26. September 2013 Joachim Bischoff / Hasko Hüning / Björn Radke

Wahlen mit Sprengkraft

Kategorie: Große Koalition

Die christliche Union gewinnt – auch wegen der Popularität der Bundeskanzlerin – die Bundestagswahl triumphal. Die FDP scheitert kläglich und ist in der kommenden Wahlperiode nicht mehr im Bundestag vertreten. Auch die rechtspopulistische AfD schafft es nicht ins Parlament, kündigt aber – gestützt auf 4,7% WählerInnenzuspruch – ihre weitere politische Karriere an.

Die Wahlen werden die politische Landschaft deutlich verändern: Die Unionsparteien verfehlten eine absolute Sitzmehrheit nur knapp, stehen vor schwierigen Koalitionsverhandlungen und hoffen auf stabile Regierungsverhältnisse. Die FDP will sich politisch neu erfinden – sowohl programmatisch als auch personell. Die Grünen wechseln ihr Führungspersonal weitgehend aus und eröffnen eine Grundsatzdiskussion über ihre weitere Strategie und die Sozialdemokratie schält sich mühsam aus der politischen Schockstarre und rennt der Idee einer zweiten Bändigung des Finanzmarktkapitalismus hinterher.

Die Unionsparteien haben nach vier Jahren ökonomisch-sozialer Krisenbewältigung bei leicht gestiegener Wahlbeteiligung über 3,5 Mio. Stimmen hinzugewonnen (+7,7%). Die griffige politische Formel, Merkel habe sich der Parole von Adenauer 1957 »Keine Experimente« bedient, trifft diese tektonische Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen nicht. Die Union hat unter der Führung von Angela Merkel die konservative Partei in den zurückliegenden Jahren modernisiert (Abschaffung der Wehrpflicht, Ausstieg aus der Atomenergie, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Ausstieg aus dem gegliederten Bildungssystem). Unter der Formel »Maß und Mitte« hat sich die Union schrittweise in die Mitte der Gesellschaft vorgeschoben. Sie hat ihren nationalkonservativen Flügel verkümmern lassen und die Verteidigung der neoliberalen Deregulierungspolitik den Liberalen zugeschoben, die ihre langwierige Abwärtstendenz möglicherweise mit ihrer politischen Existenz bezahlen müssen.


1. Der sozialdemokratisierte Konservatismus war erfolgreich

Das überragende Votum für die bürgerlichen Unionsparteien (18 Mio. Stimmen bzw. 41,5%) hat entscheidend mit dem Scheitern der neoliberalen Deregulierungspolitik zu tun. In der seit Jahren anhaltenden Großen Krise der Kapitalakkumulation haben sich die Zweifel am demokratischen Kapitalismus auch innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Elite ausgebreitet. Kritik und Zweifel an der kapitalistischen Marktwirtschaft beschränken sich angesichts der anhaltenden Krise nicht auf die üblichen Verdächtigen, sondern haben weite Kreise des Bürgertums erfasst. Konsequenz: Die Union bekannte sich zu »Maß und Mitte«,[1] hatte keinen Hang zu Systemauseinandersetzungen und erklärte die Verbesserung des sozialen Ausgleichs zur Zielsetzung. Diese Ausrichtung wurde von konservativen Kritikern als Prinzipienverrat und Politik des Gemischtwarenladens kritisiert.

CDU/CSU haben also einen – innerparteilich zum Teil heftig umstrittenen – Modernisierungsprozess durchlaufen. Energiewende, Mindestlöhne, Mietendeckelung, öffentliche Kinderbetreuung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften sind Themen, in denen sich die Merkel-CDU gesellschaftlichen Mehrheiten angepasst hat, gegen die der organisierte Konservatismus in Deutschland noch vor Jahren vehement opponiert hatte. Viel davon kann man als nachholende Modernisierung deuten. Ursächlich sind weniger ideologische Kurswechsel (»Sozialdemokratisierung der CDU«), als vielmehr reale Problemlagen. So ist Deutschland noch eines der wenigen Länder in Europa, das keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn hat (oder ein entsprechend funktionelles Äquivalent wie eine hohe Tarifbindung beispielsweise in Österreich). Nahezu ein Viertel der Lohnabhängigen arbeiten im Niedriglohnsektor – in der EU nur noch übertroffen von Litauen. Die Folge: Wachsende Lohnspreizung und Konkurrenz bringen soziale Unsicherheit und Ängste auch für relevante Teile der so genannten Mittelklassen. Auf deren Unterstützung kann eine politische Kraft mit hegemonialem Anspruch aber nicht verzichten. Die Strategie der Merkel-CDU ist es, sich diesen auch mentalen Veränderungen anzupassen.

