1. April 2000 Heinz Loquai

Wege in einen vermeidbaren Krieg

Heinz Loquai war bis zu seiner Pensionierung vor drei Monaten Brigadegeneral der Bundeswehr. Seit 1996 war er in verschiedenen Funktionen Mitglied der OSZE-Mission in Wien, wo er sich u.a. mit vertrauensbildenden Maßnahmen auf dem Balkan beschäftigte. Die hier vorgestellten Thesen sind die Zusammenfassung einer umfangreichen Studie mit dem Titel »Der Kosovo-Krieg – Wege in einem vermeidbaren Krieg« (Nomos, Baden-Baden 2000).

1.
Im öffentlichen Meinungsbild erscheint der Kosovo-Konflikt als eine kontinuierliche Abfolge einseitig von der serbisch-jugoslawischen Seite ausgehender Gewalt. Diese gängige Sicht ist zu undifferenziert und unzutreffend. Sie verstellt den Blick auf die komplexen Zusammenhänge in diesem Konflikt und verschließt von vornherein tragfähige Lösungswege.

2.
In der Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 wurde zwischen dem bewaffneten Arm der Kosovo-Albaner (UCK) und den jugoslawischen Sicherheitskräften ein grausamer Bürgerkrieg ausgetragen. Hauptleidtragende war die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten. Sie wurde für die jeweiligen Ziele instrumentalisiert und missbraucht. Gewonnen hat diesen Krieg die militärisch hoffnungslos unterlegene Partei, die Kosovo-Albaner. Diese schufen die Grundlagen für ihren Sieg durch eine sehr geschickte Politik und eine effiziente Strategie, mit der sie die NATO als mächtigen Verbündeten in den Bürgerkrieg zogen.

3.
Die serbisch-jugoslawische Führung erkannte oder verstand die Bürgerkriegssituation offenbar nicht. Sie sah das Kosovo-Problem verengt in der Bekämpfung und Eliminierung einer kleinen Gruppe albanischer Terroristen. Diesen Kampf führten die serbisch-jugoslawischen Sicherheitskräfte mit äußerster Rücksichtslosigkeit und Brutalität. Sie reagierten auf den gezielten Terror und die Gewaltaktionen der Albaner mit massivem Gegenterror, auch gegen die albanische Zivilbevölkerung. Dieses Vorgehen und die fortgesetzte Drangsalierung und Diskriminierung der Albaner durch die serbische Verwaltung verschafften den militanten Albanern immer mehr Zulauf aus der Bevölkerung; die internationale Staatengemeinschaft ergriff zunehmend Partei zugunsten der Albaner. So schufen die Serben letztendlich selbst einen Teil der Bedingungen, die zu ihrer Niederlage im Bürgerkrieg führten.

4.
Auf dem Wege zu einer politischen Konfliktlösung wurde der OSZE mit der Verifikations-Mission im Kosovo eine qualitativ neue und äußerst schwierige Aufgabe übertragen. Die strukturellen Schwächen der OSZE, ihre unzureichende operative Reaktionsfähigkeit bei derartigen Aufgaben, vor allem aber die ungenügende Unterstützung durch die OSZE-Staaten hatten nachteilige Auswirkungen auf den Erfolg der Mission. Dennoch trug sie ganz erheblich zu einer zeitweiligen Stabilisierung der Lage und zur Einhegung der Gewalt bei. Der Abzug der Mission aus dem Kosovo lag nicht – wie offiziell behauptet wurde – darin begründet, dass sie ihren Auftrag nicht mehr erfüllen konnte, sondern er war eine Maßnahme im Zuge der Kriegsvorbereitungen der NATO.

5.
In der Zeit vom Oktober 1998 bis März 1999 bestanden reale Chancen für eine politische und friedliche Lösung des Kosovo-Konflikts. Besonders groß war diese Aussicht von Mitte Oktober bis Anfang Dezember 1998. Die jugoslawischen Sicherheitskräfte hielten sich an die internationalen Vereinbarungen, insbesondere auch an die Waffenruhe. Dagegen setzten die Albaner ihren bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit des Kosovo fort. Eine einseitig gegen die Serben gerichtete Politik der NATO-Staaten, die unterschiedliche Maßstäbe bei der Bewertung gewaltsamer Aktionen anlegte, sowie die Unfähigkeit, die OSZE-Mission rasch in der notwendigen Stärke vor Ort zu bringen, ließen die Chancen dahinschwinden. Die auf beiden Seiten auf eine gewaltsame Lösung Drängenden konnten schon bald wieder die Szene bestimmen.

