1. März 2009 Richard Detje, Dieter Knauß und Otto König

Zehn Minuten vor Zwölf

Die gegenwärtig größte, weil zugleich am meisten unterschätzte Gefahr für die Zukunft dieses Landes besteht in einer unkontrollierten Explosion der Arbeitslosigkeit. Mit massivem Beschäftigungsabbau wird dann der Weg in die Depression – also Deflation plus Rezession – eingeschlagen. Unternehmen, die auf diese Weise Kosten senken, um Liquidität zu sichern, beteiligen sich an dem gesamtwirtschaftlich fatalen Prozess, die Krise durch die Vernichtung von Erwerbseinkommen weiter zu verschärfen.

Innerhalb kurzer Zeit wären die bescheidenen Impulse des Konjunkturprogramms – die auf 0,5 bis 0,8% des BIP geschätzt werden, bei einem Kriseneinbruch von 3 bis 5% – dahin. Doch weit mehr noch: Der Druck auf die Löhne der noch Beschäftigten wächst und individuelle Risikovorsorge durch Sparen mündet in einer allgemeinen Konsumzurückhaltung. Wer dann noch etwas verkaufen will, muss die Preise spürbar senken. Exakt dies, das Sinken des allgemeinen Preisniveaus, ist Deflation. Ein sich nahezu automatisch verstärkender Niedergangsprozess, da die Erwartung weiter sinkender Preise die konsumtive Nachfrage auf das Nötigste reduziert. Die Rezession sackt tiefer in eine allgemeine Deflation. Die historischen Vorläufer der 1930er und der 1990er Jahre in Japan lassen dann einen Krisenprozess von zehnjähriger Dauer erwarten.

Das ist kein fernes Zukunftsszenario. Wir sind bereits auf dem Weg. Und Opel könnte der Katalysator oder Turbo sein.

Die ersten Opfer der Krise sind die Ungeschütztesten: befristet und geringfügig Beschäftigte, Leiharbeitskräfte, Scheinselbständige. Bei dieser deutschen Variante der "Wanderarbeiter" ist die Arbeitslosigkeit bereits schneller gestiegen als vom Vorstand der Bundesagentur für Arbeit (BA) erwartet. Und es bereitet Sorge, dass Lernresistenz und die konsequente Abschottung modelltheoretischen Denkens von jedem Wirklichkeitsbezug, wie es der Präsident des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung verkörpert, in diesen Tagen mit einem Sitz im Sachverständigenrat honoriert wird.[1]

Die so genannten Kernbelegschaften sind bislang weiter an Bord, u.a. mit Hilfe des Instruments der Kurzarbeit. Mit 800.000 Erstanträgen auf Kurzarbeit rechnet die BA im ersten Quartal dieses Jahres. Kurzarbeit wird in den Kernregionen der Metall- und Elektroindustrie bereits in ca. 60% der Betriebe angewandt bzw. aktuell vorbereitet. Das bremst den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aber das Ende ist absehbar. Ein Beispiel ist der Konflikt bei ThyssenKrupp über angekündigten Personalabbau. Gegen Mitte des Jahres wird in den Industrieunternehmen, die gegenwärtig geschäftspolitisch auf Sicht fahren, bilanziert, ob sich ein Silberstreif am Horizont zeigt, oder ob der Einbruch beim Auftragseingang anhält. Die Verlängerung der Kurzarbeit macht Sinn in einer Situation, in der sich eine Konjunkturwende, zumindest der untere Wendepunkt der Krise abzeichnet und qualifizierte Beschäftigte gehalten werden sollen. Doch wenn diese Perspektive eines Durchwurschtelns durch die Krise sich in den kommenden vier bis acht Monaten als irreal erweist, werden Massenentlassungen vorbereitet.

Noch dient Kurzarbeit den Unternehmen als Instrument der Liquiditätssicherung, um vergleichsweise teure Sozialpläne mit entsprechenden Abfindungszahlungen zu vermeiden. In einem länger andauernden Krisenprozess sieht das anders aus. Dann wird die Weiterbeschäftigung zum zentralen Liquiditäts- oder gar Substanzproblem des Unternehmens erklärt und der erpresserische Druck auf Sozialpläne und Löhne aufgemacht – der deflationäre Niedergangsprozess mit Entlassungen und Lohndruck nimmt Fahrt auf.

