1. Oktober 2005 Joachim Bischoff und Michael Wendl

Vordenker der SPD: Peter Glotz

Peter Glotz, der in der Sozialdemokratie und in der politischen Öffentlichkeit über drei Jahrzehnte hinweg herausragende Funktionen wahrgenommen hat, ist in seinem 66. Lebensjahr gestorben. Obwohl er in den letzten Jahren nicht mehr im Zentrum der innerparteilichen Debatte der SPD stand, hat er seinen Einfluss als Publizist und als Chefredakteur der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte genutzt, die politisch-intellektuelle Positionsbestimmung der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert auszuleuchten.

Die Redaktion der Zeitschrift Sozialismus hat mit Peter Glotz häufig über die Veränderungen der Parteienlandschaft und der politischen Kräfteverhältnisse debattiert. Das erste Streitgespräch haben wir in der Ausgabe 6 des Jahrgangs 1978 veröffentlicht (siehe auch Glotz' Beitrag "Gramsci und die europäische Linke" sowie das anschließende Interview in den Heften 11 und 12 /1987)..

Ein Blick aus der Retrospektive auf die Debatten und Auseinandersetzungen mit Peter Glotz seit Ende der 1970er Jahre macht deutlich, dass Glotz der wichtigste und argumentativ stärkste Theoretiker eines modernen sozialdemokratischen Reformismus in Deutschland war und dass er sich in dieser Funktion zweifach gegenüber der nichtsozialdemokratischen Linken abgrenzen musste. Zum einen gegenüber der sozialistischen oder marxistischen Linken, zum anderen gegenüber den in den 1980er Jahren aufsteigenden grünen und ökologischen Sichtweisen.

Die erste Abgrenzung bestand im Kern darin, dass Glotz von der Entwicklungsfähigkeit und ökonomischen Vitalität einer kapitalistischen Marktökonomie überzeugt war und nach einem strategischen Konzept für reformistische Politik in einem nachfordistischem Kapitalismus suchte. "Antagonistische Kooperation" war sein strategischer Schlüsselbegriff, also politische Zusammenarbeit mit den "aufgeklärten" Teilen des Managements unter Beachtung der gegensätzlichen Interessen von Lohnarbeit und Kapital. Damit grenzte er sich entschieden ab von Positionen, die in der Krise des fordistisch geprägten Entwicklungsabschnitts des Kapitalismus bereits die Sturmvögel einer finalen Krise der kapitalistischen Produktionsweise zu sehen glaubten (oder zu sehen erhofften).

Glotz war ein überzeugter Anhänger des österreichischen Ökonomen Joseph Alois Schumpeter, dessen Annahmen über den "innovativen" Unternehmer er entgegen der Skepsis des späteren Schumpeter für weiterhin aktuell hielt. Er war aber deshalb kein Apologet des modernen Kapitalismus. Mit dem durch ihn populär gewordenen Begriff der Zwei-Drittel-Gesellschaft versuchte er vor der sozialen Exklusion großer Teile der Gesellschaft zu warnen. Die Redakteure dieser Zeitschrift haben diesen Begriff immer wieder scharf kritisiert, steckte doch in dem Bild von den "Zwei Dritteln" die Botschaft einer weiterhin funktionierenden Kooperation zwischen Kapital und dem noch politisch regulierten Kern der Lohnarbeit. In dieser Sicht war er ein Vordenker des späteren Dritten Weges der europäischen Sozialdemokratie. Die Exklusionsprozesse zu stoppen und rückgängig zu machen im Rahmen eines reformistischen Modells der Klassenkooperation, schien uns eine Fehleinschätzung sowohl der Entwicklung des Kapitals wie des neokonservativen Blocks an der Macht zu sein.

Glotz’ Konzeption einer modernen Linken unterschied sich ebenfalls eindeutig von der Anfang der 1980er Jahre populären Sicht eines Abschieds von der Arbeitsgesellschaft und daraus resultierenden dualwirtschaftlichen Utopien. Obwohl kein empirisch arbeitender Sozialwissenschaftler, war Glotz diesen Positionen gegenüber geradezu wirklichkeitsorientiert, also illusionsloser und nüchterner. Seine bei heutiger Lektüre ausgesprochen realistische Wahrnehmung sowohl der ökonomischen Dynamik des nachfordistischem Kapitalismus wie sein entschieden kritisch gemeinter Respekt vor dem Erfolgspotenzial des Neokonservatismus hat ihm gelegentlich den Vorwurf des Opportunismus eingetragen. Sachlich war das falsch. Glotz war kein Opportunist.