6.
Die bilateralen Verhandlungen der Konfliktparteien über eine friedliche Lösung des Konflikts gerieten in eine Sackgasse, da sowohl die Kosovo-Albaner als auch die Serben an ihren nicht miteinander zu vereinbarenden politischen Zielen starr festhielten. Die Serben als Staatsautorität versäumten es dabei, durch freiwillige, substanzielle politische Zugeständnisse an die Kosovo-Albaner und die internationale Staatengemeinschaft guten Willen zu zeigen und von sich aus einen Prozess der Befriedung in Gang zu setzen. Die Verhandlungen in Rambouillet und Paris waren in gewisser Hinsicht eine Fortsetzung des Bürgerkriegs mit anderen Mitteln. Dieser letzte Versuch einer politischen Lösung des Konflikts scheiterte schließlich an der fehlenden Kompromissbereitschaft der NATO-Staaten und der Belgrader Führung über die Leitung einer internationalen Friedenstruppe für das Kosovo. Beide Seiten waren nicht bereit, zur Vermeidung des Krieges diejenigen Zugeständnisse zu machen, die sie dann – nachdem unermessliches menschliches Leid und schwere materielle Schäden angerichtet worden waren – zur Beendigung des Krieges eingingen.

7.
Der Weg der NATO im Kosovo-Konflikt führte rasch an die Spitze der Eskalationsleiter. Nachdem die USA Mitte 1998 ihre bis dahin ausgewogene Politik auf einen anti-serbischen Kurs fixiert hatten, folgten die übrigen NATO-Staaten mit nur geringen Abweichungen. Die NATO manövrierte sich – unter starker, entschlossener amerikanischer Führung – in eine Lage, in der es um ihre Glaubwürdigkeit, ja um ihre politische Zukunft zu gehen schien. So wurde der Beweis politischer Geschlossenheit, militärischer Stärke und Handlungsfähigkeit zum Leitmotiv der NATO-Politik im Kosovo-Konflikt. Eine kompromisslose Politik der Stärke schien ja auch gegen einen militärisch weit unterlegenen und politisch weitgehend isolierten jugoslawischen Gegner relativ risikolos zu sein. So kennzeichnen gravierende politische und militärische Fehleinschätzungen den Weg der NATO in den Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien.

8.
Die Politik der rot-grünen Koalition und der deutschen Regierung ist geprägt durch ein alles überragendes Bestreben, keinerlei Zweifel an der Kontinuität deutscher Außenpolitik, Zuverlässigkeit und Bündnissolidarität aufkommen zu lassen. Die deutsche Haltung im Kosovo-Konflikt schien ein Testfall hierfür zu sein. Die deutsche Politik folgte konsequent der amerikanischen Führung auf deren pro-albanischem und anti-serbischem Kurs. Die neue Bundesregierung demonstrierte zwar in einer schwierigen politischen Situation des Übergangs politische Handlungsfähigkeit. Doch durch eine nahezu bedingungslose Ausrichtung auf die amerikanische Führungsmacht begab sie sich eigenständiger Möglichkeiten der Vermittlung in diesem Konflikt und alternativer europäischer Konfliktlösungsmöglichkeiten.

9.
Der deutsche Bundestag wurde im Verlaufe seiner Befassung mit dem Kosovo-Konflikt von den jeweiligen Regierungen lückenhaft, einseitig und falsch unterrichtet. Für so schwerwiegende Entscheidungen wie die über Krieg und Frieden scheint die Informationsbasis der Abgeordneten nach objektiven Maßstäben völlig unzureichend gewesen zu sein. Die Beteiligung der Bundeswehr am Luftkrieg gegen Jugoslawien erfolgte – wenn man die Äußerungen von Regierungsmitgliedern zugrunde legt – zu Zwecken, die nur teilweise durch ein Mandat des Bundestags legitimiert waren. Auch die aufgrund objektiver amtlicher Analysen erkennbare Lage im Kosovo erfüllte nicht die für den Einsatz der Bundeswehr im Mandat des Bundestags gesetzten Kriterien. Die Frage, ob der Eintritt deutscher Streitkräfte in den Luftkrieg gegen Jugoslawien nicht außerhalb des durch Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht gezogenen Rahmens erfolgte, bedarf noch einer gründlichen politischen und verfassungsrechtlichen Bewertung.

10.
Eine herausragende Rolle für die Rechtfertigung des Luftkrieges der NATO-Staaten und als Beleg für eine perfide Politik der Belgrader Führung spielte in Deutschland der vom Verteidigungsminister präsentierte »Hufeisenplan«, ein angeblicher Plan der jugoslawischen Führung zur Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo. Die offensichtlichen Widersprüche und Ungereimtheiten in den zu diesem »Plan« verfügbaren Quellen sowie die jugoslawischen Aktionen im Kosovo in der fraglichen Zeit lassen erhebliche Zweifel aufkommen, ob ein solcher Plan tatsächlich existierte und dem Verteidigungsministerium vorlag. Damit erhebt sich auch die politisch wichtige Frage, ob in dieser Sache im deutschen Bundestag und vor der deutschen Öffentlichkeit die Wahrheit gesagt wurde.

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