1. März 2006 Redaktion Sozialismus

Wer und was ist heute links?

Die anfängliche Euphorie von christ- und sozialdemokratischen ParteifunktionärInnen über die freundlich-zurückhaltende Aufnahme der großen Koalition bei der Mehrheit der Wahlbevölkerung hat sich gegen Ende der 100-Tage-Frist aufgelöst. Die Regierungsparteien stehen vor wichtigen Landtagswahlen und es ist keineswegs sicher, dass der rheinland-pfälzische Landesvater Beck (SPD) mit seiner sozial-liberalen Koalition das Votum der WählerInnen am 26.3.2006 politisch überlebt.

Die Sozialdemokratie liegt in bundesweiten Umfragen wieder an der 30%-Marke, während die Christdemokraten unter der Führung der Bundeskanzlerin Merkel ihre Position leicht ausbauen konnten.

Der Grund für diese Entwicklung: Entgegen der von der Regierung inszenierten und von den Medien verstärkten Aufbruchstimmung haben die Alltagsprobleme wieder ihren Stellenwert im gesellschaftlichen Bewusstsein erhalten. Dazu gehören:

1. Sowohl in krisengeschüttelten Industrieunternehmen (AEG, Continental) als auch in exportstarken Branchen (Automobil, Telekommunikation) und selbst im expandierenden Finanzbereich (Banken) sind umfassende Restrukturierungsprogramme von den Unternehmensleitungen angekündigt, die zigtausende Arbeitsplätze vernichten sollen und die Arbeits- und Einkommensbedingungen von vielen Lohnabhängigen negativ betreffen werden. In diesen Zusammenhang gehört, dass die Tarifauseinandersetzung der IG Metall erneut auf ein hartes Kräftemessen hinauslaufen wird. Hierher gehört ferner der Streik der Belegschaften kommunaler Unternehmen zur Sicherung der 38,5-Stunden-Woche und die Kampfmaßnahmen der Gewerkschaft ver.di, um die Länderverwaltungen und Landesunternehmen zu einem Tarifabschluss zu zwingen.

2. Die Politik des Vize-Kanzlers Müntefering in Sachen Rente mit 67 und Kürzung des ALG II für Arbeitslose bis zum 25. Lebensjahr wird selbst von der eigenen Partei nicht als überzeugendes Krisenmanagement interpretiert. Der Arbeitsminister bringt ein Gesetz auf den Weg, das im laufenden Jahr weitere Rentenkürzungen verhindern soll. Die Kürzungen wären fällig, weil die Arbeitseinkommen im zurückliegenden Jahr gesunken sind. Die auf die Altersrenten weiter zu wälzenden Kürzungen sollen in späteren Jahren, wenn die Arbeitseinkommen wieder steigen, verrechnet werden. Diese Operation einer Mängelverwaltung geht einher mit einer beschleunigten Verlängerung der Lebensarbeitszeit, was anerkanntermaßen nur eine programmierte Kürzung der Renten darstellt. Eine zukunftssichere Konzeption, wie die Altersrenten gestaltet werden können, haben der Arbeitsminister und die Sozialdemokratie sowenig vorgelegt wie eine sozial ausgewogene Reform der gesetzlichen Krankenversicherung und des Gesundheitsbereiches.

3. Überwölbt werden diese Alltagsprobleme durch eine für große Bevölkerungsteile wenig transparente Auseinandersetzung mit dem Iran und eine anhaltende Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus. Für die Entführung von im Irak eingesetzten Ingenieuren gibt es sowenig Verständnis wie für die andauernde Verletzung von Menschen- und Staatsbürgerrechten auf Seiten der USA und ihrer Verbündeten inklusive der Bundesrepublik Deutschland. Doch diese internationalen Affären sind vom Alltagsleben weit entfernt. Selbst auf den von der Regierung betriebenen Einsatz der Bundeswehr während der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft reagiert die Bevölkerungsmehrheit gleichermaßen indifferent wie auf die Aushebelung des Luftsicherheitsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht.

