1. Januar 2006 Harald Werner

Widerständiges Lernen

Debatten über Ziele und Methoden gewerkschaftlicher Bildungsarbeit waren immer schon ein Feld, auf dem ganz andere Dinge ausgetragen wurden, als die Suche nach Konzepten oder Didaktiken.

Im Grunde rührten diese Diskurse an den Kern gewerkschaftlicher Alltagspraxis, nämlich an die Frage nach den Formen der Bewusstwerdung gesellschaftlicher Realität und der Herausbildung einer in diesem Sinne höheren Handlungsfähigkeit. Dem lag ein Bildungsbegriff zu Grunde, der sehr viel mehr meinte, als die bloße Vermittlung von Kenntnissen oder Fertigkeiten. Er war vielmehr von vornherein auf die Formierung gesellschaftlicher Subjekte und die Veränderung von Machtverhältnissen gerichtet. Insofern muss es optimistisch stimmen, wenn seit einiger Zeit wieder eine Debatte über die Erneuerung gewerkschaftlicher Bildungsarbeit geführt wird.[1]

Dass man dabei nicht dort weiter diskutieren kann, wo die Debatte einmal abebbte, hat viele Gründe. Der entscheidende dürfte sein, dass sich die gegenwärtige Situation gravierend von jener unterscheidet, in der zum Beispiel "Exemplarisches Lernen" oder der "Deutungsmusteransatz" gegeneinander fochten. Wobei die Diskussion über die Unterschiede zwischen den damaligen und den heutigen Bedingungen neben den strukturellen Defiziten der Gewerkschaften[2] vor allem die unterschiedlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, wie auch die veränderten Strukturen des Alltagsbewusstseins berücksichtigen muss. Konkret geht es dabei um die aktuellen Formen der industriellen Beziehungen und ihre ideologische Verblendung, die Mystifizierung der Kapitalherrschaft und die typische Verarbeitungsform der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Alltagsbewusstsein. So zu fragen ist nicht neu, denn schon Marx konzentrierte sich neben der wissenschaftlichen Analyse seines Stoffes in einem besonderen Maße auf die Frage der geistigen Aneignung seiner Ergebnisse.[3] Und auch in den kontroversen Debatten über die "richtige" Didaktik der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit ging es den Beteiligten, bei aller wechselseitigen Kritik, gemeinsam um die Aufhebung von Mystifizierungen und Fetischen und die Suche nach einer Methode, mit der die Widersprüche des Alltagsbewusstseins aufgehoben, beziehungsweise seine Erfahrungen aufgearbeitet werden konnten.

Der Verlust des historischen Optimismus

Diese allgemeine Anforderung einmal vorangestellt, erweist sich die heute anstehende Aufgabe freilich nicht nur als anders, sondern auch als schwieriger. Insbesondere, weil sich die gesellschaftliche Psychologie im Allgemeinen und die der abhängig Beschäftigten noch auf eine ganz besondere Weise so sehr verändert hat, dass kaum noch Konkretes von den alten Konzepten zu lernen ist. Der gesellschaftlichen Psychologie ist ihr Zukunftsoptimismus abhanden gekommen und den abhängig Beschäftigten die Gewissheit eines Kampfes, der Schritt für Schritt zu besseren Lebensbedingungen, einer chancenreicheren Gesellschaft und für viele auch zum Sozialismus führen sollte. Nicht, dass diese Vorstellungen verloren gegangen wären, aber sie sind zu Visionen geschrumpft, für die der Gegenwart keine Beweise abgerungen werden können. Vor allem für die vom "goldenen Zeitalter des Kapitalismus" geprägten Politikgenerationen waren die sozialen, kulturellen und demokratischen Fortschritte, die bis weit in die Ära Kohl hinein Bestand hatten, eine Art historischer Megatrend, der sich erst langsam, dann aber mit den neoliberalen Umbrüchen der 1990er Jahre vollständig umkehrte. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden fast ausschließlich Abwehrkämpfe geführt und die wenigen Erfolge reduzieren sich auf die Stabilisierung des Bestehenden oder darauf, den Verzicht zu begrenzen.