Und nur in dem Maße, indem sie dies tut, ist sie in der Lage, politische und gesellschaftliche »Sicherheit« als Botschaft zu kommunizieren. Verschiedentlich ist dies als »mitfühlender Konservatismus« (»compassionate conservatism«) bezeichnet worden. Man mag über den Begriff streiten, steht doch dahinter keine neue »Weltanschauung« im Sinne Gramscis, kein neues Programm eines integrierten Bürgerblocks. Merkels Methode ist eine andere: pragmatisches Abarbeiten von Problemen und Widersprüchen, die einem Muddling through im Wege stehen. Darin steckt auch Anpassung an die Krise der politischen Repräsentation. Dass von der politischen Klasse umfassende Lösungsangebote nicht mehr erwartet werden, macht gerade die Stärke ihrer Methodik des Durchwurschtelns aus.

Der massive Stimmengewinn für die Union wird nur aus dem Zusammenhang einer Grundstimmung verständlich: einerseits das Verblassen der Krise in Deutschland, relative Zufriedenheit mit der eigenen ökonomischen Situation einer großen Mehrheit der Bevölkerung und die Zusage, diese Befriedungspolitik fortzuführen. Es dominiert die Erinnerung an die Krise; die Mehrheit der WahlbürgerInnen bevorzugt daher die Werte Pragmatismus, Ideologiefreiheit und Kompromiss. Charakteristisch: Auch die Mehrheitspartei übernimmt die Forderungen nach einem Mindestlohn und einer Begrenzung der Mietpreissteigerungen. Keine Experimente, keine großen (Ent-)Würfe, Politik als kontinuierlicher Reparaturbetrieb. Die Kanzlerin personifiziert diese politischen Ansprüche. Ohne Krise stünde die Frage weitaus bohrender im Raum, wohin sie das Land eigentlich führen möchte.


2. Der Absturz der FDP

Auch hier muss der Zeitgeist »Neoliberalismus« herangezogen werden, der zur größten Finanz- und Bankenkrise geführt hat. Die Liberalen haben als »Steuersenkungs- und Marktwirtschaftspartei« 2009 einen historischen Wahlsieg errungen und konnten wegen der anhaltenden Krise von ihren Versprechen in der Koalition mit der Union (fast) nichts durchsetzen. Seit ihrem Rekord von 14,6% hat die FDP einen dramatischen Niedergang erlebt, ist in Umfragen in rasender Geschwindigkeit abgestürzt und taumelte in eine chronische Personalkrise. Jetzt steht mit dem Scheitern der marktradikalen, neoliberalen Programmatik die Existenz der FDP zur Disposition. Sie konnte sich nicht mehr als politische Gestaltungskraft profilieren, sondern nur mehr als Korrektiv einer sich sozialdemokratisierenden Union.

Kern des christdemokratischen »Regierungsprogramms 2013-2017« ist die Festlegung auf die Haushaltskonsolidierung. Doch die CDU setzt auch auf höhere Steuereinnahmen und Umschichtungen im Haushalt; es gäbe genügend Finanzspielräume für Reformvorhaben. CDU und CSU haben daher auch milliardenschwere Wahlversprechen verkündet, wie Verbesserungen für ältere Mütter bei der Rente, finanzielle Entlastung für Familien sowie Investitionen in Infrastruktur und Bildung. Die marktradikale FDP reagierte auf das Wahl- und Regierungsprogramm der Union als ordnungspolitische und neoliberale Schutztruppe. Die Union wolle sich »vom süßen Gift des Geldausgebens« leiten lassen, so FDP-Chef Rösler. Den Wunsch nach höheren Renten für ältere Mütter bezeichnete er als nicht finanzierbar, Beitragserhöhungen für die Sozialkassen wären die Konsequenz.

