1. Januar 2000 Richard Detje / Otto König

Winter der Unzufriedenheit

Tot ist das Bündnis für Arbeit nicht. Keine Partei – vielleicht mit Ausnahme des BDI-Vorsitzenden Henkel – möchte öffentlich als Totengräber des korporatistischen Konsensmodells dastehen. Aber Wetten auf eine erfolgreiche Revitalisierungskur nach einem kurzen »Winter der Unzufriedenheit« gibt aktuell auch niemand ab.

Das Scheitern der Bündnisverhandlungen im Dezember war kein Missgeschick, das mit einer konsensorientierteren Verhandlungsstrategie überwunden werden könnte, wie dies wohl in den Reihen von IG Bergbau/Chemie/Energie gemutmaßt wird. In den Verhandlungen über eine Rente mit 60 war die IG Metall an die Grenze des sachlich vertretbaren gegangen. Das sachlich gebotene Verfahren wäre gewesen, dass die Bundesregierung ein Gesetz zur Absenkung des Rentenalters für langjährig Versicherte vorlegt, das anschließend durch tarifliche Regelungen – prekärerweise unter der verabredeten Prämisse, dass der Rentenversicherung keine Zusatzkosten entstehen – ausgefüllt wird. Immerhin basiert das deutsche Sozialversicherungsmodell auf gesetzlicher Regulierung, nicht auf Tarifverträgen. Diesem Verfahren haben sich Bundesregierung wie Arbeitgeber verweigert: letztere, weil sie den gesetzlich verbrieften Anspruch auf vorzeitigen Ruhestand ablehnen, erstere, weil kein Gesetzgebungsverfahren gegen »die Interessen der deutschen Wirtschaft« eingeleitet werden soll. Der Kompromiss hatte technokratischen Charakter: Gesetzgebungsverfahren und Tarifverhandlungen sollten parallel laufen. Fraglich, ob dabei mehr als eine Blockade herausgekommen wäre: Die Arbeitgeber lehnen einen allgemein-verbindlichen Rechtsanspruch ab und fordern fallweise betriebliche Regelungen, woraufhin die Bundesregierung in Untätigkeit verharrt. Dennoch ließen sich die Gewerkschaften auf diesen Handel ein, hatte man es sich doch seit geraumer Zeit angewöhnt, das Bündnis nicht nach seinen Ergebnissen zu beurteilen, sondern als »institutionalisierten Prozess« zu propagieren. Dass es dennoch zum Bruch kam zeigt, wie grundsätzlich die Differenzen sind.

1. Die Gewerkschaften hatten für eine Rente mit 60 lohnpolitische Zugeständnisse angeboten. Nun sollten sie – wie Kanzleramtsminister Steinmeier formulierte – Lohnabschlüsse für einen längeren Zeitraum – im Gespräch waren fünf Jahre – »deutlich« unterhalb der Produktivitätsrate vereinbaren. Das würde bedeuten: Suspendierung der Einkommenstarifpolitik für eine ökonomisch und verteilungspolitisch überhaupt nicht überschaubare Etappe, die mit Sicherheit eine Krisenperiode einschließt. In einem konjunkturellen Aufschwung würde das Realeinkommensniveau bestenfalls stagnieren. Stellt man die Abschläge zur Bedienung eines Tariffonds (0,5%) in Rechnung, müssten die Gewerkschaften selbst in Prosperitätsphasen Reallohnsenkungen gegenüber den Mitgliedern verteidigen.

Das Modell des BDA-Vorsitzenden Hundt, den IG BCE-Vorschlag einer verbesserten Altersteilzeit mit einer längerfristig an der Preissteigerungsrate orientierten Lohnpolitik zu koppeln, ist kein Vermittlungsvorschlag, sondern eine Angriffserklärung. Nicht nur diejenigen Gewerkschaften, die 1999 das »Ende der Bescheidenheit« gekommen sahen, würden bei Zustimmung zu dieser Verteilungspolitik in eine manifeste Legitimationskrise geraten. Mit welchen Argumenten sollte man auf dieser Grundlage in den nächsten Jahren Mitgliederwerbung betreiben? Was würde aus der gewerkschaftlichen Schutzfunktion werden, wenn die sektorale Lohnspreizung – man nehme den Handel oder die Bauindustrie – zunimmt und mit ihr die »Armut in der Arbeit«? Wie wäre es um die Glaubwürdigkeit von Gewerkschaften bestellt, die ein Ende der jahrzehntelangen Umverteilung von unten nach oben auch immer damit begründet hatten, dass dies gesamtwirtschaftlich dringend geboten ist? Und was wären die europapolitischen Sonntagsreden noch wert, wenn in Deutschland die Niedriglohnpolitik erst richtig forciert würde – zumindest seit 1996 wird bei den Lohnstückkosten Dumpingpolitik betrieben –, um auf dem EU-Binnenmarkt die Kaufkraft abzuschöpfen, die man zu Hause untergräbt. Gewerkschaften, die sich auf langfristige Tarifpolitik einlassen, die selbst den verteilungsneutralen Spielraum (Produktivitäts- plus Preissteigerung) schon nicht mehr ins Visier nehmen, geben sich selber auf.