Im Gegenteil. Er war der Anstifter und Zuspitzer kontroverser Debatten, er suchte die politischen Auseinandersetzungen mit den Konservativen, innerhalb seiner Partei und mit der nichtsozialdemokratischen Linken. Glotz wollte mit einem erneuerten sozialdemokratischen Reformismus die SPD wieder in die Lage versetzen, eine intellektuelle und politische Meinungsführerschaft zu erringen. An dieser Aufgabe ist er gescheitert.

Seine Vorstellung von der sozialdemokratischen Partei basierte auf der "aufklärerischen Grundtendenz" linker Politik. Diese ist in der SPD in den 1980er Jahren Stück für Stück verloren gegangen. Gegenüber der neokonservativen Macht einerseits und der Attraktivität grün-romantischer Utopien von Wachstumskritik und dualwirtschaftlichen Idyllen wurde der deutschen SPD die Idee ausgetrieben, dass das Ziel sozialer Reform die zivilgesellschaftliche Regulation eines nachfordistischem Kapitalismus sei. Glotz diskutierte mit der nichtsozialdemokratischen Linken über den modernen Kapitalismus, aber große Teile seiner eigenen Partei hat er mit seinen Botschaften nicht mehr erreicht. Seine eigene strategische Fehlannahme bestand in dem Vertrauen, dass der "Waffenstillstand zwischen den Klassen", auf dem sein Konzept der "antagonistischen Kooperation" beruhte, stabil und von längerer Dauer war. "Die ökonomische Oberschicht kooptiert die Kernschichten der erwerbsfähigen Bevölkerung und verschafft ihnen einen akzeptablen bis komfortablen Lebenszuschnitt; eine große Minderheit ... wird nach unten ausgegrenzt." Mit dem Ende einer Phase der beschleunigten Kapitalakkumulation Mitte der 1970er Jahre war aber auch der "kurze Traum immerwährender Prosperität" (Burkart Lutz) und mit ihm der politische Klassenkompromiss des Sozialstaatskapitalismus beendet worden.

Obwohl Glotz relativ früh erkannte, dass im modernen Kapitalismus dem "geldwirtschaftlichen Prozess" gegenüber "der realen Produktion" die Führungsrolle zugekommen ist, hat er die damit verbundenen makroökonomischen wie politischen Risiken unterschätzt. Dass relative ökonomische Erfolglosigkeit in politische Aggressivität umschlägt, hat er am Rechtspopulismus studiert. Aber er hat diese Einsicht nicht übersetzt in eine entsprechende Analyse des Neoliberalismus und der dahinter stehenden politischen und intellektuellen Eliten, die durch die politisch-theoretische Schwäche oder genauer Substanzlosigkeit der SPD und die tarifpolitische Handlungsschwäche der Gewerkschaften zusätzlich motiviert wurden.

Zu einfach war auch die Redeweise vom Ende des "nationalen Keynesianismus", die er mit vielen Linken teilte. Zu optimistisch war sein theoretischer Rückgriff auf Schumpeter, mit dem er Mitte der 1990er Jahre versuchte, eine "neue Gründerzeit" auszumachen. Das "dritte Wirtschaftswunder", das er damals für möglich hielt, lässt noch heute auf sich warten.

Dabei hatte Schumpeter selbst darauf aufmerksam gemacht, dass der Kapitalismus dazu tendiert, seine eigenen institutionellen Grundlagen zu zerstören und damit auch die innovative Funktion des Unternehmers "veralten" zu lassen. Es war die große Leistung Karl Polanyis, herausgearbeitet zu haben, dass der selbstregulierende oder sich selbst überlassene Markt dazu tendiert, die Gesellschaft zu zerstören und deshalb der liberale Kapitalismus in ein politisch regulatives Marktsystem transformiert werden muss.

Das historische Scheitern der deutschen Sozialdemokraten geht auch darauf zurück, dass bezogen auf die "fiktiven Waren" (Polanyi) Kapital und Arbeit die Sozialdemokratie die Selbststeuerung von Finanz- und Arbeitsmarkt politisch massiv unterstützt, statt eingeschränkt und reguliert hat.

Glotz warb immer wieder für eine politisch-programmatische Neubestimmung der Sozialdemokratie. Gleichwohl sah er in der gegenwärtigen Programmdebatte, die das Berliner Programm ersetzen sollte, nur eine Verlängerung des Elends der Partei. In einem seiner letzten Beiträge, der in der Zeitschrift Cicero erschien, heißt es: "Ein neues Programm, kurz nach einer Wahl, neben allen daraus entstehenden Machtkämpfen beschlossen, wäre eine Fußnote, eine Petitesse, ein Gegenstand fürs Feuilleton der Überregionalen. Die Partei muss erst einmal feststellen, wo ihr der Kopf steht."

