1. Juli 2005 Redaktion Sozialismus

Vorwärts und alles vergessen?

Die Meinungsforscher taxieren die Sozialdemokratie einige Wochen nach dem überraschenden politischen Coup ihrer Führung bei gut 27%. Die bisherige Regierungskoalition käme danach auf 37%. Der Abstand zu den Unionsparteien, die mit gut 46% gehandelt werden, und der FDP mit 8% ist derart groß, dass die Parolen der Wahlkampfmannschaft aus dem Willy-Brandt-Haus wie Pfeifen im Wald klingen.

Im NRW-Wahlkampf hatten SPD und Grüne immer wieder das Argument bemüht, dass sich viele WählerInnen erst unmittelbar vor der Stimmabgabe festlegen. Rückblickend ist klar, dass damit vor allem die eigenen Wahlkämpfer bei der Stange gehalten werden sollten. Die Richtung der Wahlentscheidung – das, was man die "politische Stimmung" nennt – wurde im Wahlkampf nicht gekippt. Rot-Grün wird sich nach den vorgezogenen Bundestagswahlen auf den Bänken der Opposition wiederfinden. Die nach Niederlagen in neun Landtagswahlen erzwungene Abstimmung über die Politik der Agenda 2010 hat nicht den Sinn, die politische Blockade zwischen Bundestag und Bundesrat aufzubrechen, sondern soll den Koalitionsparteien einen möglichst geordneten Abgang ermöglichen.

Allerdings verliert Schröders und Münteferings "Befreiungsschlag" mit der Zeit die anfängliche Disziplinierungskraft. Zunächst scharten sich die Mandats- und Funktionsträger hinter der Formel "Fortführung und Weiterentwicklung der Agenda 2010" – für die Durchlöcherung des Kündigungsschutzes und massiven Druck auf Arbeitslose, Kürzungen im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen und höhere Zuzahlungen der Patienten, Herabsetzung des Niveaus der gesetzlichen Alterssicherung und die Einführung der kapitalgedeckten Rente u.a. Es sei – so die SPD-Führung – eine "Richtungswahl", weil die "Agenda Arbeit" bzw. der "Pakt für Deutschland" der bürgerlichen Parteien nicht nur für radikalen Sozialabbau stehe; bei dem angekündigten Schleifen von Arbeitnehmerrechten handele es sich vielmehr um einen Systemwechsel. Die "Ankündigung, Mitbestimmung und Betriebsverfassung, Jugendschutz und Kündigungsschutz und vor allem die Tarifautonomie deutlich zu reduzieren, hat feudalistische Züge und ist ein Verrat an der sozialen Marktwirtschaft." (Müntefering)

Von Beginn an wurde die Notwendigkeit der Agenda 2010 damit begründet, man müsse die soziale Marktwirtschaft an die völlig veränderten Bedingungen einer globalisierten Welt anpassen. Geradezu klassisch die Argumentation von Schröder bei der Vorstellung der Agenda im Bundestag 2003: "Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden." Im Wahljahr 2005 ergänzt er: "Es sind nicht nur die anonymen und entfesselten Kräfte der Märkte, die das Soziale in unserer Wirtschaftsordnung und in unserer Gesellschaft bedrohen. Es sind sehr wohl ganz handfeste ökonomische und politische Interessen auch in unserem Land, die das Soziale in unserer Marktwirtschaft als lästig empfinden und als überflüssig beseitigen wollen. Kräfte, die hinter der verschleiernden Bezeichnung der ›neuen sozialen Marktwirtschaft‹ den bewussten Rückzug aus dem Sozialen betreiben. Wer wie CDU, CSU und FDP Arbeitnehmerrechte beschneiden, die Mitbestimmung einschränken und den Kündigungsschutz schleifen will, der legt die Axt an die Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft."

Mittlerweile verblasst die "Agenda 2010" als programmatischer Kompass. Die Regierungsparteien rudern zurück und spekulieren auf die Vergesslichkeit der WählerInnen. Auf die "Kapitalismuskritik" von Müntefering folgte das Plädoyer von Clement, Eichel & Co. für ein Ende der Lohnbescheidenheit – die Arbeitseinkommen müssten rauf, wenn es endlich besser werden soll. Auf dem Kongress "Zukunft der sozialen Marktwirtschaft" warnt die SPD-Führung vor Sozialabbau: Ein starker Staat müsse die Schwachen stützen. Jetzt ist von einer Millionärssteuer, einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Nachbesserungen bei Hartz IV, einer Erhöhung der Erbschaftssteuer und der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer die Rede. Die Sozialdemokratie entdeckt die "kleinen Leute" und die Grünen präsentieren sich als "moderne Linkspartei".