Neben allen Faktoren, die die gegenwärtige von der früheren Arbeiterbewegung unterscheiden, wiegt der Verlust einer an sich positiven Zukunftsprojektion wahrscheinlich am schwersten. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass die sich wehrenden und vor allem die sich in diesen Umbrüchen bewährenden Individuen, die Welt nicht nur als Jammertal erleben. Aber es ist eine Welt, in der nicht kleine Schritte zum Besseren, sondern bessere Schritte zur Bewältigung des Schlechten gelernt werden. Die aktiv handelnden Individuen sind flexibler geworden, sie haben neue Kompetenzen entwickelt, zum Beispiel die Wahrnehmung individueller Gestaltungsräume, die aktive Beteiligung an betrieblichen Optimierungsprogrammen oder die Fähigkeit zur Kompromissfindung, aber diese gewachsene Handlungsfähigkeit steht in kaum einem Zusammenhang zu einem gesellschaftlichen Gegenentwurf. Im Gegenteil: Die meisten dieser Tugenden liegen voll im neoliberalen mainstream, weshalb ein eigenartiger Widerspruch zwischen den individuellen Erfolgen bei der Bewältigung der neoliberalen Umgestaltung und der generellen Kritik des Neoliberalismus entsteht. Denn es ist ja nicht so, dass die alltägliche Bewältigung einer bestimmten Aufgabe, etwa des absoluten Zwangs zur Standortverteidigung und Kostenreduzierung, keine Erfolgserlebnisse beschert, die nach und nach auch zur Akzeptanz der Erfolg sichernden Methode führen. Aber es bleibt ein Widerspruch, sich in der neoliberalen Modernisierung zu bewähren und sie gleichzeitig zu verurteilen.

Und natürlich ist auch das nicht neu, denn seitdem die Arbeiterbewegung in die Gestaltung der industriellen Beziehungen eingebunden ist, widerspricht jeder Gestaltungserfolg zumindest partiell auch dem Ziel der Überwindung dieser Beziehungen. Anders ließe sich das Gift des Opportunismus kaum erklären. Doch diese gewöhnliche Art der langsamen Gewöhnung an das Bestehende blieb in der Vergangenheit den wirklich aktiv Handelnden vorbehalten: gewerkschaftlichen Funktionären aller Ebenen und natürlich den Funktionären auf der noch separateren Ebene der Politik. Heute aber ist Co-Management, nämlich die aktive Beteiligung an der Gestaltung des Bestehenden, keine Angelegenheit mehr von Spitzenfunktionären, sondern alltägliche Praxis von vielen. Was aber nun heißt dies für gewerkschaftliche Bildungsarbeit?

Die Hoffnung in den Widersprüchen

Schon in den gegensätzlichen Ansätzen der früheren gewerkschaftlichen Bildungsdebatte spielten widersprüchliche Bewusstseinsinhalte eine entscheidende Rolle. Wie Berthold Brecht in den Widersprüchen die Hoffnung sah, konzentrierte sich auch die Reformdebatte der 1970er Jahre auf die didaktische Nutzung widersprüchlicher Erfahrungen oder Deutungsmuster. Und Brechts Hoffnungen sollten auch heute zu denken geben. So wäre es zum Beispiel der falscheste Ansatz, diesen Widerspruch zwischen der Beteiligung an der neoliberalen Umgestaltung und seiner grundlegenden Ablehnung einfach zu übersehen und unvermittelt in die Kritik des Shareholder-Value oder der entgrenzten Kapitalmärkte einzusteigen. Selbst wenn ein solcher Lernprozess zu vertieften Einsichten führt, bleiben im harmloseren Fall die Widersprüche zwischen der eigenen Praxis und der kritischen Theorie unaufgelöst, meistens aber verbreiten sie Hilflosigkeit oder zynischen Pragmatismus. Dabei sind diese Widersprüche außerordentlich entwicklungsfähig, weil ihre Thematisierung an realen Erfahrungen ansetzt und das Begreifen gesellschaftlicher Zusammenhänge letztlich immer auf die Entzifferung von Widersprüchen hinausläuft. Wer die alltägliche Widersprüchlichkeit vor allem gewerkschaftlicher Praxis nicht thematisiert, redet über die quälenden Erfahrungen der Teilnehmer hinweg und dringt vor allem nicht zum Wesen seines Gegenstandes durch, nämlich den Widersprüchen kapitalistischer Realität. Und auch das ist nicht nur ein altes Problem gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, sondern das grundlegende Problem aller gedanklichen Aneignung kapitalismuskritischer Theorie. So hat bereits Marx neben der theoretischen Analyse eines bestimmten Gegenstandes immer auch en passant wertvolle Hinweise für die gedankliche Aneignung seiner Theorie gegeben. So schreibt er zum Beispiel in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern: "Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen, Hier ist die Wahrheit hier kniee nieder!....Wir sagen ihr nicht, Laß ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft, und das Bewußtsein ist eine Sache, die sie sich aneignen muss, wenn sie auch nicht will."[4]