4. Im Endergebnis haben die politischen Operationen der großen Koalition die Glaubwürdigkeit und das gesellschaftliche Vertrauen in die Handlungskompetenz der Politik nicht erhöht. Leider bildet auch die neue Linke im Bundestag ein zwieschlächtiges Erscheinungsbild. Auf der einen Seite präsentiert sie sich insbesondere vor Ort in den gesellschaftlichen Konfliktfeldern (AEG, Telekom, Streikversammlungen im öffentlichen Dienst) als politische Alternative zum Neoliberalismus. Auf der anderen Seite hat die Bundestagsfraktion der Linken einen Abgeordneten wegen der wenig schmeichelhaften Verwicklung in Sex-Geschäfte und Steuerhinterziehung verloren. Zum changierenden Erscheinungsbild gehören auch die parteiinternen Konflikte über die Beurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Kuba und teils wenig kulturvolle Auseinandersetzungen über den politischen Kurs beim Aufbau einer neuen Partei der gesamtdeutschen Linken.

Mit Blick auf die künftige gesellschaftliche Entwicklung und die möglichen politischen Bündnisse und Blockbildungen lautet die Schlüsselfrage: Was ist heute links und wer gehört zu dieser Linken?

Der neue SPD-Vorsitzende Platzeck ordnet seine Partei in die "linke Mitte" ein. "Links ist ein Begriff von Gerechtigkeit, der sich an Freiheit und Gleichheit orientiert. Links bedeutet, alles zu tun, um bessere Lebenschancen für mehr Menschen zu schaffen." (Platzeck 2005: 18) Platzeck will mit dieser Positionsbestimmung zugleich eine Abgrenzung von der Linkspartei/WASG vornehmen. "Wir müssen zu manchen Zielen neue Wege finden. Das unterscheidet uns übrigens von der Linkspartei, die sich neue Linke nennt, aber nur alte Rezepte aufkocht. Heute geht es um Probleme, die in den 50er, 60er, 70er Jahren weniger Gewicht hatten. Damals war eine unserer vorrangigen Aufgaben, für Gerechtigkeit am Arbeitsplatz zu sorgen, für angemessene Entlohnung, anständige Arbeitsbedingungen. Das ist nach wie vor sehr wichtig. Heute geht es aber auch um den gerechten Zugang zu Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Der gerechte Zugang zu Bildung ist der Schlüssel schlechthin, um später am Leben teilnehmen zu können." (Platzeck 2006)

Dass diese Positionsbestimmung wenig tragfähig ist, ahnt Platzeck. In einer Zeit, in der die Lohnabhängigen vom Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums nicht nur nichts erhalten, sondern zugunsten des Wachstums von Unternehmens- und Vermögenseinkommen selbst noch Milliarden abgeben müssen, sind die alten Konflikte öffentlich präsent. Bildung als Schlüssel für die Lebenspraxis hat dann einen fatalen Beigeschmack, wenn die Bildungsschranken in Deutschland so hoch und starr sind wie lange nicht zuvor. Tobias Dürr, Chefredakteur der Zeitschrift der sozialdemokratischen Netzwerker "Berliner Republik", weiß, dass die These von der linken Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft fragwürdig ist. Und Stolz auf diese Positionsbestimmung, den der SPD-Generalsekretär Heil zu erzeugen versucht, verbietet sich allemal. Dürr rät seiner Partei, das Phänomen ernst zu nehmen: "Wie und warum konnte sich die um den vormaligen Sozialdemokraten Oskar Lafontaine und beträchtliche Teile des besoldeten Funktionärsapparats der westdeutschen Partei erweiterte PDS etablieren?" Seine These: Wir haben es mit einem Wandel der grundlegenden Konfliktmuster innerhalb der deutschen und europäischen Gesellschaften zu tun, der das Aufkommen von Parteien wie die Linkspartei möglich macht (Dürr 2005, 71). Dürr hat noch keine Antwort für die Sozialdemokratie, aber verfügt im Unterschied zu vielen in seiner Partei über Problembewusstsein: "Die alte Mitte ist weg. Die einen begreifen das, andere verweigern sich. Die alte mentale Mitte der Bundesrepublik als Komplex geteilter Grundannahmen und Mentalitäten trägt nicht mehr. Wo es die einen zurück zieht in die idyllisierte Vergangenheit des ›Goldenen Zeitalters‹ (Eric Hobsbawm), fordert auf der anderen Seite eine ›Generation Reform‹ (Paul Nolte) mehr Dynamik und Erneuerung. Diese elementare Auseinandersetzung zwischen zwei Generalsdeutungen der Wirklichkeit liegt im Grunde schon jetzt sämtlichen gesellschaftlichen Debatten in Deutschland zugrunde." (Dürr 2005: 74)