Diese Wendung war zu erwarten. Dahinter steckt keine selbstkritische Bilanz der "Reformpolitik". Rot-Grün hatte sich in der Regierungsarbeit – entgegen den Wahlprogrammen von 1998 und 2002 – immer für eine Angebotspolitik zur Optimierung der Wettbewerbsfähigkeit der bundesdeutschen Großunternehmen entschieden.

Doch trotz massiver Begünstigung der Kapital- und Vermögenseinkommen sind die Investitionen – des Kapitals wie des öffentlichen Sektors – auf einen Tiefstand gesunken. 2003/4 erreichte die Sachvermögensbildung im öffentlichen Bereich nicht einmal die Höhe der Abschreibungen. Die Akkumulation der Kapitale in diesem Land war keineswegs durch eine Wettbewerbsschwäche beeinträchtigt. Das erkennbare Defizit bestand und besteht in der Schwäche der Binnenkonjunktur. Es lohnt nicht im Land zu investieren, das Kapital sucht zu einem beträchtlichen Teil seine Verwertung im Ausland oder gibt sich mit einer geringen Verzinsung in öffentlichen Rentenpapieren zufrieden. Konsequenz: keine Wachstumsimpulse, kein sich selbsttragender Konjunkturaufschwung, kein Abbau der Arbeitslosigkeit. Den Preis für die "politische Rechthaberei" bezahlen die rund 15% in Armut lebenden Menschen und die rund 35% der Haushalte, deren soziale Lage als "prekärer Wohlstand" beschrieben wird. Sollte die nächste Bundesregierung einen weiteren Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen, wird das bittere Ergebnis sichtbar werden: Die soziale Polarisierung ist weiter voran geschritten.

Die Wirkungen dieser Politik lassen sich in drei Tendenzen zusammenfassen:

  Die ökonomische Entwicklung befindet sich auf einem Stagnationspfad mit verstärkt deflationären Tendenzen im Binnenmarkt. Auf dem Hintergrund steigender gesamtwirtschaftlicher Kosten der Massenarbeitslosigkeit wurde der Grundsatz existenzsichernder Erwerbsarbeit fallen gelassen und mit der Ausweitung von Niedriglohnsektoren die sozialstaatliche und rechtliche Ummantelung der Lohnarbeit aufgebrochen.

  In dem Maße, wie auch größere Teile der so genannten gesellschaftlichen "Mitte" sich als Verlierer von Strukturwandel und "Reform"politik sehen, findet eine soziale Entwurzelung der Sozialdemokratie statt. Die Entfremdung und bewusste Abstoßung von ihren traditionellen sozialen Milieus konnte nicht durch die dauerhafte Bindung neuer, aufstiegsorientierter Schichten kompensiert werden.

  Die "neue Sozialdemokratie" verfügt seit dem Scheitern der deutschen Variante des "Dritten Weges" über kein politisches Projekt mit Ausstrahlungskraft nach außen und Kohärenz nach innen. Der Grundwert "soziale Gerechtigkeit" ist nicht nur durch die praktische Politik, sondern auch in entnervenden Programmdebatten über "Ungleichheit als Chance" entwertet worden.

Vor diesem Hintergrund hat die politische Linke eine reelle Chance, das Kräfteverhältnis der etablierten Parteien aufzusprengen. Dabei geht es nicht nur um eine Umgruppierung jener unzufriedenen WählerInnen, die den etablierten Parteien trotz wachsender Unzufriedenheit bislang die Treue gehalten haben. Die Aufgabe besteht vor allem darin, auch dem großen Block der NichtwählerInnen ein über die Abstimmung zum neuen Bundestag hinausreichendes Angebot einer Aktivierung in einer zu erneuernden politischen Kultur der Linken zu machen.