Folglich käme es auch heute als erstes darauf an, die alltäglichen Abwehrkämpfe mit ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit zum Ausgangspunkt der Bildungsarbeit zu machen. Egal, welche Methode dabei verwandt wird, ob es sich um einen schlichten frontalen Vortrag, Wandzeitungsarbeit oder Gruppenaktivitäten handelt; es sollte immer von der realen Praxis neoliberaler Modernisierung ausgegangen werden, um zu zeigen, warum es da um so viel zu kämpfen und so wenig zu gewinnen gibt. Nicht der Neoliberalismus an sich darf das Thema sein, sondern die perverse Logik, dass er seine Opfer zwingt, selbst Täter zu sein. Denn das scheint neu in der gegenwärtigen Herausforderung an die Bildungsarbeit: Die Lernenden müssen auf die Widersprüche ihrer Existenz nicht erst aufmerksam gemacht werden. Sie erfahren sie nicht nur deutlicher, sondern sind ständig gezwungen, eigene Anstrengungen zu unternehmen, die zum Gegenteil ihres eigentlichen Ziels führen, nämlich zur Sicherung von Beschäftigung und Einkommen.

Aus zwei Gründen könnte dafür der Begriff widerständiges Lernen verwendet werden. Einmal, weil es um Lernen im Widerstand geht. Denn selbst wenn unter dem Strich der Eindruck entsteht, all diese Kämpfe führten eher zu einer Abfederung des permanenten Verzichtens als zu einer realen Verbesserung, handelt es sich gleichwohl, zumindest bei den Aktiven, um eine widerständige Praxis – eine Praxis, die sich in den meisten Fällen nicht mehr auf die Durchsetzung eines seit langem gewollten Fortschritts konzentriert, sondern auf die Begrenzung des Rückschritts. Aber genau das ist begreifbar zu machen, weil nur von da aus ein Weg zum Begreifen der grundlegend notwendigen Alternativen führt.

Der zweite Grund, von widerständigem Lernen zu sprechen, betrifft die gegenwärtigen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Denn mehr als je zuvor stützen sich diese Verhältnisse auf die Macht zur Definition der angeblich entscheidenden gesellschaftlichen Problemlagen. Und das umso mehr, je stärker die Individuen selbst angehalten sind, kreative Problemlösungen zu entwickeln, etwa zur Senkung der Arbeitskosten, um dem Globalisierungsdruck zu begegnen oder betriebliche Bündnisse zu schließen und damit allen Recht zu geben scheinen, die den Flächentarifvertrag zum Auslaufmodell machen möchten. Was hier Not tut, ist nicht nur praktischer, sondern auch begrifflicher Widerstand, wie er etwa im Falschwörterbuch von Klaus Dera u.a. praktiziert wird.[5] Es gilt also, der Sprache zu widerstehen und zu lernen, was die falsch definierten Begriffe zu begreifen verhindern. Bildungsarbeit muss heute einen wirksamen Beitrag zum geistigen Widerstand gegen die neoliberale Gleichschaltung des Denkens leisten, weil die gängigen Falschwörter, von der Definition der Lohnnebenkosten als Grundübel der Arbeitslosigkeit, bis zum Fetisch demografischer Wandel, eine der wichtigsten Ursachen für die Macht der neoliberalen Ideologie sind. Völlig zu Recht fordert deshalb Horst Mathes, dass die Gewerkschaften wieder "begriffliche Markenzeichen" setzen müssen, "als sofort erkennbares Alleinstellungsmerkmal für eine andere Politik".[6]

