23. August 2014 Christian Zeller

Von Gaza bis Kurdistan: das Recht auf Widerstand und Selbstbestimmung

Der Krieg der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza im Juli und August 2014 erscheint in der veröffentlichten Meinung in den deutschsprachigen Ländern als Ausdruck eines unlösbaren Konflikts.

Die wiederholten israelischen Feldzüge werden auch in Teilen der hiesigen Linken als Akte der legitimen Selbstverteidigung gegen Angriffe islamis­tischer Extremisten dargestellt. Diese Darstellung verdeckt die zentralen Ursachen und Kennzeichen des Konflikts.

Gegen diese Sichtweise stelle ich in diesem Beitrag drei Positionen zur Diskussion: Erstens sind die Besatzung palästinensischer Gebiete und die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung durch den Staat Israel die Ursachen für den Konflikt. Solange diese nicht beendet werden, wird sich die Spirale von Repression und Widerstand und Brutalisierung der Repression weiterdrehen. Zweitens ist Widerstand gegen Besatzung sowohl völkerrechtlich als auch aus einer sozialistischen und emanzipatorischen Perspektive legitim. Drittens ist der Konflikt zwischen Israel und dem palästinensischen Widerstand in den Kontext der revolutionären Bestrebungen in den arabischen Ländern und in Kurdistan zu stellen.


Ungleicher Krieg

Die vorläufige Bilanz des Krieges der israelischen Armee gegen die palästinensische Bevölkerung im Juli und August 2014 zeigt, wie ungleich dieser Kampf ausgefochten wird. Der Feldzug hat bis zum 19. August 2016 PalästinenserInnen, in ihrer großen Mehrheit ZivilistInnen und darunter 541 Kinder, sowie 67 Israelis, darunter 64 Soldaten, das Leben gekostet. Gemäß Angaben der israelischen Armee trafen bis zum 5. August nur gerade 115 Raketen aus Gaza bewohnte Gebiete in Israel.[1] Die israelische Armee beansprucht selbst, 750 »Terroristen« getötet zu haben. 10.196 PalästinenserInnen wurden verwundet. Die israelische Armee hat systematisch einen Großteil der öffentlichen, industriellen und gewerblichen Infrastruktur Gazas zerstört. 65.000 Menschen haben ihre Häuser und Wohnungen endgültig verloren. Gemäß einem Bericht der OCHA vom 5. August wurden 520.000 PalästinenserInnen (knapp 30% der Bevölkerung) vertrieben, davon fanden 273.000 Unterschlupf in 90 von den UN geführten Schulen.[2] Die Zerstörungen in Gaza sind keine Kollateralschäden, sondern beabsichtigt. Das Ausmaß der Zerstörungen übertrifft jene des Kriegs um die Jahreswende 2008/09 deutlich. Die israelische Armee will mit dem Feldzug in Gaza den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen. Jede Perspektive in Richtung nationaler Selbstbestimmung und eines eigenen Staates soll verunmöglicht  und als Vorstellung aus dem Bewusstsein gelöscht werden.

Die Situation in Gaza ist weltweit einmalig. 1,82 Mio. Menschen leben auf einer Fläche von 360 Quadratkilometer (zum Vergleich: Hamburg zählt 1,75 Mio. Einwohner auf einer Fläche von 755 Quadratkilometer). Der Gazastreifen ist gerade mal 40 Kilometer lang und bei Deir al Balah nur sechs Kilometer breit.[3] Die israelische Armee zog sich im Jahr 2005 aus Gaza zurück. Doch die BewohnerInnen des kleinen Gebiets sind de facto gefangen. Sie können weder nach Ägypten noch nach Israel frei reisen. Nachdem die Hamas im Juni 2007 die Kontrolle über das Gebiet übernommen hatte, setzte die israelische Regierung eine weitreichende Wirtschaftsblockade durch. Die Arbeitslosen- und Armutsraten stiegen stark an. Der auf Exporten beruhende private Wirtschaftssektor kam praktisch zum Erliegen. Der Tunnelbau diente in erster Linie dazu, die ägyptische Grenze zu überwinden, um Treibstoff, Baumaterial und Konsumgüter zu importieren. Nach der Machtübernahme durch General al Sissi im Juli 2013 ließ die ägyptische Regierung zahlreiche Tunnel zerstören, was zu Versorgungsengpässen führte. Die Bevölkerung ist weitgehend von Transferzahlungen abhängig. Der Lebensstandard ist tiefer als Mitte der 1990er Jahre.