Es geht nicht nur, aber auch um Deutungsangebote. Die gesellschaftliche Mitte wird durch die neoliberale Politik zerstört und diese zieht eine Umwälzung der politischen Kräfteverhältnisse nach sich. Die Härte der Verteilungsauseinandersetzung ist keine ideologische Erfindung. Das Dilemma der Sozialdemokratie liegt darin begründet, dass sie die gesellschaftliche Interessenkonstellation nicht wahr haben will. Platzeck macht der Partei in rückwärts gewandter Manier Mut. "Den ständig herbei geredeten ›neoliberalen Mainstream‹ in unserer Gesellschaft gibt es in Wirklichkeit überhaupt nicht... Alle Untersuchungen, alle Umfragen, alle unsere Erfahrungen in Alltag ... beweisen uns: die Grundidee des Sozialstaats, das Prinzip der sozialen Demokratie – diese Grundidee erfreut sich ungebrochener Beliebtheit und Zustimmung." (Platzeck 2005: 8) Wer die Herausforderung der neoliberalen Umverteilung nicht anerkennt, wird Schritt um Schritt auf die Seite der wirtschaftlichen Elite und der Vermögenden abrutschen. Die untere Hälfte der Gesellschaft will nicht beständig auf Abstriche am Lebensstandard verpflichtet werden, ohne Aussicht auf eine sozial gerechte Ordnung.

Dies ist die Chance der neuen Linken zur grundlegenden Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse. Zu Recht antwortet der Fraktionsvorsitzende Lafontaine auf die Frage nach der Standortbestimmung der Linken: "Zur Zeit könnte man sie vielleicht als eine aufkommende Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus bezeichnen, weil der Neoliberalismus ein Angriff auf die Würde des Menschen ist, weil der Neoliberalismus ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit und den Sozialstaat ist. Wenn man dies analysiert und wenn man sich vor Augen hält, welche Prinzipien der Neoliberalismus in den letzten Jahren verfolgt hat, dann kann man sehr leicht auch das Gegenkonzept entwickeln." Es geht um Regulierung, Ausweitung des öffentlichen Sektors und öffentlicher Investitionen und um Wirtschaftsdemokratie.

Die Sozialdemokratie wird durch die zerbröselnde Mitte der Gesellschaft noch stärker unter Druck geraten. Voraussetzung ist allerdings, dass die neue Linke ihr Projekt verwirklicht und einen parteipolitischen Unterbau unter die neue Fraktion schaffen kann. Auch dies erfordert Entschiedenheit und Toleranz, Eigenschaften, die bei den verschiedenen linken Strömungen nicht allzu selbstverständlich sind.

Literatur
Dürr, T. (2005): Pol der Beharrung, Was die "Linkspartei" für SPD und Parteiensystem bedeutet, in: Perspektive 21, Dezember, Potsdam.
Heil, H. (2005): Vorwärts! Wie die Sozialdemokratie die Zukunft gewinnen kann, in: Perspektive 21, Dezember, Potsdam.
Lafontaine, O. (2006): Was ist die Linke, in: Junge Welt vom 19. und 20. Januar.
Platzeck, M. (2005): Die zupackende SPD. Miteinander statt gegeneinander – für soziale Demokratie im 21. Jahrhundert, in: Perspektive 21, Heft 28, Potsdam.
Platzeck; M. (2006): Eine große Koalition hält mehr aus, als sie glauben, in: SZ vom 13.1.

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