Widerständiges Denken, das nach der Methode des Falschwörterbuches zur Dekodierung der gesellschaftlichen Verhältnisse befähigt, hat einen sich selbst verstärkenden Reiz, weil es Erfolgserlebnisse beschert. Erst einmal auf den Geschmack gekommen beim sprachlichen Enttarnen der neoliberalen Begriffswelt, hilft es nicht nur beim täglichen Nachrichtenkonsum. Es nutzt auch beim Ertragen von Politikerreden und Talkshows, weil die "Kaiser" plötzlich wirklich nackt dastehen. Wer anderes soll das üben, als gewerkschaftliche Bildungsarbeit? Wobei Erfolge beim Begreifen eines Tatbestandes sowohl zur Wiederholung dieses Erfolges als auch zum Weitersagen reizen.

Zurück zum Erfahrungsansatz?

Die alte Auseinandersetzung der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit um den Erfahrungsansatz wurde von einem ganzen Bündel gegenseitiger Missverständnisse begleitet. Das entscheidende Missverständnis betraf dabei weniger den Stellenwert der Erfahrung, als die Frage, wie damit umgegangen wird. Lässt sich die Erfahrung selbst entfalten, um von ihr aus zum theoretischen Begreifen zu kommen oder bedarf es theoretischer Begriffe, um sie überhaupt entfalten und das heißt auch sie im dialektischen Sinne aufheben zu können? Und, wie kommt man von der konkret anschaulichen Wahrnehmung zum theoretischen Begreifen?[7]

Man sollte die Wiederholung des Streits vermeiden, weil es heute letztlich nur noch darum gehen kann, welche theoretischen Einsichten notwendig sind, um sowohl die herrschende Ideologie dekodieren zu können, als auch die eigenen Kämpfe zu verstehen, nämlich ihre tatsächlichen Ursachen. Auch diese Frage ist heute komplizierter zu beantworten, als in der damaligen Debatte, in der sich die Kontrahenten mindestens darüber einig waren, dass es einer systematischen Aneignung Marxscher Kapitalismuskritik bedarf.[8] Ohne das als überflüssig abzutun, muss man freilich die Frage nach der Systematik neu stellen. Nicht etwa, weil es überflüssig geworden wäre, sich mit dem Charakter der Waren, dem besonderen der Ware Arbeitskraft und den Formen des Austausches zu befassen. Nur verlangt die Beschäftigung mit den neoliberalen Strategien, wie etwa der Konzentration auf den Shareholder-Value, heute einer ganz anderen Systematik, als die des ersten Kapitalbandes – eine Herangehensweise, die zwar bei einigen Zehntausend GewerkschafterInnen in den 1970er und 1980er Jahren nicht ganz erfolglos war, heute aber weder machbar noch sinnvoll wäre. Wahrscheinlich führt aber kein Weg daran vorbei, sich zumindest der Marxschen Methode zu bedienen, nämlich bei der Darstellung ökonomischer Zusammenhänge vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen.[9]