Besatzung und Flüchtlinge

Mit dem zionistischen Projekt der Gründung des Staates Israel, dem Unabhängigkeitskrieg von 1948 und dem Sechstagekrieg im Juni 1967, als Israel die Gebiete im Westjordanland und Gaza besetzte, flüchteten jeweils mehrere hunderttausend PalästinenserInnen. Als Reaktion auf die totale militärische Niederlage Ägyptens, Syriens und Jordaniens 1967 und das politische Scheitern dieser Regime setzte die palästinensische Befreiungsbewegung zunehmend auf einen eigenständigen politischen und militärischen Kampf. Jassir Arafat und seine Organisation Fatah übernahmen 1969 die Führung der bereits 1964 gegründeten Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Ende der 1960er Jahre entstanden auch die linksnationalistischen Organisationen Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) sowie weitere kleinere Organisationen. Die meisten agierten seither unter dem Dach der PLO. Die verschiedenen Organisationen gewannen zunächst vor allem unter den Flüchtlingen in Jordanien und Libanon starken Einfluss. Die Forderung nach einem Rückkehrrecht der Flüchtlinge bildet seit den Anfängen einen zentralen Bestandteil der politischen Identität der PLO. Alle israelischen Regierungen haben dies kategorisch abgelehnt, weil sie damit den jüdischen Charakter des Staates in Frage gestellt sehen. Die Flüchtlingsproblematik ist bis heute nicht gelöst. Vor allem in Jordanien, Syrien und Libanon leben jeweils mehrere hunderttausend palästinensische Flüchtlinge.


Aufstände und Oslo-Abkommen: Fortsetzung der Besatzung und Diskriminierung

Der arabisch-palästinensische Widerstand gegen unterschiedliche Formen der Landnahme und Besatzung reicht bis in die 1930er Jahre zurück. Die neu gegründeten palästinensischen Organisationen bewegten sich in den 1970er und 1980er Jahren im Untergrund. Israelischen Bürgern war es lange verboten, mit Repräsentanten der PLO in Kontakt zu treten. Seit den 1980er Jahren entwickelten sich mehrere Aufstandsbewegungen in den besetzten Gebieten der Westbank und in Gaza. Die erste Intifada fand von 1987 bis 1991 statt. Sie wurde militärisch niedergeschlagen und erschöpfte sich politisch. Ein indirektes Ergebnis des ersten Aufstandes war das Abkommen von Oslo 1993, das in der Folge weiterer Abkommen schließlich in die Gründung der palästinensischen Autonomiebehörde unter Beibehaltung der israelischen Besatzung mündete. Die zweite Intifada von 2000 bis etwa 2004 wurde von zahlreichen Selbstmordattentaten mit Opfern unter der israelischen Bevölkerung begleitet. Auch diese Erhebung ermattete im Laufe der Zeit und offenbarte eine politische Perspektivlosigkeit. Diese Bewegungen schafften es kaum, alternative politische Führungen hervorzubringen. Wichtige Personen dieser Bewegungen sitzen allerdings immer noch in israelischen Gefängnissen fest.