Auch an diesem Punkt wird erneut der Kern der Auseinandersetzung deutlich, die wir mit ihm hatten. In der Benennung der Themenfelder stimmten wir im Wesentlichen überein: Jede links geprägte Programmatik muss sich auf eine Analyse des modernen Kapitalismus und dabei vor allem auf die Rolle der Kapital- und Finanzmärkte stützen; jede Neuerfindung des Sozialstaates wird zur Fußnote, wenn die verteilungspolitischen Tendenzen des Shareholder Kapitalismus nicht durchdacht sind. Es gibt eine Übereinstimmung mit Glotz in der Frage, was nicht geht: "Mit einem schnell zusammengeschusterten Heuschreckenprogramm würde sich die SPD eine Bleikugel ans Bein binden." Die Analyse muss mehr bieten als eine Heuschreckenmetapher. In ihr darf aber nicht verschwiegen werden, dass der Kapitalismus mit Hilfe der Sozialdemokratie dereguliert wurde. Jede künftige Regulation muss eine weit höhere Qualität haben. Günter Grass fordert: "Wer den Kapitalismus vor dem Kollaps bewahren will, muss ihn wiederum zivilisieren, das heißt zur gesellschaftlichen Verantwortung im Sinn einer Sozialen Marktwirtschaft zwingen." Dies wird nicht reichen; wer einer erneuten Deregulierung vorbauen will, muss wesentliche Eckpunkte einer Wirtschaftsdemokratie einbauen.

Ein Blick auf die verschiedenen "Welten des Kapitalismus" in Europa hilft weiter, wenngleich in dieser Zeitschrift andere Schlussfolgerungen aus dieser Analyse gezogen wurden. Der gemeinsame Nenner unseres Problembewusstseins lautet: "›Reformpolitik‹ bedeutet nicht, dass man den kalifornischen oder britischen Kapitalismus kopieren muss. Aber was bedeutet sie?"

Logischerweise räumte Glotz der Wiedergewinnung der zum Linksbündnis abgewanderten AktivitstInnen und WählerInnen einen großen Stellenwert ein. "In dem notwendigen, aber übereilten Bestreben, die ›Linkspartei‹ wieder einzufangen, könnte die SPD auf aktuelle ökonomische und außenpolitische Analysen verzichten und auf die Einigungskraft gesinnungsstarker, aber unrealistischer Formeln zurückfallen, zum Beispiel auf das Berliner Programm."

Die mit dem Linksbündnis eröffnete Umgruppierung der politischen Kräfteverhältnisse kann von der SPD mit gesinnungsstarken Formeln nicht beeinflusst werden. Ob diese Entwicklung Zukunft hat, entscheidet sich daran, ob die Parteien und Kräfte der neuen Formation auch die Energie für systematische Diskussion mitbringen, die Zeit erfordern und Lernschmerzen auslösen. Glotz hat einen klaren Blick auf die Anforderungen: Es braucht gründliche Analysen und Debatten. Die programmatischen Schlussfolgerungen müssten systematisch kommuniziert werden, wie damals zu Zeiten des "Godesberger Programms". Dieser "Text (den die Massen natürlich auch nicht geradezu verschlangen) wurde durch die neue Führung ... systematisch und kampagnenmäßig verbreitet. Die Parteikader wurden in Seminare gehetzt, die Verbände in Gespräche gezogen ... die Intellektuellen auf Akademien, Tagungen und in Taschenbüchern umworben." Eine Umgruppierung der politischen Linken ist weit mehr als das Ergebnis einer Protestwahl, darin hat Glotz recht. Es steht noch nicht fest, wie dieser keineswegs nur auf die Berliner Republik beschränkte Prozess weitergeht. Die Stimme von Peter Glotz und seine Energie bei den politischen Auseinandersetzungen werden uns fehlen.

Literatur
Glotz, Peter: Die Beweglichkeit des Tankers. Sozialdemokratie zwischen Staat und neuen sozialen Bewegungen, München 1982.
Glotz, Peter: Die Linke nach dem Sieg des Westens, Stuttgart 1992.
Glotz, Peter/Thomas, Uwe: Das dritte Wirtschaftswunder. Aufbruch in eine neue Gründerzeit, Düsseldorf 1994.
Polanyi, Karl (1944): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a.M. 1978.
Schumpeter, Joseph A.: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1993.

Zurück