Die große Mehrheit der Bevölkerung hält nicht nur den aktuellen Stand der Verteilungsgerechtigkeit für unbefriedigend, sondern ist auch überzeugt, dass soziale Gerechtigkeit in Deutschland eher auf dem Rückzug ist. Knapp zwei Drittel der Bevölkerung sind der Auffassung, dass die soziale Gerechtigkeit in den letzten drei, vier Jahren abgenommen hat, lediglich 7% sehen eine positive Entwicklung.

Der Absturz der FDP auf 4,8% der WählerInnen und damit unter die Hürde der nationalen parlamentarischen Existenz ist Ausdruck des Scheiterns neoliberaler Gesellschaftspolitik und der massiven Sehnsucht nach Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit. Die Führung der FDP und der Parteivorsitzende Rössler hatten zunehmend Schwierigkeiten, sich mit der marktradikalen Konzeption durchzusetzen. Der Cocktail von Wirtschaftswachstum, Sanierung öffentlicher Finanzen und mittelständischer Klientelpolitik (Gesundheit, Justiz) stieß bei den BürgerInnen auf immer geringere Zustimmung. Offensichtlich hatte die FDP Schwierigkeiten, ihre programmatische Erweiterung von einer Steuersenkungspartei glaubhaft zu vermitteln.

Hauptpunkt der politischen Agenda der Liberalen: die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme. Das auf dem Umlageprinzip basierende Sozialversicherungssystem in Deutschland sei angesichts der demografischen Umbrüche nicht mehr zukunftsfähig. Notwendig wäre stattdessen eine konsequente Einführung von Kapitaldeckungselementen in der Gesundheits-, der Pflege- und der Altersvorsorge. Schlussfolgerung: »Staatliche Zwangssysteme wie etwa die so genannte ›Bürgerversicherung‹ lehnt die FDP strikt ab.«

Die Partei der Besserverdienenden und Vermögenden hat ungetrübt jedes volkswirtschaftlichen Sachverstands eine Politik der Besitzstandswahrung verfolgt. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit, bis in der großen Finanz- und Wirtschaftskrise die Zukunftslosigkeit des programmatisch-ideologischen Fundamentes offenbar wurde.

Eine Funktionspartei, die nur noch in einem Bundesland in einer Regierungskoalition steckt (Sachsen), erübrigt sich. Dass Organisationen wie der Bundesverband der Deutschen Industrie dies bedauern, ist nachvollziehbar. Möglicherweise reicht deren Parteienfinanzierung aus, um den wirtschaftlichen Kollaps der FDP aufzuhalten – die Wahlkampfkostenerstattung fällt jedenfalls niedrig, die Wahlkampfverschuldung umso höher aus, Abgeordnetengelder entfallen. Doch mit der Auswechselung der Führungsmannschaft müsste schon eine neue Leitidee des »organisierten Liberalismus« verknüpft sein, die derzeit – auch in Zeiten eines globalen Geheimdienstnetzwerkes, das einem Liberalismus à la Gerhard Baum jede Menge Munition geliefert hätte – nur schwer zu erkennen ist.


3. AfD ante portas?

Mit der »Alternative für Deutschland« (AfD) hat eine in größeren Teilen rechtspopulistische Mannschaft in kürzester Zeit (seit Mai/Juni 2013) starken Zulauf erhalten und ist nur knapp mit 4,7% (über zwei Mio. WählerInnen) am Einzug in den Bundestag gescheitert. Der AfD-Vordenker Gauland kommentiert wohl zurecht: »Wenn die FDP in der schwarz-gelben Koalition ihre Versprechen gehalten hätte, dann gäbe es die AfD heute nicht, wir sind gewissermaßen die politischen Erben der FDP.« Die AfD stellt die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen ins Zentrum, sie nimmt den Übergang in das nationalstaatliche Gehäuse (vom Geld bis zur Staatsbürgerschaft) in Kauf, gleichgültig wie die europäischen Nachbarstaaten ihre massive Krise bewältigen. Einwanderung ja, aber nur ohne Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen und einen sozialen Ausgleich. Diese radikalisierte Haltung, die sich schon in der CSU-Parole von einer Maut für Ausländer anbahnt, bietet Stoff für eine rechtspopulistische Programmatik.