Gegenwärtig gibt es also ein relativ kurzes Zeitfenster von ungefähr einem halben Jahr, in dem sich die beschäftigungs- und wirtschaftspolitische Zukunft entscheidet. Die Uhr zeigt zehn Minuten vor Zwölf.

Die Automobilindustrie ist jene Schlüsselbranche, in der sich entscheiden könnte, was in den verbleibenden zehn Minuten passiert. Eine Branche mit weltweit gewaltigen Überkapazitäten von über 20%; in der Hand von Konzernen, die darum konkurrieren, welcher Massenproduzent demnächst ins Gras beißt; inmitten eines strukturellen Umbruchs, in dem sich entscheidet, wie zukunftsfähige Verkehrssysteme ausgestaltet sein müssen. Die betriebswirtschaftliche Antwort auf die Krise ist: Kostensenkung in der "intelligenten" Variante durch Kooperation und Realisierung von Synergieeffekten (z.B. bei Daimler und BMW, im Fall FIAT/Chrysler scheint es sich eher um den Versuch der US-Marktöffnung für das Turiner Unternehmen zu handeln), in der "konventionellen" Variante durch Werksschließungen. Für den Verkauf von Werken gibt es angesichts der Überkapazitäten keine Interessenten – es sei denn auf Kosten der Stilllegung anderer Standorte (aber selbst für ein hochproduktives Werk wie das von Opel in Eisenach gibt es keinen Käufer).

Die schwedische Regierung hat sich entschieden, aus der Automobilindustrie auszusteigen und SAAB – arbeitsmarktpolitisch flankiert – im Insolvenzverfahren absaufen zu lassen. Die Bundesregierung würde – wäre 2009 nicht das Jahr der Bundestagswahl – im Fall Opel wahrscheinlich ähnlich verfahren, mit einer Restproduktion und dem Entwicklungszentrum in Rüsselsheim. In Bochum und Eisenach: Land unter! Die "Arbeiterführer" Rüttgers und Beck werden ihre grenzenlosen Anstrengungen und ihre letztliche Ohnmacht verkünden. Ende der Geschichte?

Dass dieses Szenario noch nicht Realität geworden ist, liegt erstens an der ungewissen Zukunft von General Motors. Und zweitens an dem Widerstandspotenzial der Belegschaft von Opel. Bis heute ist der Widerstand der Opelaner in Bochum nicht vergessen – gerade auch in einer politischen Klasse, deren Mitglieder im September nicht vor dem Hintergrund von Streiks, Massenkundgebungen und möglicherweise Betriebsbesetzungen um ihre berufliche Existenz mit auskömmlichen Diäten fürchten wollen. Sind erst die Wahlen im September überstanden, wird die Möglichkeit, politischen Druck zu erzeugen, rapide gesunken sein.

Die Debatte, ob Opel als kleiner Volumenproduzent angesichts der erforderlichen economies of scale überhaupt eine Überlebenschance in Europa hat – und sei es in Kooperation mit der französischen PSA oder mit einem chinesischen Partner – wird verkürzt geführt. Die Zukunft von Opel muss nicht nur unternehmenspolitisch durch den Einstieg des Staates als aktiver Akteur im Prozess der Restrukturierung des Unternehmens entschieden werden, der betriebsbedingte Kündigungen und Lohnkürzungen ebenso verhindert wie Ausschüttung von Dividenden, der Managergehälter zurückfährt und Mittel für Zukunftsinvestitionen bereitstellt. Das ist wichtig, auch um Zeit für weitergehende, strategische Restrukturierungsentscheidungen hinsichtlich der Produktpalette zu "kaufen". Doch die Antwort auf die Krise muss vor allem industrie- und strukturpolitisch gegeben werden.[2]

