repräsentation in universitären Gremien liegen sollte, oder in der Einspeisung hochschulpolitischer Anträge in eine parlamentarische Partei. Ihm ging es darum, die Selbstaktivität der Studierenden zu fördern und aus der eigenen hochschulpolitischen Fixiertheit herauszutreten. Dies wurde im Kontext mit der Entstehung des gesamtgesellschaftlichen Protestes gesehen. Ab 1967 fand diese Orientierung in der Gründung von Stadtteil- und Basisgruppen einen organisatorischen Ausdruck. Die Hochschulen wurden als Ausgangspunkt für die Revolutionierung der gesamten Gesellschaft gesehen.

Der derzeitige Umbau des Bildungssystems ist ein wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Gegenreform. Auch heute stehen sie in engem Zusammenhang mit den Anforderungen der Marktökonomie. Zugleich erfolgt eine Umstrukturierung der Lohnarbeit, deren wesentliches Merkmal die zunehmende Unsicherheit der Arbeitsverhältnisse ist. Die heutigen Anforderungen der Wirtschaft rufen neue Konflikte hervor, die aber bisher weder politisch artikuliert noch in Protest umgemünzt werden. Eine klare Analyse der Veränderungen an den Hochschulen, in der diese ins Verhältnis zum neoliberalen Umbau der gesamten Gesellschaft gesetzt werden, kann die Proteste der Studierenden mit Gegenbewegungen außerhalb der Universitäten verbinden. Noch existiert eine solche Zeitdiagnose nicht.[5] Ein neuer Hochschulverband müsste sich, wie der SDS seinerzeit, dieser Aufgabe annehmen. Selbst wer heute nur vom Wetter spricht, kann über den Kapitalismus nicht schweigen.

4. Der SDS konnte Rückgrat einer allgemeinen Revolte werden, weil er den gemeinsamen Ursprung verschiedener Probleme artikulierte und den Protest in der Praxis zusammenband. Durch antikapitalistische Orientierungen konnte die Begrenztheit von Single Issue Kampagnen überwunden werden. Dabei war der SDS kreatives Labor eines emanzipatorischen Marxismus und Sammelbecken der linken Intelligenz.

Die Stärke der 68er-Bewegung lag darin, dass sie eine umfassende Veränderung der Gesellschaft anstrebte. Die Proteste der Studierenden entzündeten sich oft an einzelnen Missständen, wie dem Umbau der Hochschulen oder dem Vietnamkrieg. Im Laufe der Bewegung bildete sich jedoch ein geschärftes Bewusstsein darüber heraus, dass diese Probleme systemische Ursachen hatten. Die Kapitalismuskritik des SDS leistete einen wichtigen Beitrag hierfür. Diese theoretische Grundlage bedeutete in der Praxis, dass der SDS verschiedene Auseinandersetzungen zusammenband und deren Zusammenhänge benennen konnte. Verschiedene Protestaktivitäten verdichteten sich so zu einer allgemeinen Revolte. Der SDS fungierte als organisatorischer und intellektueller Überbau, der einzelne Missstände als Teil der kapitalistischen Gesellschaftsordnung interpretierte und sie so aus ihrem partikularen Fokus löste.

Die kreative Anwendung marxistischer Theorie hing mit der lebendigen und unabhängigen Debattenkultur im SDS zusammen. Der SDS distanzierte sich klar vom Antikommunismus der Adenauerzeit, über das Verhältnis zum real existierenden Sozialismus wurde heftig gestritten. Gleichzeitig vollzog der SDS die von der SPD mit dem Bad Godesberger Programm 1959 betriebene Anpassung an die kapitalistischen Verhältnisse nicht mit. Nach dem Rausschmiss aus der SPD 1961 entwickelte sich im SDS eine rege Diskussion über eine zeitgemäße, sozialistische Strategie. Die Spannbreite der vertretenen theoretischen Bezugspunkte reichte von den marxistischen Klassikern wie Luxemburg, Lenin und Trotzki bis zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und den Theoretikern der antiimperialistischen Befreiungsbewegungen. Zu den Neuentdeckungen gehörten die Rezeptionen von George Lukács, Herbert Marcuse, Antonio Gramsci und die Frühschriften von Marx. Die pluralistische Struktur theoretischer Arbeit versetzte den SDS in die Lage, Sammelbecken der sozialistischen Intelligenz zu werden.