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai kommenden Jahres sehen die Chancen für die AfD noch besser aus, zumal, wenn es noch mehr gelingt, die populistischen Kräfte aus der Rumpf-FDP abzuziehen. Eine äußerst brisante Neuformierung des bürgerlichen Lagers zeichnet sich damit in Deutschland im Anschluss an Verhältnisse wie beispielsweise in Österreich ab.

Die Zertrümmerung der FDP, die Formierung einer nationalorientierten, rechtspopulistischen Partei und eine zwischen Widerborstigkeit und Lähmung schwankende Sozialdemokratie sind eine Gefahr für eine sozialdemokratisierte christliche Volkspartei mit ihrer Zielsetzung, auch künftig stabile Regierungsverhältnisse zu etablieren.


4. Die SPD im Zwiespalt

Die Sozialdemokratie hat auf 25,7% zugelegt, bleibt aber weit davon entfernt, wieder zu einer politisch hegemonialen Kraft zurückzukehren. Immer noch hängt der Partei an, dass sie Ende der 1990er Jahre in Europa und Deutschland der neoliberalen Deregulierungs- und Privatisierungspolitik ein soziales Antlitz verpassen wollte. Die gesellschaftspolitische Ideologie des Neoliberalismus war tief in die Reihen der europäischen Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung eingedrungen.

Mit der Agenda 2010 brüskierte die SPD vor gut zehn Jahren Teile der Gewerkschaften und den linken Flügel der SPD. Die Arbeitsmarktreformen von Gerhard Schröder rissen damals tiefe Wunden in die Seele der Sozialdemokratie. Der Parteivorsitzende Gabriel konstatiert nach dieser Erfahrung: Die »Bändigung des Kapitalismus« sei mehr denn je Aufgabe seiner Partei. »Heute wissen wir, Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit setzen sich nicht einfach als ›geschichtliche Notwendigkeit‹ durch. Es kommt immer wieder vor, dass einst mühsam erkämpfte Errungenschaften in Gefahr geraten. Ich hoffe aber, dass wir nicht mal mehr zehn Jahre brauchen, um unser aktuelles größtes Problem in den Griff zu bekommen: die Bändigung des Finanzkapitalismus. Das ist unsere aktuell wichtigste Aufgabe.«[2]

Aber die Umsetzung der neuen Zielsetzung blieb halbherzig und unglaubwürdig. Nach wie vor spielt auch der Stolz auf die Agendapolitik in der SPD eine Rolle. »Die Agenda 2010 hat maßgeblichen Anteil daran, dass Deutschland so gut durch die Wirtschaftskrise durchgekommen ist.« Die Partei will also beides: Sie ist stolz auf die Agenda 2010, will hier ohne wesentliche Korrekturen einiges nachbessern und doch zugleich eine zweite Bändigung des Kapitalismus erreichen. Noch hat die Mehrheit keine Vorstellung davon, dass dies nicht zusammengeht.

Die SPD hat mit einer partiellen Neuausrichtung eine Verschiebung in Richtung Mitte-Links erreicht. Durch Korrekturen in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik soll die unter dem Druck der ökonomisch-sozialen Verhältnisse zerbröselnde gesellschaftliche Mitte stabilisiert werden. Denn die permanente Erfahrung von Unsicherheit, Konkurrenz und Unterlegenheit in der marktradikalen Welt der letzten 20, 30 Jahre habe für viele Menschen das Mindestmaß an individueller sozialer und kultureller Sicherheit infrage gestellt. Kann aber in einer neuen großen Koalition eine wirksame Regulierung und Neuordnung des Arbeitsmarktes erreicht werden?

Die SPD sieht klar, dass die Union auf eine große Koalition als Regierungsoption für die neue Legislaturperiode schielt. Dabei ist offenkundig, dass ihre vermeintliche Integrationsformel von »wirtschaftlicher Dynamik« (Agenda 2010) und »sozialer Teilhabe« (Neuaustarierung sozialer Regulierung, Beispiel Leiharbeit und Mindestlohn) abgegriffen und durch soziale Zumutungen entwertet ist. Ihre Zielsetzungen sind formelhaft geblieben, blass im Hinblick auf Krisen- und Zukunftsherausforderungen – und ihr Personaltableau verleiht dieser Blässe nur Ausdruck. Für die Gesamtlinke absolut kein Anlass zur Häme: Ohne eine erneuerte Sozialdemokratie bleibt die Idee einer politischen Mehrheit für die Linke eine Illusion.