Denn hinter dem "Fall Opel" steckt ein größeres und zeitlich nicht minder dringliches Problem: die Krise einer ganzen Branche, zu der nicht nur die Automobilkonzerne selbst, sondern auch die nach Jahren des Outsourcings beschäftigungsmäßig größere Zulieferindustrie und die kleinteiligen Händlernetze gehören. Ende letzten Jahres war der Versuch der großen Automobilisten gescheitert, einen finanziellen Schutzschirm für die in der Wertschöpfungskette unverzichtbaren Zulieferbetriebe aufzuspannen. Seitdem nehmen die Insolvenzen unterhalb der Ebene der großen Systemzulieferer a la Bosch, ZF oder MAN von Woche zu Woche zu – insbesondere von Betrieben und Unternehmen, die von Private Equity Firmen in die Verschuldung getrieben wurden. Insgesamt baut sich in der Zulieferindustrie eine zugespitzte Krisensituation auf, die für Betriebe schwer durchzustehen ist, die zuvor von ihren Großabnehmern zu immer neuen Preissenkungsrunden genötigt wurden. Viele dieser Betriebe stecken in einer Kreditklemme, sei es, weil die Endabnehmer die herkömmlichen Zahlungsziele von 60-120 Tagen gegenwärtig noch verlängern, sei es, weil Banken den Kreditrahmen zusammenstreichen, oder Zinsaufschläge verlangen, die schwer zu erwirtschaften sind.

Wenn wir den "Fall Opel" als Katalysator bezeichnet haben, dann mit dem Gedanken, dass sich hier am Schicksal eines Großunternehmens entscheidet, welche Rolle der Staat – Bund und Länder – in der Krise außerhalb des Bankensektors spielt. Bei den Zulieferern handelt es sich hingegen in der Mehrzahl um mittelständische Unternehmen, deren regionale Bedeutung oft groß, deren bundesweite Bekanntheit hingegen gering ist. Deren Insolvenz ist weniger "skandalträchtig" und gesellschaftlich weniger mobilisierungsfähig als die mögliche Insolvenz einer industriellen Traditionsmarke, die in die Alltagskultur dieser Republik[3] eingegangen ist. Wird Opel von der Bundesregierung fallen gelassen, sieht es für andere Standorte und Zulieferer schlecht aus. Der "Fall Opel" fällt in jenes Zeitfenster, in dem es – mit Marx gesprochen – darum geht, dass die organisierten Beschäftigten "als Klasse auf den Staat und durch den Staat auf das Capital"[4] einwirken, um die Bedingungen der Produktion und die Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft zu verändern.

Aber Opel kann auch nur dann als Katalysator in einem zukunftsweisenden Sinne wirken, wenn der Einstieg des Staates eingebettet ist in ein industrie- und strukturpolitisches Gesamtkonzept. Es ist mittlerweile zwei Jahrzehnte her, dass in der IG Metall über Leitlinien "Auto, Umwelt, Verkehr" diskutiert wurde. Und ebenso lange ist es her, dass in den Unternehmen die Entwicklung von Verkehrssystemen mit dem Auto als einem Element eines ökologisch verträglichen und Mobilität neu definierenden Gesamtverkehrskonzeptes als Aufgabe einer strategisch ausgerichteten Geschichtspolitik in Angriff genommen wurde. Die Orientierung am Shareholder Value und der hohen Rendite in der kürzesten Frist hat dies unternehmenspolitisch ebenso verdrängt wie die Herrschaft des Neoliberalismus die gesellschafts- und umweltpolitische Dimension.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden im Rahmen der Werften- und Stahlkrise sowie in der Konversionsdebatte Konzepte entwickelt, an die heute wieder angeknüpft werden kann. Nicht 1:1, aber mit den grundlegenden Bausteinen:

  wirksame Investitionssteuerung auf eine beschäftigungsichernde Unternehmens- und Branchenpolitik, die Innovationscluster gezielt für innovative Verkehrskonzepte nutzt;

  Wirtschaftsdemokratie, die Mitbestimmung in den Aufsichtsräten zur Einflussnahme auf die Geschäftspolitik ebenso erweitert wie die betriebliche Mitbestimmung und zugleich noch mehr ist: Mitbestimmung bei der sektoralen Wirtschaftsentwicklung in welchen Institutionen (ganz früher nannte man das einmal Wirtschafts- und Sozialräte) auch immer;