Nach wie vor scheint das eine paradoxe, dem Lernen aus Erfahrungen entgegen stehende Herangehensweise zu sein, aber es handelt sich dabei weniger um eine besondere erkenntnistheoretische Methode, als um eine allgemeine Bedingung für das theoretische Begreifen praktischer Erfahrung. Der Grundgedanke ist, dass theoretische Zusammenhänge durch aufeinander aufbauende Abstraktionen beschrieben werden und, dass fast jedes Theoriegebäude eine grundlegende Abstraktion besitzt, von der man bei der Darstellung des Ganzen ausgehen muss, um Brüche und Umwege im Lernprozess zu vermeiden. Eben so, wie etwa beim Erlernen der Grundrechenarten fast naturwüchsig mit der Addition begonnen wird, ehe man über Subtraktion und Mulitiplikation zum Dividieren etc. kommt. Die entscheidende Frage einer derzeitig notwendigen Didaktik gewerkschaftlicher Bildungsarbeit ist also weniger, mit welchen Medien oder Methoden gelehrt wird, sondern welche Ausgangsabstraktionen gebraucht werden, um zum Beispiel die Shareholder-Value-Strategie, die Funktion der Finanzmärkte oder die Logik der neoliberalen Modernisierung zu begreifen. Erst wenn man dies beantwortet hat, und zwar bezogen auf den jeweiligen Lerngegenstand, lassen sich Konzepte oder Leitfäden entwickeln und danach auch geeignete Methoden finden. Wobei man, um ärgerliche Missverständnisse zu vermeiden, noch einmal sagen muss, dass es sich bei diesen Ausgangsabstraktionen nicht um theoretische Begriffe handelt, die womöglich auch noch als Definition gelernt werden sollten. Es geht viel mehr um praktische Sachverhalte, die so eindeutig und auch modellhaft konstruiert sein müssen, dass sie zu einer theoretischen Verallgemeinerung taugen und den Teilnehmern helfen, ihre eigenen Erfahrungen neu zu begreifen – nämlich mit Begriffen.

Dagegen scheinen die im engeren Sinne methodischen Fragen sehr viel einfacher zu beantworten zu sein. Wie immer muss der enge Zusammenhang von Sprechen und Denken, aber auch des praktischen Handelns beachtet werden, um der inneren Logik der Etappen geistiger Aneignungsprozesse gerecht zu werden. Auch hier wäre viel von den alten Debatten zu lernen, ohne ihre Konkretisierungsversuche mechanisch nachzuvollziehen.[10] Die Grenzen der damaligen Debatten sind jedoch auch hier erkennbar, weil sich sowohl die technischen Kommunikationsmöglichkeiten, als auch die Subjekte grundlegend verändert haben. All die oben aufgeführten Aspekte des gewandelten Alltagsbewusstseins und der verwandelten Tätigkeitsstrukturen bedürfen deshalb auch eines neuen Nachdenkens über die brauchbaren Methoden, denn es ist nicht nur vieles überholt, es sind auch manche Methoden hinzugekommen, die weniger den Erkenntnisgewinn als den Unterhaltungswert steigern. Nicht alles, was leuchtet, ist auch einleuchtend und Teilnehmerorientierung ist zunächst einmal eine intersubjektive und vor allem sprachliche Beziehung, keine Installation von Objekten.