5. Niedergang der Grünen

Das Wahlergebnis der Grünen kann nicht überraschen. 10,7% markierten als Ergebnis der Bundeswahl von 2009 den Aufstieg in die parteipolitische Spitzenliga. Vor zwei Jahren, unter dem Eindruck des Atom-Gau in Fukushima, waren die grünen Atomkraftgegner noch stärker im Stimmungshoch. Sicher, die Zustimmungswerte von über 20% waren eine aktuelle Überzeichnung, die auf mittlere Sicht keinen Bestand haben konnten. Allerdings sahen die Demoskopen die Grünen im Frühjahr 2013 noch bei 15-16% und in der grünen Partei hatte sich eine Hochstimmung breitgemacht: Es schien ein Ergebnis erreichbar, das deutlich über den Werten bei der Bundestagswahl 2009 lag.

Im Gegensatz zum parteioffiziellen Optimismus hat aber die letzten Monate vor der Wahl ein kontinuierlicher Sinkflug eingesetzt. Im Ergebnis sind die Grünen sogar deutlich hinter ihrem Wahlergebnis von 2009 geblieben. Es bleibt die Frage, weshalb die Grünen ihre Position in den zurückliegenden Monaten nicht stabilisieren konnten. Und ob jetzt der Niedergang beendet ist.

Grüne standen jahrelang für Umweltbewusstsein, für saubere Energie, für Nachhaltigkeit und Chancengleichheit in der Bildungspolitik. Mit dem Ausstieg aus der Atomenergie haben die Parteien des bürgerlichen Lagers eine wesentliche Kurskorrektur vorgenommen. Der Ausstieg ist unumkehrbar. Es geht vor allem um den Einstieg in eine Zukunft mit regenerativen Energien. Die berechtigte Kritik an der Umsetzung der Energiewende ist in der Programmatik der Grünen zu schwach betont; es fehlt an konzeptioneller Überzeugung, dass es die Grünen wirklich besser machen könnten.

Grünen-Chef Cem Özdemir räumte diesen und weitere Fehler im Bundestagswahlkampf ein. Es sei vor allem nicht gelungen, der auf Steuererhöhungen konzentrierten öffentlichen Debatte eine andere Richtung zu geben. »Das ist sicherlich ein Punkt, wo man auch als Grüne sagen muss, das haben wir nicht so richtig gut geschafft.« Diese Schwäche zählt um so mehr, als die Grünen eben auch Mitglieder und WählerInnen aus den wohlhabenden sozialen Schichten rekrutierten. Schließlich wurden die Grünen in eine Pädophilie-Debatte verwickelt, mit der ein aufgearbeitetes Kapitel aus der Vergangenheit aktualisiert wurde. Bei den Grünen gab es in den 1980er Jahren die programmatische Forderung nach Straffreiheit für sexuelle Handlungen mit Kindern. Dies bleibt ein dunkles Kapitel in der Parteigeschichte; es ist unbestreitbar, dass eine solche Diskussion stattgefunden hat. Die Grünen haben sich längst von solchen Forderungen getrennt, gleichwohl konnte dies im Wahlkampf zum Thema erhoben werden.

Diese kritischen Punkte haben eine Mobilisierung des gegnerischen Lagers ermöglicht und die Ausschöpfung des eigenen WählerInnenpotenzials behindert. Damit wurde der Plan der Parteistrategen durchkreuzt, neben der schwächelnden SPD und vor der LINKEN als einzig wahre Oppositionspartei wahrgenommen zu werden.

So wird denn innerhalb der grünen Partei bei Steuererhöhungen und Eingriffen in die Verteilung zurückgerudert. Zudem gibt es auch den Versuch, das Thema der »sozialen Gerechtigkeit« zurückzunehmen und sich stärker auf die besserverdienende Mitte zu konzentrieren: »Zwischen der SPD und der LINKEN ist für die Grünen kein Platz.« (Kretschmann)
Mit dem angekündigten Rücktritt will die grüne Führung die der Partei drohende Zerreißprobe zwischen den auf die bürgerliche Mitte orientierenden Kräften und jenen, die für eine Orientierung links der Mitte stehen, die Schärfe nehmen. Ob das gelingt und die Grünen als »Lager verbindende Kraft« überleben, wird zu einer existenziellen Frage.