2. Die Forderung, ein früheres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu ermöglichen, ist im Grunde eine eher defensive Reaktion: zum einen auf die vorangegangene Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Heraufsetzung der Altergrenze auf 65, Abschaffung des Vorruhestands), zum anderen auf die enorm gestiegene Intensität der Arbeit durch eine zunehmend perfektere Arbeitsorganisation, die kaum noch Poren kennt. Arbeitszeitverkürzung ist somit längst zu einem gesundheitspolitischen Erfordernis geworden. Hinter der Ablehnung eines gesetzlichen Anspruchs auf ein Ende der Erwerbsarbeit mit 60 Jahren steckt daher mehr: die generelle Absage an allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Dass diese Gesellschaft in den 90er Jahren nur noch eine Form der Arbeitszeitverkürzung gekannt und praktiziert hat, soll auch für den Beginn des 21. Jahrhunderts gelten: Arbeitszeit Null, vulgo: Arbeitslosigkeit.

Einen Konsens im Bündnis kann es in beiden Punkten nicht geben. Die Scheidelinie liegt genau zwischen der Verfestigung und dem Abbau von Massenarbeitslosigkeit. Und dort sollte sie auch bleiben. Zwar ist in den bisherigen fünf Verhandlungsrunden des »Bündnis« nichts Handfestes für die Schaffung von Arbeit – übrigens auch nicht für die »Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit« – herausgekommen, [1] dafür wurden umso mehr vermeintliche »Konsensformeln« kreiert. Zum Beispiel, dass der Produktivitätszuwachs für »beschäftigungswirksame Vereinbarungen« genutzt werden sollte, worunter die Arbeitgeber von vornherein weniger als produktivitätsorientierte Lohnpolitik verstanden wissen wollten; z.B. die Verständigung über Rahmendaten »insbesondere zu Produktivität, Löhnen und Gewinnen«, wohlweislich, dass es in Machtfragen keinen wissenschaftlich verbrieften Datenkranz geben kann; z.B. die Verabredung, dass die sogenannten Lohnnebenkosten gesenkt werden müssen, womit der Weg vorgegeben war, solidarische Lösungen für ein früheres Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht mehr im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung organisieren zu können. Alle diese »Konsensformeln« gingen zu Lasten gewerkschaftspolitischer Glaubwürdigkeit, wurde doch der Eindruck geweckt, mit Lohnzurückhaltung doch Arbeitsplätze sichern zu können oder durch private, kapitalorientierte Zusatzversicherungen mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit »einkaufen« zu können.

Das Scheitern der fünften Bündnisrunde sollte als Herausforderung angenommen werden. Tarifpolitisch sollte im Jahr 2000 die verteilungspolitische Auseinandersetzung offensiv geführt werden. Für dieses Jahr gegen die Prognosen von einer Produktivitätsrate von knapp 3% und einer Preisentwicklung von 1,2% aus. Da selbst 1999 die Tarifabschlüsse noch unterhalb des verteilungsneutralen Limits lagen, spricht viel dafür, die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums erstmalig wieder als gewerkschaftliche Aufgabe anzugehen. Das Forderungsvolumen würde sich somit auf 5,5 bis 6% in einer reinen Lohnrunde belaufen. Das zweite Projekt des Jahres 2000 sollte die Verkürzung der Arbeitszeit sein. Ende Dezember laufen die entsprechenden Manteltarifverträge aus und bis dahin sollte geklärt sein, auf welche Maßnahmen der Arbeitszeitpolitik sich die Gewerkschaften konzentrieren wollen. Der Defaitismus in dieser Frage muss überwunden werden: dass die Bedingungen der Regulierung der Arbeitszeit komplizierter geworden sind, ist lange genug beklagt worden; notwendig ist eine Debatte zur Klärung realistischer Umsetzungskonzepte. Da es dabei aus gewerkschaftlicher Sicht um die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte – im Betrieb und am Arbeitsplatz – im Hinblick auf eine beschäftigungspolitisch optimale Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung gehen muss, liegt es auf der Hand, die arbeitszeitpolitische Debatte mit der Debatte um die Renovierung der Betriebs- und Unternehmensverfassung zu verbinden. Schließlich kommt hinzu, dass die Bundesregierung nach den Landtagswahlen in NRW das Ladenschlussgesetz »reformieren« wird. Auch hier ist arbeitszeitpolitischer Regulierungsbedarf seitens der Gewerkschaften gefordert.

Auch die Abfolge der Tarifschwerpunkte macht Sinn: die Verbesserung der Einkommen ist mehr denn je Voraussetzung für eine erfolgversprechende Arbeitszeitpolitik. Der Druck, Überstunden fahren zu müssen, weil die Realeinkommen immer weiter hinter der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums zurückfallen, muss verringert werden. Soweit unsere – zugegeben bescheidenen – Perspektiven für das Jahr 2000. Fatal wäre eine Fortsetzung des Bündnisses entweder als »institutionalisiertes Gewürge« oder gar als Veranstaltung gegen Arbeitslose statt für Arbeit. Die regionale Erprobung eines Niedriglohnsektors nach jahrzehntelanger bundesweiter Erfahrung mit subventionierten Niedriglohnjobs hätte keine gewerkschaftliche Zustimmung finden sollen.

Richard Detje ist Redakteur für Sozialismus.
Otto König ist 1. Bevollmächtigter, Verwaltungsstelle Hattingen und Vorstandsmitglied der IG Metall.

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