Tote Bahnhöfe und Sackgassen

Das größte Problem allen Neuanfangs in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit dürfte freilich die Ausdünnung der gewerkschaftlichen Strukturen und der eklatante Mangel an lebendigen Bildungsnetzwerken sein. Die Mitgliederstatistik der Gewerkschaften bietet seit Jahren wenig Grund zur Freude, und die Bilanzen der Bildungsarbeit sind nur noch ein Schatten früherer Aktivitäten. Wobei es nicht grundsätzlich an Materialien fehlt, obwohl sie immer weniger für diesen Zweck ausgearbeitet werden, doch dieses Material landet meist auf toten Bahnhöfen, wo längst keine Fahrgäste mehr auf den nächsten Bildungszug warten. Da helfen auch keine Leitbilder, wie der TeamerInnenarbeitskreis Mittelhessen feststellt,[11] es mangelt einfach an einem Konzept gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, einschließlich der dafür notwendigen Ressourcen. Dass wir so weit davon entfernt sind, ist nicht das Problem der Bildungsarbeit, sondern ihrer absoluten Unterbewertung. Hoffnung macht da schon eher das Multiplikatorenkonzept der IG Metall,[12] das von der richtigen Überlegung ausgeht, organisierte Bildung als zwar wichtigstes, aber nicht alleiniges Mittel der Bewusstseinsarbeit zu betrachten. Es bedarf eines wirklichen Netzwerkes, in das alle aktiven Kommunikatoren eingebunden sind, auch wenn sie keinen persönlichen Schwerpunkt auf die organisierte Bildung legen, aber in ihrer betrieblichen Praxis tatsächlich bewusstseinsbildend wirken oder wirken könnten. Es ist überhaupt ein allgemeines Problem des herrschenden Bildungsbegriffs, vornehmlich Handlungsqualifikation zu meinen und politische Allgemeinbildung auf eine Art Hintergrundwissen zu reduzieren. In den Gewerkschaften spiegelt sich das dann in der Überbetonung marktgängiger Weiterbildungsangebote[13] wider, die glauben mit den Angeboten kommerzieller Anbieter mithalten zu können. Dass dies eine Sackgasse ist, zeigen nicht nur die ernüchternden materiellen Ergebnisse. Es ist vor allem eine Sackgasse, weil die Chancen nicht genutzt werden, die verständlicherweise große Nachfrage nach Handlungswissen mit politischen Orientierungen zu verbinden. Warum etwa muss die Weiterbildung von Betriebsräten nach § 37.6 BetrVG ein Refugium der professionellen Arbeitsrechtler sein, wo doch wenige Handlungsfelder besser für die Dekodierung der realen Herrschaftsverhältnisse geeignet sind, als das bestehende Gesetz? Es gibt deshalb auch keinen wirklichen Widerspruch zwischen den Bedürfnissen nach konkreter Handlungskompetenz und der notwendigen Aneignung gesellschaftlichen Grundwissens – es sei denn man akzeptiert diese vom herrschenden Bildungsmarkt aufgezwungene Logik und produziert nur noch für Kunden, statt in die Entwicklung kritischen Denkens zu investieren.

Harald Werner ist seit 1995 Mitarbeiter der PDS im Bundestag und gewerkschaftspolitischer Sprecher der PDS.

[1] Dabei ist besonders der Beitrag von Jörg Wollenberg hervorzuheben, der mit seiner historischen Aufarbeitung den Zusammenhang von Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung herausarbeitet, Jörg Wollenberg, "Pergamonaltar und Arbeiterbildung", Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2005.
[2] Vgl. dazu Robert Hinke, "Wann wenn nicht jetzt..?", Sozialismus 11/2005.
[3] Vgl. Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zur Einführung ins "Kapital", Köln 1974.
[4] Karl Marx, Briefe aus den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern", MEW 1, S. 345.
[5] Klaus Dera/Harald Kolbe, "Das Falschwörterbuch", IGM Vorstand.
[6] Horst Mathes, Gewerkschaftliche Modernisierung für eine andere Politik, Sozialismus 11/2005, S. 40f.
[7] Vgl. Harald Werner, Alternatives Lernen, Frankfurt/M. 1984.
[8] Vgl. Adolf Brock/Hans Dieter Müller/Oskar Negt (Hrsg.), Arbeiterbildung, Hamburg 1978.
[9] Vgl. Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 631f.
[10] Vgl z.B. Bernhard Wilhelmer, Lernen als Handlung, Köln 1979.
[11] TeamerInnenkreis Mittelhessen "Braucht die IG Metall ein Leitbild für ihre Bildungsarbeit", Sozialismus 8-9/2005, S.49f.
[12] In Sprockhövel fand dazu am 18. und 19. November eine bundesweite Multiplikatorentagung statt, auf der die ersten Seminarkonzepte diskutiert und auch die aktuellen Aufgaben der Bildungsarbeit diskutiert wurden.
[13] Teamerinnenkreis, a.a.O. S. 49.

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