Die israelische Besatzung auf der Westbank hat das Territorium in drei unzusammenhängende Zonen mit jeweils unterschiedlichen Autonomierechten aufgeteilt. Die palästinensische Bevölkerung lebt in diesen Gebieten eingesperrt und hat ein repressives Besatzungsregime zu erdulden. Die palästinensische Autonomiebehörde unter der Führung von »Palästinenserpräsident« Abbas reproduziert diese Repression und unterdrückt demokratischen und zivilen Widerstand gegen Israel und eben diese Autonomiebehörde. Alle israelischen Regierungen haben die Ausweitung der Siedlerkolonien in den besetzten Gebieten systematisch und auch nach militärischen Erwägungen vorangetrieben. Die gegenwärtige Regierung hat diesen Kurs radikalisiert. Der Staat Israel bestreitet, dass er seit 1967 palästinensische Gebiete besetzt hält. Die offizielle Sprachregelung spricht von zwischen Jordanien und Israel »umstrittenen Gebieten«. Die BewohnerInnen der Westbank und von Gaza können nicht israelische Bürger werden. Viele sind »staatenlos« oder haben einen jordanischen Pass. Die palästinensische Bevölkerung, die auf dem Territorium von Israel lebt, genießt das israelische Bürgerrecht. Das Legal Center for Arab Minority Rights in Israel benennt über 50 israelische Gesetze, die palästinensische BürgerInnen Israels in allen Belangen des Lebens benachteiligen. Dazu zählen Bestimmungen über die politische Partizipation, Zugang zu Land, Bildung, staatliche Budgetmittel und kriminalrechtliche Bestimmungen. Einige Gesetze missachten auch Rechte von PalästinenserInnen, die in den seit 1967 besetzten Gebieten leben, und von palästinensischen Flüchtlingen.[4] Wiederholt haben sich viele israelische PalästinenserInnen aufgelehnt und gegen die israelische Staatsmacht demonstriert.


Vom arabischen Nationalismus zum islamischen Widerstand

Die in den 1960er Jahren entstandenen Organisationen der PLO verloren seit den 1990er Jahren an Einfluss. Hamas als Organisation des politischen Islam setzte sich vor allem in Gaza zur bestimmenden Kraft durch. Hamas übernahm im Jahr 2007 putschartig die Regierungsmacht in Gaza, um einem Putsch der Fatah zuvorzukommen. Der Aufstieg der islamistischen Kräfte ist auch Ausdruck des Scheiterns des arabischen Nationalismus und der politischen Schwäche der Linken, sowohl in Palästina als auch in Israel und in der gesamten arabischen Welt. Die palästinensische Autonomiebehörde degenerierte und ist korrupt. Sie ist weitgehend abhängig von Israel und internationalen Finanzgebern (EU, Golfstaaten, USA), politisch und gesellschaftlich diskreditiert und kann keine Impulse für eine demokratische Perspektive bieten. Die Hamas konnte sich zunächst erfolgreich als Alternative darstellen, doch sie vertritt gesellschaftliche Vorstellungen, die im Widerspruch zu dem stehen, was eine solidarische und emanzipatorische Perspektive sein könnte. Dennoch entwickelte sich im Westjordanland und in Gaza zeitweise eine vielfältige Zivilgesellschaft. Es gab auch wiederholt sozialen Widerstand gegen Hamas und Fatah.[5]


Blockierte Perspektiven

Sowohl in den verschiedenen Organisationen der palästinensischen Befreiungsbewegung, in der radikalen antizionistischen Linken in Israel als auch unter linken Intellektuellen werden seit vielen Jahren zwei grundlegende Perspektiven zur Lösung der nationalen Frage diskutiert.

Die erste Perspektive besteht im Aufbau eines laizistischen, binationalen Staates Israel-Palästina, in dem PalästinenserInnen und Israelis als gleichberechtigte BürgerInnen leben. Allerdings könnten sehr unterschiedliche Wege dorthin führen. Vorstellbar sind eine Transformation des Staates Israel oder unterschiedliche Formen einer staatlichen Neuformierung. Letztlich müssten aber grundlegende gesellschaftliche und politische Veränderungen stattfinden, die mit einem entsprechenden verfassungsgebenden Prozess einhergingen, mit dem auch der gesellschaftliche Gehalt des Staates bestimmt würde. Diese Perspektive war in den 1970er Jahren das Ziel der israelischen und palästinensischen Linken und sogar der PLO. Auch Edward Said sprach sich für einen bi-nationalen Staat aus.[6] Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler und der israelische Historiker Ilan Pappé sprechen sich ebenfalls für die Perspektive eines gemeinsamen demokratischen Staates aus.
Die zweite Perspektive besteht darin, dass die PalästinenserInnen das Recht erhalten, auf den Gebieten der Westbank und Gaza einen neuen Staat zu gründen. Diese trat vor allem seit den späten 1980er Jahren zunehmend in den Vordergrund und kristallisierte sich mit den Oslo-Verträgen 1993 und dem Aufbau der palästinensischen Autonomiebehörde heraus. Das erfolgte im Einklang mit der offiziell geäußerten Politik vieler Regierungen Europas und sogar der USA.