Der Großteil der Bevölkerung lässt sich weder durch die wahltaktischen Manöver von SPD und Grünen noch von den im "Pakt für Deutschland" angekündigten Grausamkeiten beeindrucken. In einem aktuellen Bericht des Instituts für Demoskopie Allensbach heißt es: "Kühl, fast emotionslos sehen die Wähler der Wahl entgegen – überzeugt, dass es einen Wechsel geben wird und muss, aber ohne große Hoffnung, dass dieser Wechsel zu einem Aufbruch wird. Die Grundstimmung in der Bevölkerung ist skeptisch, fast resignativ... Zwei Drittel nehmen an, dass sich die künftige Bundesregierung mit der Lösung der Probleme ähnlich schwer tun wird wie die derzeitige Koalition... 44% der Bevölkerung rechnen bei einer CDU/CSU geführten Regierung mit härteren Schnitten in das soziale Netz". (Köcher, FAZ 15.6.05)

In den rot-grünen Regierungsjahren wurden die Arbeitnehmerrechte massiv beschädigt. Zwar konnte die geplante Einschränkung der Tarifautonomie (mit so genannten betrieblichen Bündnissen für Arbeit) durch massive Proteste abgewehrt werden. Aber der Zwang, unabhängig von erlerntem Beruf und erworbener Qualifikation jede Arbeit annehmen zu müssen, selbst wenn diese 30% unter Tarifniveau entlohnt wird, die Entkoppelung von Arbeitslosenunterstützung und Beitragszahlung und die Einführung des Bedürftigkeitsprinzips laufen auf einen Generalangriff auf die lohnabhängige Bevölkerung hinaus – und das wird auch so empfunden, wie die durch diese Maßnahmen herbeigeführte Angst vor Arbeitsplatzverlust in den Belegschaften zeigt.

Im "Pakt für Deutschland" der Unionsparteien sind weitere Einschnitte in das Sozialsystem angekündigt. Sie reichen bis hin zur Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Einführung eines Kopfprämienmodells. Vorgesehen sind die Beseitigung des Kündigungsschutzes für große Teile der Beschäftigten und eine massive Einschränkung der Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen. Das wird im Herbst zu einer deutlichen Verschärfung der sozialen Konflikte in Konfrontation mit den Trägern des neoliberalen Gesellschaftsprojektes führen.

Für die weitere Entwicklung zeichnen sich vier Tendenzen ab:

1. Das Linksbündnis ist zwar noch nicht über die vertraglichen Verabredungen hinausgekommen, die praktisch-politische Umsetzung auf Länderebene, dem eigentlichen Terrain der Stimmensammlung, steht noch aus. Sicherlich sind bei dem Zweckbündnis zwischen Wahlalternative und PDS etliche Umsetzungsprobleme zu erwarten. Aber bei den WählerInnen ist das Linksbündnis bereits angekommen, insofern ist die Gefahr des Scheiterns erheblich verringert. Das Linksbündnis wird in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen. Die Chance, Alternativen sichtbar zu machen, ist erheblich größer geworden. Der erneute Generalangriff auf die sozialen und demokratischen Rechte der Bevölkerung wird dadurch allerdings nicht aufgehalten.

2. Die Gewerkschaften bereiten sich auf die Konfrontation im Herbst vor. Betriebsverfassung, Tarifautonomie und soziale Rechte sollen verteidigt werden. Entscheidend für den Erfolg dieser Defensivkämpfe wird sein, ob es gelingt, über die Gewerkschaften hinausgehende soziale Interessen und Schichten in die Abwehrkämpfe einzubeziehen. Das politische Ziel muss die Formierung einer breiten zivilgesellschaftlichen Allianz sein, die sich für Lohnarbeit, Alterseinkommen, Krankenversorgung, qualifizierte Bildung für alle, Innovation und soziale Gerechtigkeit engagiert.

3. Die Hoffnung vieler WählerInnen auf eine konjunkturelle Belebung wird sich rasch als Illusion erweisen. Die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen deuten eher auf eine Verstärkung der Abwärtstrends hin. Die Fortführung der Umverteilungspolitik nach oben wird die geringe Investitionsneigung verfestigen. Weil die Bevölkerung mit dem Regierungswechsel keine großen Hoffnungen verbindet, wird die anfängliche Unterstützung für die Parteien des bürgerlichen Lagers sukzessive zurückgehen.