6. Die Linkspartei erholt

DIE LINKE hat ein überraschend gutes Wahlergebnis erzielt. Sie wurde drittstärkste Partei vor Grünen und CSU. Sie hat zwar gegenüber 2009 knapp 1,5 Mio. Stimmen weniger, aber die 8,6% im Bund und der Wiedereinzug in den hessischen Landtag hätten ihr auch parteiintern vor Wochen wenige zugetraut. Auch in den westlichen Bundesländern kam sie wieder über fünf Prozent, was ihre Rolle als bundespolitische Partei unterstreicht. Die Linkspartei hat den drohenden Niedergang seit dem Göttinger Parteitag 2012 abgewendet, was sicherlich eine politische Leistung der neuen Fraktions- und Parteiführung war.

Die Linkspartei hat sich in Absetzung zu den langjährigen ideologischen Grabenkämpfen für eine Überwindung der neoliberalen Politik eingesetzt. Die Kriegsrhetorik der Westmächte im syrischen Bürgerkrieg verdeutlicht die Position der Linkspartei, dass die zurückliegenden Kampfeinsätze im Irak oder Afghanistan keinen Fortschritt in der Lösung der Konfliktkonstellationen gebracht haben. Das Argument, dass mit militärischen Mitteln gravierende gesellschaftliche Fehlentwicklungen und Bürgerkriegssituationen nicht zu lösen sind, hat deutlich an Zustimmung gewonnen.

Seit Monaten war eine kontinuierliche Verbesserung der Werte zu beobachten. Dabei ist eine leichte Verschiebung des Zuwachses in Ost- und Westdeutschland zu verzeichnen. In den alten Bundesländern hat DIE LINKE in den meisten Bundesländern (Ausnahme: Bayern und Baden-Württemberg) die Fünf-Prozent-Marke überschritten, wobei es aber in den meisten Ländern am landes- und kommunalpolitischen Unterbau fehlt. In Hessen konnte sie mit 5,2% den Wiedereinzug in den Landtag erreichen.

Gleichwohl: Das Gesamtergebnis weist gegenüber der Wahl von 2009 einen Verlust von knapp 1,5 Mio. Stimmen aus, der sich mit 973.000 (-32.7%) auf den Westen und mit 429.000 (-19,7%) auf den Osten der Republik verteilt. Die Partei wurde seit vielen Jahren in Ostdeutschland als Volkspartei gehandelt. Diesen Status droht sie nun zu verlieren, und dafür gibt es zumindest zwei bedenkenswerte Anhaltspunkte:

1. Außer im Saarland waren die Verluste der Linkspartei nirgends so groß wie in den neuen Bundesländern. Diese Verluste an Zweitstimmen sind in den einzelnen Bundesländern durchaus signifikant. Halten sie sich in Berlin mit einem Minus von 5,2% noch in Grenzen, so lassen sie in den anderen Ländern aufhorchen: Sachsen mit –15,4%, Thüringen mit -18,7%, Brandenburg mit -21,3%, Mecklenburg-Vorpommern mit -25,8% und schließlich Sachsen-Anhalt mit -27,6%.

In Berlin hat die Partei mit 18,5% der Zweitstimmen ihren Platz als zweitstärkste Partei an die SPD abgeben müssen. Dazu mit beigetragen hat auch, dass sie im Ostteil der Stadt nun unter die 30%-Marke gerutscht ist.

2. Von den ehemals 16 Direktmandaten gingen in diesem Wahlgang 12 verloren und wurden allesamt von CDU-Mandatsträgern erobert. Die Verluste bei diesen Erststimmen bewegen sich zwischen 0,5% in Rostock und 33,7% in Cottbus. Von den noch vier in Berlin gewonnenen Direktmandaten konnte nur eins (Pankow) bei den Erststimmen einen Zugewinn erzielen (3,9%), für die drei anderen Direktmandate gab es Verluste von 2,0%, 11,2% und 15,6%.

Alles in allem: In Ostdeutschland bleibt DIE LINKE zwar stärkste Kraft, doch das ehemals rote Brandenburg (der »rotrote Brandenburger Weg«) könnte mit dieser Wahl die zukünftigen politischen Auseinandersetzungslinien aufweisen: Der »rote Adler« Brandenburgs ist nahezu schwarz, denn neun von zehn Wahlkreisen holte die CDU und steigerte ihren Zweitstimmenanteil von 23,6% in 2009 auf nun beachtliche 34,8%.