Aus heutiger Sicht lässt sich einiges an den theoretischen Schlussfolgerungen des SDS kritisieren. Seine kreative Anwendung marxistischer und Kritischer Theorie sowie seine offene, pluralistische Debattenkultur, sind jedoch wegweisend für einen neuen linken Hochschulverband.

5. Provokation, Polarisierung und Non-Konformismus als Mittel des Protests.

Der Politikstil des SDS, seine konfrontativen und polarisierenden Aktionsformen, trugen zum Erfolg des Verbandes bei. Die Provokation diente dem politischen Zweck. Die politischen Aussagen wurden zugespitzt und die Kritik konnte von Uni-Verwaltung, Staat und Medien nicht ignoriert werden. Jede und jeder war gezwungen, sich zu den Aktionen des SDS und seiner Sympathisanten zu positionieren und sich mit deren Inhalten auseinanderzusetzen.

"Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren" – ein Transparent mit dieser Aufschrift wurde 1967 bei der feierlichen Rektoratsübergabe an der Hamburger Universität enthüllt, um dagegen zu protestieren, dass Alt-Nazis immer noch unterrichten durften. Erst die Störung der offiziellen Zeremonie machte diese Aktion zum Skandal und den Spruch legendär. Er transportierte auch die Aussage, dass die Studierenden gegen die konservative Hegemonie in Hochschule und Gesellschaft rebellieren wollten.

Der SDS organisierte eine Reihe von Aktionen, die diesem Muster folgten. Autoritäten wurden konfrontiert, polizeiliche Auflagen bei Demonstrationen wurden spielerisch unterlaufen oder karikiert. Durch derartige Aktionen sollte Öffentlichkeit hergestellt und eine Debatte angestoßen werden. Die Aktionen folgten streng der Maßgabe, politische Inhalte zu vermitteln und die Beteiligten der Aktion zu kritischer Reflexion des Bestehenden zu animieren.

Ein neuer Hochschulverband kann viel aus den Aktionsformen des SDS lernen. Aktion und Provokation waren 1968 die schillernden Merkmale einer breiten studentischen Bewegung, weil sie auf einen allgemeinen, bislang latenten Unmut trafen. Aktuell ist die Kluft zwischen dem neoliberalen Mainstream-Konsens – von "Bild", "Spiegel" bis Sabine Christiansen – und der politischen Haltung vieler Studierender aufgrund einer zunehmenden Desillusionierung riesengroß. Aktion und Provokation kann heute wieder ein Katalysator für breitere Proteste sein. Dennoch gilt es auch hier aus Problemen in der Geschichte des SDS zu lernen. Protestformen müssen sich immer daran messen lassen, ob es gelingt, breite Bevölkerungsschichten anzusprechen.

6. "Studenten alleine können keine Revolution machen, so zahlreich und mobil sie auch sein mögen." (Eric Hobsbawm) – Der SDS, die Intelligenz und die Arbeiterklasse: Eine Bündnispolitik, die es neu zu begründen gilt.

Auch in den nicht-universitären Protestbewegungen der 50er und 60er Jahre, "Kampf dem Atomtod", Ostermarsch, Antinotstandskampagne, Vietnamkampagne, spielte der SDS eine zentrale Rolle.