Die israelischen Regierungen und weite Teile der israelischen Gesellschaft haben bislang beide Optionen abgelehnt. Die »Ein-Staat-Perspektive« stellt die exklusive, jüdische Identität des Staates Israel in Frage. Das widerspricht dem zionistischen Grundverständnis. Die »Zwei-Staaten-Perspektive« scheitert daran, dass jede israelische Regierung jegliche palästinensische Souveränität ablehnt. Zudem wären die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten beschränkt. Angesichts der kompletten Blockade Israels sind die Chancen auf die Verwirklichung eines palästinensischen Staates massiv geschwunden. Daher wird seit einiger Zeit unter der israelischen und palästinensischen Linken wieder vermehrt über die Option eines gemeinsamen Staates als längerfristige Perspektive diskutiert. Dabei dient der Übergang Südafrikas zur Postapartheid als Inspiration.

Die palästinensische Bevölkerung sieht also seit vielen Jahren keinen glaubwürdigen Weg, um ihre Situation zu verbessern. Die gegenwärtige Regierung Israels verschärft und systematisiert im Gegenteil das Besatzungsregime. Das Projekt Israels läuft auf die gesellschaftliche, politische und territoriale Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft, also letztlich ihre Zerstörung, hinaus. Offen diskutieren israelische Politiker­Innen über den Wunsch eines Massenexodus von Teilen der palästinensischen Bevölkerung. Dieses System wird oft mit der Apartheid in Südafrika verglichen. Trotz einiger Ähnlichkeiten gibt es einen substantiellen Unterschied. Das Apartheid-Regime Südafrikas fragmentierte die schwarze Bevölkerung und nutzte sie gleichzeitig als günstige Arbeitskräfte. Das Regime Israels trennt die palästinensische Bevölkerung ab, fragmentiert sie und schließt sie dabei ökonomisch aus.

In der israelischen Linken wird die aktuelle Situation als äußert schwierig eingeschätzt. Viele gehen davon aus, dass die gegenwärtige israelische Regierung so reaktionär und nationalistisch wie keine andere seit der Gründung des Staates 1948 ist. Es herrscht ein Klima der Angst und Gewalt. Linke und kritische AkademikerInnen haben unmittelbar Angst vor gewalttätigen Angriffen rechtsextremer Gruppen. Kritische Äußerungen zum Krieg in Gaza werden bestraft.[7]


Bedingungsloses Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung

UnterstützerInnen des Staates Israel werfen Kritikern der Regierung Israels oftmals vor, ihre Verurteilung Israels basiere auf unlauteren Motiven oder Juden-Hass. Ich bestreite nicht, dass unter jenen, die Israel verurteilen, auch Juden-Hasser und AntisemitInnen sind. In Europa hat der Antisemitismus eine lange Tradition. Nicht zuletzt die soziale Marginalisierung vieler MigrantInnen aus islamisch geprägten Ländern sowie die Hoffnungslosigkeit der politischen Situation in Israel, Palästina und in den arabischen Ländern sind ein weiterer Nährboden für den Judenhass. Die Spaltungen entlang religiöser oder nationaler Linien sind Gift für jede solidarische Perspektive. Es bleibt unsere Aufgabe, den Antisemitismus, Juden-Hass und Islam-Hass in den europäischen Gesellschaften zu bekämpfen. Das ist nicht nur eine propagandistische, sondern eine soziale Angelegenheit. Darum ist es nicht einfach, diese Herausforderung real, das heißt mit gesellschaftlicher Wirkung, anzupacken.