Die Zeiten einer linken Reformalternative qua einfacher Bündnispolitik verschiedener alternativer Parteien und Strömungen scheinen vorbei. Eine Alternative jenseits des modernisierten Konservatismus braucht einen konsistenten Entwurf von Gesellschaft, braucht ein oppositionelles gesellschaftliches Projekt über pragmatisches »Auf-Sicht-Fahren« hinaus, das über die einfache Addition politischer Positionen hinausweist.

DIE LINKE wird keinem Druck der Koalitions- und Regierungsbildung ausgesetzt sein. Im Unterschied zur Sozialdemokratie und den Grünen könnte der (relative) Erfolg zu einer weiterführenden, selbstkritischen Entwicklung der Organisation und Verstärkung der politischen Strategie genutzt werden. Eine selbstbewusste Linke wird sich darüber klar werden müssen, dass mit Eingriffen in die Verteilungsverhältnisse Rückwirkungen auf die Produktionsstrukturen entstehen. Eine Reformkraft muss daher bestrebt sein, auch Kompetenzen für Wirtschaft und Arbeit zu erwerben, um ein parteiübergreifendes Projekt gesellschaftlicher Transformation mehrheitsfähig zu machen.


7. Schwierige Regierungsbildung

Die christdemokratische Union steckt trotz des triumphalen Wahlsiegs in einer paradoxen Situation. Sie hat die Wahl furios gewonnen, die absolute Mehrheit der Sitze knapp verfehlt und steht nun vor dem Problem, sich ohne zu viel politischen Substanzverlust mit einem Koalitionspartner arrangieren zu müssen. Die theoretisch denkbaren Varianten einer Minderheitsregierung, also einer von SPD oder Grünen tolerierten Regierung, lehnt die Unionsführung ab. Deutschland brauche »eine stabile Regierung«. Die innerhalb der Union starke CSU hat deutlich gemacht, das es für sie zwei Punkte gibt, die »nicht verhandelbar« seien: das »Betreuungsgeld« und die Pkw-Maut für Ausländer. »Ich unterschreibe nach der Bundestagswahl keinen Koalitionsvertrag, in dem die Einführung der Pkw-Maut für ausländische Autofahrer nicht drinsteht«, so Parteichef Seehofer. Er will noch vor Koalitionsverhandlungen mit der SPD eine Grundsatzeinigung mit der CDU im Streit um eine Pkw-Maut. »Der inhaltliche Korridor einer möglichen Entscheidung wird klar sein, bevor sich CDU und CSU mit der SPD treffen.« Die CSU versucht die Verhandlungsspielräume der Kanzlerin einzuengen, so auch in der Frage einer schwarz-grünen Option. Eine solche ginge nicht ohne ein inhaltliches Entgegenkommen zugunsten weiterer Modernisierungen des konservativen Konzepts. Dazu ist die CSU nicht bereit.

Aber auch bei der Option Große Koalition sind große Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Innerhalb der SPD gibt es starken Widerstand, weil die Sozialdemokratie mit ihrem Erneuerungsanspruch durch die bürgerliche Umklammerung scheitern müsste. Die Position der schwachen SPD-Linken: »Wir machen keinen Steigbügelhalter für schlechte Politik.« Es gäbe in Kernpunkten sozialdemokratischer Politik keine Anschlussfähigkeit an die Union. Die Chefin der starken NRW-SPD, Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, betont, die SPD sei bei der Bundestagswahl nicht angetreten, um als Mehrheitsbeschafferin die Union an der Regierung zu halten. Dennoch werde sich die SPD Gesprächen mit der Union nicht verweigern. Allerdings brauche Demokratie auch eine starke, lebendige Opposition.