Aufgrund seiner Bündnispolitik in diesen Kampagnen übernahm der SDS eine Scharnierfunktion zwischen den jungen Intellektuellen und dem linken Flügel der organisierten Arbeiterbewegung. Ganz in diesem Sinne hatte Wolfgang Abendroth schon 1962 in der Zeitung des SDS "Neue Kritik" die Rolle der jungen Intelligenz umrissen: "Aufgabe sozialistischer Studentengruppen muss es deshalb sein, darauf zu achten, dass sie nicht ihre kritischen Diskussionen untereinander und die an sich sehr notwendige Diskussion um die Form ihrer Ausbildungsstätten für den Nabel der Welt halten. Es kommt darauf an, die Kommunikation zwischen diesen kritischen Intellektuellen und der Masse der Bevölkerung, die allein für Demokratie und soziale Umgestaltung kämpfen kann, zu erhalten." Insbesondere die großen und erfolgreichen Kongresse der außerparlamentarischen Opposition, wie der Kongress "Notstand der Demokratie" oder "Vietnam – Analyse eines Exempels" befähigten den SDS, diesem Anspruch partiell gerecht zu werden, da auf ihnen Gewerkschafter, Studierende und die linke Intelligenz zusammenkamen.

Mit zunehmendem Erfolg des SDS trat eine auf die breite Masse der lohnabhängig Beschäftigten orientierte Politik hinter einen utopistisch-avantgardistischen Anspruch zurück, der die Studierenden per se zum revolutionären Subjekt stilisierte. Letztlich resultierte daraus eine maßlose Überschätzung der Intelligenz als Avantgarde. Es entwickelte sich eine strukturelle Überforderung der intellektuellen Zirkel, "erstens Massenorganisation zu werden und zweitens die Jugend- und Studentenrevolte in eine allgemeine – gesellschaftliche und politische (gar revolutionäre) Bewegung – unter Einschluss von Teilen der Arbeiterklasse – zu überführen."[6]

Einen Ansatz zur Korrektur dieser Fehleinschätzungen übernahmen in der darauf folgenden Dekade diejenigen Organisationen der Studierenden, die aus den Zerfallsprozessen des SDS Ende der 60er Jahre entstanden waren. In den 70er Jahren wurden der Sozialdemokratische (ab 1971 Sozialistische) Hochschulbund (SHB) und der Marxistische Studentenbund (MSB) Spartakus mit der Politik der "Gewerkschaftlichen Orientierung" zur stärksten Strömung in der Studierendenbewegung, weil sie die Kämpfe um eine umfassende Verbesserung der Studienbedingungen und das Eintreten für die sozialen Interessen der Studierenden offensiv in den Kontext gesamtgesellschaftlicher Auseinandersetzungen setzten. Zudem rückten sie die gemeinsamen Interessen von Studierenden und lohnabhängig Beschäftigten in den Vordergrund.[7]

In Zeiten der "génération précaire" und der mit dem Begriff Prekariat verbundenen Ausbreitung unsicherer Arbeitsverhältnisse ist es diese Politik des SDS, die es für einen neuen Hochschulverband der Linken fruchtbar zu machen gilt. Studierende stehen heute angesichts von Kommodifizierung der Bildung unter einem enormen ökonomischen Druck. In den komplexen Restrukturierungsprozessen von Klassenbildung und -fragmentierung im globalen Kapitalismus kann eine Angleichung sozialer und ökonomischer Bedingungen von Studierenden und den lohnabhängig Beschäftigten konstatiert werden. Zeitgleich zeichnet sich im Zuge des Parteineubildungsprozesses von Linkspartei.PDS und WASG zur neuen Partei DIE LINKE. die Möglichkeit einer Revitalisierung linkssozialistischen Denkens, in Form der Orientierung auf Gewerkschaften und auf große gesellschaftliche Bündnisse, ab.

In zukünftigen Auseinandersetzungen lassen sich soziale und hochschulpolitische Interessenvertretungen an der Hochschule mit antineoliberalen Kämpfen gegen den Abbau von Sozialstandards etc. verbinden. Ein neuer Hochschulverband sollte ähnlich wie der SDS durch geschickte Bündnispolitik die Scharnierfunktion zwischen junger Intelligenz und dem linken Flügel der Arbeiterbewegung ausfüllen. Der Hochschulkongress Anfang Januar in Frankfurt am Main war ein vielversprechender Beginn dafür. Er vereinte Politiker der Partei, linke Gewerkschafter und kritische Intellektuelle.