Zahlreiche UNO-Resolutionen haben die Besetzung des Westjordanlandes und von Gaza durch Israel verurteilt. Widerstand gegen ein Besatzungsregime wird durch das Völkerrecht legitimiert. Es ist Ausdruck einer weitreichenden Erosion sozialistischer und emanzipatorischer Politik, wenn auch Linke den PalästinenserInnen das Recht auf Widerstand gegen Besatzung abstreiten. Sogar wenn wir davon ausgehen würden, dass die palästinensischen Gebiete im Westjordanland und Gaza nicht von Israel besetzt, sondern nur »umstritten« wären, auch dann wäre Widerstand gegen jede Form von Unterdrückung und Diskriminierung legitim. Entscheidend ist, ob sich die PalästinenserInnen selbst als unterdrückt ansehen. Das tun sie offensichtlich seit weit über einem halben Jahrhundert.

Die palästinensische Bevölkerung fordert seit Jahrzehnten das Selbstbestimmungsrecht ein, genauso übrigens wie das die kurdische Bevölkerung in den unterschiedlichen Staaten tut. Die große Mehrheit der PalästinenserInnen wie der KurdInnen versteht sich als Nation. Sie sollen den gesellschaftlichen und demokratischen Freiraum erhalten, darüber zu entscheiden, in welcher staatlichen Form sich das Selbstbestimmungsrecht am besten ausdrücken lässt. Das sind schwierige Prozesse. Auch die jüdische Bevölkerung in Israel sieht sich als Nation. Auch sie hat das Recht auf Selbstbestimmung. Dieses stößt allerdings dann an seine Grenzen, wenn damit ein anderer Teil der Bevölkerung diskriminiert wird. Das heißt, die Festschreibung eines explizit jüdischen Charakters des Staates führt automatisch zum Ausschluss von nicht-jüdischen Teilen der Bevölkerung.

Die algerische Bevölkerung hatte das Recht, sich gegen die französische Kolonialherrschaft zu erheben, ebenso wie die vietnamesische Bevölkerung berechtigterweise die US-Besatzung bekämpfte. Die AlgerierInnen und VietnamesInnen setzten dieses Recht durch, obwohl ihre Organisationen –FLN in Algerien und FNL in Vietnam – auch terroristische Methoden anwandten. Diese Vergleiche verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen dem Recht auf Widerstand und den Methoden des Widerstandes. Unabhängig von der jeweiligen Führung und davon, ob alle Methoden ethisch vertretbar und politisch sinnvoll sind, ist das grundlegende Anliegen des palästinensischen Widerstandes nach Selbstbestimmung berechtigt. Das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung und Diskriminierung – und zwar überall und immer – ist ein Fundament der sozialistischen Bewegungen seit ihren Anfängen und Pfeiler heutiger emanzipatorischer Politik.


Abgewürgter Aufbruch in den arabischen Ländern, Kampf für kurdische Selbstbestimmung

Die Situation im Staat Israel und in Palästina ist in den Kontext der Lage im Mittleren Osten zu stellen. Eine demokratische, solidarische und emanzipatorische Perspektive lässt sich letztlich nur für die gesamte Region entwickeln, nicht für ein einzelnes Land. Die miteinander verwobenen Dynamiken in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, Libanon und Irak unterstreichen das auf tragische Weise. Die doppelte Konterrevolution in Syrien durch das Assad-Regime und islamistische Terrororganisationen gegen den demokratischen Aufbruch in den Jahren 2011 und 2012 sowie die jüngsten Ereignisse in Kurdistan zeigen, wie verschlungen die Entwicklungen verlaufen.