4. Die mittelfristige Perspektive des Linksbündnisses, die Schaffung einer neuen politischen Formation, in der neben Wahlalternative und PDS auch andere Kräfte aufgehoben sein könnten, ordnet sich in dieses Szenario ein. Bereits wenige Monate nach den Bundestagswahlen stehen mehrere Landtagswahlen ins Haus.

Das Linksbündnis wird sich dann als zukunftsfähig erweisen, wenn es sich in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen profiliert. Das Parlament ist ein zentrales politisches Forum und es gilt dort Alternativen zu den Parteien der in den letzten Jahren regierenden Großen Koalition sichtbar zu machen.

Wer dagegen geltend macht, mit dem "Versuch, die Enttäuschten zu sammeln und zu bündeln und zu einer parlamentarischen Vertretung zu führen",[1] müsse gewartet werden, bis die zivilgesellschaftlichen, "außerparlamentarischen Bewegungen eine bestimmte Stärke erreicht haben", verkennt das erreichte Ausmaß der Erniedrigung und Enteignung vieler sozial Ausgegrenzter in ihrem Status als Citoyen. Ihnen gegen das abgeschottete politische Feld zu einer Stimme zu verhelfen, ist selbst ein Beitrag gegen die weitere Zerstörung unserer demokratischen Kultur und kann nicht als "technische Maßnahme" kleingeredet und gar mit dem Verdacht rechtspopulistischer Befriedigung von "Ordnungsbedürfnis" belegt werden. Den "Angstrohstoff" in der Gesellschaft, auf den Oskar Negt immer wieder zu Recht verweist, hat in den zurückliegenden Jahren Rot-Grün vermehrt, sich zugleich aber mit ihrer Agenda-Politik "markttechnischer Lösungen" als Interessenvertretung großer Teile der Arbeitnehmer und sozial Schwachen verabschiedet und den Umgang mit dem Rechtspopulismus zur bloßen Übung in Sonntagsreden gemacht.

In der Tat wird damit die Bekämpfung des Rechtspopulismus Bestandteil der Politik einer "Wahlalternative" jenseits von Rot-Grün sein müssen. Aber was Negt als "Reflexionszeit" der SPD immer noch einzuräumen bereit ist, sind auf Seiten des neuen Linksbündnisses "Gründe zum Handeln" (Bourdieu). Die von vielen in diesem Prozess der Bildung eines Linksbündnisses durchlaufenen Lernprozesse haben auch ein Potenzial "soziologischer Phantasie" und führen dazu, dass sich AktivistInnen in den gesellschaftlichen Konflikten engagieren und die Bündelung der oppositionellen Initiativen und Bewegungen zu befördern suchen.

Wichtig wird dabei sein: In Foren, Arbeitskonferenzen und Kongressen sind die Inhalte und Konzeptionen des Linksbündnisses zur Debatte und kritischen Korrektur zu stellen. Gelingt es, die gemeinsame Front gegen den neoliberalen Gesellschaftsumbau zu stärken und zugleich die politisch-theoretischen Differenzen in einem Klima von Fairness und Respekt zu verhandeln, dann war die gemeinsame Liste zu den vorgezogenen Bundestagswahlen der Startschuss zu einer weiterreichenden Umgruppierung der Linken, die auch für eine mögliche Neugruppierung einer linken Strömung innerhalb der Sozialdemokratie relevant sein wird.

Zu Recht warnen die Demoskopen: "Der Einzug eines Linksbündnisses in den Deutschen Bundestag hätte für sich genommen noch keine destabilisierende Wirkung, sondern entfaltet erst dann Sprengkraft, wenn die Konsolidierung der SPD misslingt." Dabei steckt nicht nur die deutsche, sondern die europäische Sozialdemokratie insgesamt in einem "epochalen" Transformationsprozess, der noch keineswegs zu Ende ist. Er wird zeigen, ob und wieweit es der Sozialdemokratie gelingt, sich aus bürgerlich-neoliberaler Hegemonie zu befreien.[2]

Gerade vor diesem Hintergrund gilt: Nutzen wir die Chance zum Aufsprengen! Erstmals seit langem besteht die reelle Chance, aus den beiden Faktoren der politischen Linken – WASG und PDS – eine wirklich neue, Traditionalismen, Verkrustungen und parteipolitische Enge überwindende neue Formation zu entwickeln.

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