7. Aus Fehlern des SDS lernen.

Wer sich heute an den Stärken des SDS orientieren will, sollte sich mit seinen Schwächen auseinandersetzen. Diese waren vor allem: Eine unzureichende Thematisierung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, ein zu unkritisches Verhältnis zu nationalen Befreiungsbewegungen, eine falsche Subjekttheorie aufgrund einer falschen Kapitalismusanalyse.

Im SDS gab es eine unzureichende Thematisierung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Vielfach wurden so geschlechterhierarchische Rollenbilder reproduziert. Die führenden Köpfe des SDS waren fast durchweg männlich und viele der SDS-Männer verhielten sich Frauen gegenüber teilweise autoritär. Kurz vor der Auflösung des Verbands wurde dieser Missstand offensiv von weiblichen Mitgliedern thematisiert. Auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS am 13.9.1968 forderte eine Delegierte des Westberliner Aktionsrates zur Befreiung der Frau die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Interessen von Frauen sowie die Thematisierung von autoritären Verhaltensweisen männlicher SDSler. Nachdem das Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Krahl die Thesen und Forderungen seiner Vorrednerin mit keinem Wort würdigte, flogen mehrere Tomaten.[8] Diese "Rebellion", verbunden mit einer Diskussion über die geschlechtliche Arbeitsteilung im Kapitalismus, richtete sich dagegen, dass gesellschaftliche Aufgaben wie Haushaltsführung oder Kindeserziehung zur Privatsache von Frauen erklärt wurden. In der Folge bildeten sich innerhalb des SDS viele "Weiberräte" bzw. Arbeitskreise, die neben praktischen Ansprüchen gleichberechtigter Zugänge zu politischer Aktivität wie Kinderbetreuung während politischer Sitzungen, auch Ansätze einer theoretischen Diskussion erarbeiteten. Die somit begonnene Diskussion um Frauenbefreiung konnte sich innerhalb des SDS nicht weiter entfalten, da sich dieser schon kurz darauf auflöste.

Eine neue Linke an den Hochschulen muss an den Aufbruch der Frauenbewegung von 1968 anknüpfen, denn sie liefert uns einen reichen Schatz an Erfahrungen und Politikansätzen, die wir im Verband diskutieren können. Heute haben wir mit der Quotenregelung ein Mittel, um Frauen angemessen im Verband zu repräsentieren. Der Aufgabe, die nötigen Diskussionen um die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen und demgegenüber adäquate linke Gegenstrategien für Gesellschaft und Verband zu diskutieren, ist er damit allerdings nicht entbunden.

Die Einheit von Theorie und Praxis war eine Stärke des SDS: Aus der gesellschaftlichen Diagnose wurde das praktische Handeln abgeleitet. Allerdings war diese Stärke auch eine Quelle für mögliche Schwächen: Eine fehlerhafte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse führt zu einer falschen Praxis. So verhielt es sich auch beim SDS, der bis 1968 mehrheitlich eine partiell falsche Theorie vom "Spätkapitalismus" der westlichen Nachkriegsgesellschaften vertrat. Demnach handelte es sich um "formierte Gesellschaften", in denen der Klassenwiderspruch durch die materielle Integration der Arbeiterklasse völlig entschärft war. Nicht länger würde sich antikapitalistisches Potenzial aus den Kämpfen der Arbeiterbewegung entwickeln, sondern andere gesellschaftliche Schichten würden zum Initiator und Träger antikapitalistischer Kritik und Praxis.[9] Die entwickelten Industriestaaten waren nach dieser Theorie durch eine Koalition der Studierenden mit den nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt herauszufordern. Eine voluntaristische Überbewertung des gesellschaftsverändernden Potenzials der Studierenden war ebenso Konsequenz dieser Annahme wie ein zu unkritisches Verhältnis zu nationalen Befreiungsbewegungen. Wie sich später zeigte, waren die führenden Kräfte dieser antiimperialistischen Bewegungen ebenso wenig Träger eines emanzipatorischen Gesellschaftsmodells wie die Kommunistische Partei Chinas, auf die sich in der Endphase des SDS mehr und mehr Aktivisten positiv bezogen.