Unterstützer des Staates Israel werfen jenen, die sich für die palästinensische Sache äußern, bisweilen vor, mit ungleichen Maßstäben zu agieren. In der Tat sind große Teile der Linken in Europa und anderswo stumm geblieben zu den Massakern der Assad-Diktatur in Syrien, zur Zerstörung der Städte Aleppo und Homs. Das ist unverzeihlich. Tatsächlich hat die Assad-Diktatur in Syrien (Vater und Sohn Assad) mehrere tausend PalästinenserInnen umgebracht. Die Liste der Verbrechen ist lang. Erinnern wir uns noch an das von Syrien unterstützte Massaker im Flüchtlingslager Tel al Zatar in Beirut 1976? Denken wir an die jüngsten Massaker im Flüchtlingslager Yarmuk bei Damaskus und die militärische Abriegelung der BewohnerInnen. Die Berichte des UNRWA ähneln jenen aus Gaza.[8] Es gibt keinen Unterschied zwischen den toten PalästinenserInnen in Gaza und Syrien. In beiden Fällen geht es den Regierungen darum, den Kampf für Freiheit und Würde niederzuschlagen.

Leider haben gerade in dieser Hinsicht auch die meisten palästinensischeb Organisationen versagt. Weil sie sich nie von ihren fragwürdigen Allianzen mit reaktionären Herrschern in den arabischen Ländern losgesagt haben und auf deren materielle und diplomatische Unterstützung setzen, sind sie lange stumm geblieben zu den Aufständen in den arabischen Ländern oder haben sich sogar auf die Seite der Herrscher geschlagen.

Das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung ist also unteilbar und universell, unabhängig davon, wer Herrscher ist und mit welcher ideologischen Etikette sich dieser schmückt, wie die geopolitische Situation aussieht und um welchen Staat es sich handelt. In der konkreten Situation im Mittleren Osten heißt das, dass sich die Konflikte nicht trennen lassen. Die Massaker und Kriegsverbrechen der israelischen Regierung sind zu verurteilen, wie auch die Massaker Assads und al-Sisis gegen die eigene Bevölkerung zu brandmarken sind. Genau darum ist es auch wichtig, dass die linken, demokratischen und sozialistischen Kräfte in der gesamten Region beginnen, miteinander zu sprechen, sich zu koordinieren und gemeinsam zu kämpfen.[9]


Wie sich positionieren?

In Israel hat die extreme Rechte ein enormes Gewicht erlangt und sitzt in der Regierung. In den palästinensischen Gebieten im Westjordanland blockiert ein korruptes Statthalterregime um die abgewirtschaftete Führung von »Palästinenserpräsident« Abbas mit einer neoliberalen Wirtschaftspolitik die Situation. Hamas verfolgt eine Strategie, die in keiner Weise hilft, auch in der israelischen Gesellschaft BündnispartnerInnen zu finden. Die Raketenangriffe auf israelische Städte sind hierbei nur ein Aspekt. Allerdings vermochte Hamas im Zuge des israelischen Feldzugs wiederum eine breite Anerkennung als Widerstandsorganisation zu gewinnen. Viele Organisationen der Zivilgesellschaft und AkademikerInnen haben Hamas aufgefordert, keinem Waffenstillstand zuzustimmen, der nicht die Aufhebung der Blockade beinhaltet.[10] Es gibt also auch einen Druck aus der Gesellschaft, hart zu bleiben. Nicht nur die Kampfverbände von Hamas, sondern aller großen Organisationen wie Fatah, Jihad, PFLP, DFLP leisten bewaffneten Widerstand in Gaza. Offensichtlich ist der Widerstand gegen die israelische Kriegspolitik in Gaza gesellschaftlich breit verankert. In dieser schwierigen Situation plädiere ich für folgende Orientierung:

  • Die palästinensische Forderung nach einer Aufhebung der Blockade des Gazastreifens durch Israel und Ägypten ist zu unterstützen. Die militärische Zusammenarbeit mit Israel und allen anderen Staaten im Nahen Osten sowie alle Waffenlieferung sind zu stoppen.[11] Auch Waffenlieferungen an das korrupte kurdische Barzani-Clan-Regime in Nordirak sind zu unterlassen. Die Linke Europas sollte sich mit dem kurdischen Widerstand der PYD (Partei der demokratischen Einheit) und den YPG (Volksverteidigungseinheit) sowie der demokratischen Opposition in Syrien gegen die Horden des »islamischen Staats« und gegen die Assad-Diktatur solidarisieren.
  • Versuchen wir von den sozialen Konfliktlagen in Palästina, Israel und anderen Ländern auszugehen. Auch die palästinensische und israelische Gesellschaft spalten sich in soziale Klassen. Hören wir den dortigen AktivistInnen in sozialen Bewegungen, GewerkschaftlerInnen und Intellektuellen zu. Versuchen wir, ihre Situation zu verstehen und von ihnen zu lernen. Schauen wir hin, um zu verstehen, warum sich Menschen gegen Unterdrückung wehren, sei es in Israel, in den palästinensischen Gebieten, in den arabischen Ländern, in Kurdistan. Wir würden auch unsere Diskussionen bereichern, wenn wir uns in unseren Überlegungen vermehrt auf kritische AktivistInnen und Intellektuelle in und aus diesen Ländern beziehen würden.

Christian Zeller ist Professor für Wirtschaftsgeografie an der Uni Salzburg und Mitglied der Redaktion der Zeitschrift Emanzipation.

[1] Angaben der Israel Defense Forces Operation Protective Edge by the Numbers 05/08/2014, www.idfblog.com/blog/2014/08/05/operation-protective-edge-numbers.
[2] Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza. Nach Ma’an News 19/08/2014: »Israel ›refusing to make concessions‹ at Cairo talks«, maannews.net/eng/ViewDetails.aspx; Angaben der Israel Defense Forces Operation Protective Edge by the Numbers 05/08/2014, www.idfblog.com/blog/2014/08/05/operation-protective-edge-numbers>. Ma’an News 19/08/2014: »UN offers to monitor Gaza construction material«, maannews.net/eng/ViewDetails.aspx, OCHA Report 5 August 2014, www.ochaopt.org/documents/ocha_opt_sitrep_05_08_2014.pdf.
[3] CIA Factbook: Middle East: Gaza, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/gz.html, Zugriff 19. August 2014
[4] Adalah, The Legal Center for Arab Minority Rights in Israel: Discriminatory Laws in Israel, adalah.org/eng/Israeli-Discriminatory-Law-Database, Zugriff 19. August 2014.
[5] Paul Grasse und Stefan Ziefle haben einen lesenswerten Überblick über den Aufstieg von Hamas verfasst: Eine kurze Geschichte der Hamas. Marx21, 28. Juli 2014,  marx21.de/content/view/2141/32/.
[6] Said, Edward (1999): Truth and reconciliation. Al-Ahram Weekly On-line, 14 -20 January, weekly.ahram.org.eg/1999/412/op2.htm.
[7] Siehe beispielsweise die Berichte des Alternative Information Center in Jerusalem, alternativenews.org.
[8] UNWRA: The cirisis in Yarmouk, www.unrwa.org/crisis-in-yarmouk, Zugriff 20. August 2014.
[9]  Hinweise lassen sich beispielsweise auf der Webseite Syria Freedom forever finden, syriafreedomforever.wordpress.com.
[10] Mehrere Dutzend Vertreterinnen von NGOs und Intellektuelle forderten im Aufruf »No ceasefire without justice for Gaza« Hamas dazu auf, ein Ende der Blockade durchzusetzen. The Electronic Intifada, 22 July 2014, electronicintifada.net/content/no-ceasefire-without-justice-gaza/13618, Zugriff 20. August 2014.
[11] Vergleiche hierzu den unterstützungswerten Aufruf von Nahost-Experten »Dauerhaften Waffenstillstand erzielen, Blockade beenden – Entwicklungsperspektiven für Gaza, Westjordanland und Ostjerusalem schaffen«, https://sites.google.com/site/nahostexpertengaza, Zugriff 20. August 2014.

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