Der Union kann die Europakrise und ein weiterer Zulauf für die eurokritische AfD nicht gleichgültig sein. Finanzminister Schäuble ist davon überzeugt, dass sowohl mit Grünen als auch SPD im Falle einer Koalitionsbildung der bisherige Kurs in der Euro-Schuldenkrise fortgeführt werden kann. »Die Bundeskanzlerin ist eine der zentralen Persönlichkeiten in Europa.« Man habe unbeirrbar Kurs in der Euro-Politik gehalten. »Das muss im Interesse Deutschlands und unserer Zukunft auch so bleiben.«

Ob diese Ausrichtung Kontinuität haben kann, ist fraglich. Martin Schulz, der sozialdemokratische Präsident des europäischen Parlaments, will eine Aufweichung des bisher harten Austeritätskurses für die Krisenländer: »Für mich sind drei Punkte zentral. Punkt 1: Wir müssen die Politik der Haushaltskürzungen ergänzen um eine Wachstumsstrategie für Europa. Nur so kommen wir aus der Krise. Nur so können Schulden abgebaut werden, denn kein Haushalt lässt sich ohne Wachstum konsolidieren.

Punkt 2: Wir haben eine stabile Währung, aber kein stabiles System. Europa braucht eine Wirtschaftsregierung, in der am besten der Währungskommissar der Eurogruppe vorsitzt. Wir müssen es schaffen, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten gemeinsamen Regeln zu unterwerfen.

Punkt 3: Die Bankenunion muss kommen. Da sind wir mit der Entscheidung zur Bankenaufsicht durch die EZB einen Schritt weitergekommen. Wir wollen, dass vor allem die Banken selbst für die Rekapitalisierung angeschlagener Institute zahlen, gegebenenfalls auch für ihre Abwicklung. Wir wollen einen Fonds, der durch eine Bankenabgabe gespeist wird. Darum geht es uns: das Haftungsrisiko für die öffentliche Hand möglichst weit zu mindern.« (Manager Magazin 23.9.2013)

Die Grunddifferenzen treten hier deutlich zutage. Die Kanzlerin hatte auf dem Wirtschaftstreffen in Davos Anfang des Jahres argumentiert: »Natürlich lässt es sich besser sparen, natürlich lassen sich Strukturreformen besser durchführen, wenn Wachstum da ist. Auf der anderen Seite ist die politische Erfahrung, dass für politische Strukturreformen oft Druck gebraucht wird. Meine Schlussfolgerung ist also: Wenn Europa heute in einer schwierigen Situation ist, müssen wir heute Strukturreformen durchführen, damit wir morgen besser leben können. Ich stelle mir das so vor …, dass wir analog zum Fiskalpakt einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit beschließen.« Merkel und die Unionsparteien sehen die Agenda 2010 als Vorbild für den gesamten Kontinent. Schließlich sei die Bundesrepublik durch die Reformen von 2003 vom »kranken Mann Europas« zum »Wachstumsmotor« geworden. Deutschland und Europa stünden vor großen Veränderungen. Darüber sei vielleicht in diesem Wahlkampf gar nicht oft genug gesprochen worden. In der Tat: Neben der Europapolitik sind die verschobene Pflegereform, die Probleme in der Gesundheitspolitik, der deregulierte Arbeitsmarkt mit Zeitarbeit, Werkverträgen und Geringverdienern Kernpunkte der politischen Gestaltung.

Man darf gespannt sein, ob sich zwischen diesen konzeptionellen Differenzen ein für beide Seiten belastbarer Kompromiss finden lässt. Merkel und die christdemokratische Union sind auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Der entscheidende Grund: Die relativ gute Wirtschaftslage, die eine »Sozialdemokratisierung« erzwingt und ermöglicht, der Absturz der FDP und der Niedergang der Grünen, sowie die innere Zerrissenheit der Sozialdemokratie über die Entfesselung des Kapitalismus. Es gibt für die absehbare Zukunft keine Alternative zur Machtpolitikerin Merkel, weder in den Unionsparteien noch bei der politischen Konkurrenz.

Joachim Bischoff ist Mitherausgeber von Sozialismus, Hasko Hüning und Björn Radke sind Mitglieder der LINKEN in Berlin bzw. Schleswig Holstein.

[1] Mit dieser Formel versuchte sich noch 2011 der neugekürte grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg gegenüber einer »barbarisierten« Mappus-CDU zu profilieren. Bei der Bundestagswahl 2013 nun liegt im »Ländle« der Zweitstimmenanteil der CDU bei fast 46% und der Grünen bei 11%!
[2] Leipziger Volkszeitung vom 22.5.2013.

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