Weil man in den Studierenden gleich das revolutionäre Subjekt sah, verlor man den Blick für den Ursprung des SDS – die Universität. Ende der 60er Jahre verfügte er über keine Strategie mehr zum Umgang mit der studentischen Selbstverwaltung. Zwar gab es 1967 noch eine Einigung auf eine so genannte "Doppelstrategie",[10] die Verbindung der Arbeit in der studentischen Selbstverwaltung mit studentischen Massenaktionen, aber dies wurde nicht mehr umgesetzt. Nach dem Generalstreik von zehn Millionen Arbeitern im französischen Mai 1968 wurde die Theorie von der formierten Gesellschaft zugunsten einer strategischen Orientierung auf die Arbeiterbewegung als revolutionärem Subjekt aufgegeben. Allerdings setzte sich der Voluntarismus durch, mündete in krassen Avantgardeansprüchen der maoistischen "K-Gruppen" und schließlich im Katzenjammer, als sich die überzogenen Revolutionserwartungen nicht materialisierten.

Die angeführten Fehleinschätzungen und Schwächen des SDS können nicht losgelöst von den damaligen gesellschaftlichen Umständen beurteilt werden. Sowohl der frühe Voluntarismus als auch der spätere überzogene Avantgardeanspruch resultierten im Wesentlichen aus dem ungleichen Grad der Radikalisierung von Studierenden und der lohnabhängigen Bevölkerungsmehrheit, sprich: der relativen gesellschaftlichen Isolation der antikapitalistischen Akteure. Heute sind die gesellschaftlichen Umstände für einen sozialistischen Studierendenverband andere. Wir sehen bessere Voraussetzungen für den Schulterschluss mit breiten Schichten der Bevölkerung, gegen den neoliberalen Rückbau und für einen neuen Anlauf zur Überwindung des Kapitalismus. Gleichzeitig dürfen wir SDS-Politik, so wie wir sie skizziert haben, nicht ohne die wesentlichen Elemente eines linken Studierendenverbandes – die Mitarbeit in studentischen Gremien sowie der Einsatz für studentische Mitbestimmung und das politische Mandat – betreiben.

Die Schwächen des SDS sollten uns dabei nicht davon abhalten, an seinen Stärken anzuknüpfen und aus seinen Fehlern zu lernen.

Sophie Dieckmann, Linke.Hochschulgruppe Leipzig, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Steffi Graf, Linke.HU, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Matthias Klenk, WASG Campus Bielefeld; Sarah Nagel, Linke Bochum, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Jan Schalauske, Marburg, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Katharina Volk, Demokratische Linke Gießen, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Luigi Wolf, Linke.FU, Bundeskoordinierung Linke.Hochschulgruppennetzwerk; Simon Zeise, Linke.Hochschulgruppe Leipzig, Junge Linke Sachsen

[1] Vgl. u. a.: "Linke Studis liebäugeln mit neuem SDS", taz, 20.1.2007; "Soundbites einer Revolution", Kommentar von Robert Misik zum Hochschulkongress für eine Neue Linke, taz, 20.1.2007; "Neuauflage des SDS?", junge Welt, 22.1.2007; "Die Gesellschaft umstülpen", Interview in ZeitCampus Januar zur "SDS-Frage"; "Ein neuer SDS?" – Bericht vom "Get up, stand up"-Kongress, in: Z – Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 69, 3/2007, S. 172-174.
[2] Die 68er-Bewegung war kein Phänomen, das auf die westlichen Staaten beschränkt blieb. In der Tschechoslowakei forderte beispielsweise eine breite Bewegung einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". (Siehe dazu auch die Beiträge zu Polen und der CSSR im Band: Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hrsg.): 1968 und die Arbeiter in Europa. Hamburg 2007) Aufgrund von Unterschiedlichkeiten in der Entwicklung der politischen Systeme kam es in der DDR jedoch nicht zu einer studentischen Massenbewegung. Daher bleibt der SDS der wichtigste historische Bezugspunkt für die heutige Diskussion über die neue Linke an den Hochschulen. Keineswegs soll damit einer Privilegierung der westdeutschen gegenüber der ostdeutschen Erfahrung das Wort geredet werden. Der SDS war nicht Teil des "Westblocks", sondern Teil einer grenzüberschreitenden antikapitalistischen Orientierung, die es in Ost und West wieder zu entdecken gilt.
[3] Vgl. Tillman Fichter/Siegward Lönnendonker: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Berlin 1979. Die "kleine Geschichte" ist nach wie vor lesenswert. Die Neuauflage von 1998 wurde leider politisch unredlich überarbeitet und ist deshalb nur bedingt zu empfehlen.
[4] SDS (1965): Hochschule in der Demokratie. Denkschrift des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, (1. Auflage, durchgesehene Neuauflage), Frankfurt/Main.
[5] Ein guter Ausgangspunkt könnte dabei die erste empirische Untersuchung zur prekären Beschäftigung von Studierenden und AbsolventInnen darstellen: Dieter Grühn/Heidemarie Hecht: "Generation Praktikum? Prekäre Beschäftigung von Hochschulabsolventinnen und -absolventen Februar 2007. (http://www.students-at-work.de/UNIQ117413929109014/doc1317506A.html)
[6] Frank Deppe: Der sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) – Keimzelle der Bewegung von 1968? In: Buckmiller, Michael/Perels, Joachim (Hrsg.): Opposition als Triebkraft der Demokratie. Bilanz und Perspektiven der zweiten Republik, Hannover 1998, S. 112-127.
[7] Vgl.: MSB Spartakus: Für die eigenen Interessen kämpfen – Mit der Arbeiterklasse verbünden. Aktionsprogramm. 1973.
[8] Die Frage der Stellung der Frau im SDS wird kontrovers diskutiert. Während manche weibliche Mitglieder des SDS erklären, sie hätten sich dort wie sexuelle Hilfsarbeiterinnen zu Diensten der SDS-Männer gefühlt, kommen in dem Buch "Warum flog die Tomate?" auch die Meinungen anderer Frauen zu Wort, die erklären, dass der SDS die Organisation mit dem höchsten Frauenanteil war, dass der SDS den damals einzigen Raum darstellte, in dem sie als Frauen gleichberechtigt behandelt wurden und dass die Frauen im SDS keinesfalls nur Kaffeekocherinnen und Flugblattabtipperinnen gewesen seien. Die Aktivitäten des SDS hätten den Rahmen dargestellt, in dem sich dann auch theoretische und praktische Anfänge der Frauenbewegung entwickelt hätten. Vgl. Gisela Notz: "Warum flog die Tomate?", Neu-Ulm 2006, S. 12-27.
[9] Die Aussagen von Marcuse waren charakteristisch für die falsche Einschätzung des "Spätkapitalismus". Z.B. "Die kapitalistische Entwicklung hat jedoch die Struktur und Funktion dieser beiden Klassen (Arbeit und Kapital, D.V.) derart verändert, daß sie nicht mehr die Träger historischer Umgestaltung zu seien scheinen". Auch die Analyse des damaligen Wohlfahrtsstaates mutet aus heutiger Sicht zwar nicht gänzlich falsch, jedoch der Epoche unangemessen an. Der Sozialstaat sei eine "historische Mißgeburt zwischen organisiertem Kapitalismus und Sozialismus, Knechtschaft und Freiheit, Totalitarismus und Glück." Vgl. Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 4. Auflage, München 2004 (1967).
[10] Vgl. Andreas Keller: Hochschulreform und Hochschulrevolte, Marburg 2000.

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