  öffentliche Beteiligung im Rahmen von Zukunftsinvestitionen an Unternehmen und an der Entwicklung zukunftsfähiger industrieller Cluster – was wir früher einmal Vergesellschaftung (oder als Überführung in Gemeineigentum) genannt haben, müssen wir heute mit neuem Leben füllen;

  Verkürzung der Arbeitszeit als eine auf die Schonung der Gesundheit zielende, Familie und Beruf vereinbarende, emanzipatorische und solidarische Strategie jenseits der Kurzarbeit;

  schließlich Reaktivierung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums mit einem umfassenden Angebot an Qualifizierungsmaßnahmen und Arbeitsplätzen in Beschäftigungsgesellschaften.

Die Anforderung ist zugegebenermaßen riesig. Betriebsräte stehen unter dem Druck betrieblicher Überlebensstrategien. Umso dringlicher ist, dass die IG Metall mit ihren Mitgliedern, den Belegschaften und Betriebsräten jetzt die Initiative übernimmt. Eine Initiative, die sich aktiv in die jetzt unter Krisenbedingungen ablaufenden betrieblichen Restrukturierungsprozesse einmischt zugunsten guter Arbeit und innovativer Arbeitspolitik als Alternative zu gescheiterten finanzmarktgesteuerten Vermarktlichungsstrategien. Eine Initiative, die die betrieblichen Auseinandersetzungen mit neuen Ansätzen aktiver Strukturpolitik koppelt, in der der Staat eine zentrale Rolle spielen muss. Wirtschaftsdemokratie wäre dabei eine Perspektive. Dafür muss gesellschaftliche Aufklärung und Mobilisierung geleistet werden. Die vom Europäischen Gewerkschaftsbund beschlossenen europaweiten Demonstrationen und Kundgebungen am 16. Mai könnten dafür ein Katalysator sein.

Richard Detje ist Redakteur der Zeitschrift Sozialismus. Dieter Knauß ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Waiblingen. Otto König ist 1. Bevollmächtigter der IG Metall Verwaltungsstelle Gevelsberg-Hattingen und Mitglied im Vorstand der IG Metall.

[1] Der neue "Wirtschaftsweise" Christoph Schmidt, der nicht öffentlich dementiert, wenn er als "Arbeitsmarktforscher" bezeichnet wird, meint in einem Interview mit der FAZ vom 21.2.2009 immer noch: "Wir könnten unsere Binnenwirtschaft aber dadurch stärken, dass wir auf flexiblere Märkte setzen. Wir haben uns lange den Luxus gegönnt, den Arbeitsmarkt stark zu regulieren. Wenn wir Märkte deregulieren und damit mehr Beschäftigung schaffen, dann um den Preis, dass die Spreizung der Einkommen zunimmt. Wenn man mehr Wachstum will, muss man das in Kauf nehmen."
[2] Christoph Schmidt hält "Hilfen für einzelne Branchen für eine ganz schlechte Idee." Wenn ein Autowerk geschlossen werde, sei das zwar "schlimm" für die Beschäftigten, für die Konkurrenzunternehmen hingegen verbessere sich die Situation. (Spiegel-online, 18.2.2009) Der Mann denkt konsequent im Mikrokosmos des Unternehmens und keinen Millimeter darüber hinaus auf die wirtschaftspolitische Überlebensfähigkeit einer Region oder Nation. Keynes Kommentar hierzu: "Der Anblick von Kapitalisten, die alles tun, um liquide zu werden, wie man höflich sagt, das heißt, die ihre Freunde und Kollegen in den eisigen Strom stoßen, nur um ihrerseits von einem noch vorsichtigeren Kerl hineingestoßen zu werden, ist kein erbauliches Schauspiel. Nach meinem Dafürhalten ... ist staatliche Planung, die darauf abzielt, den durchschnittlichen Auslastungsgrad des industriellen Produktionspotenzials auf einem optimalen Niveau zu halten und die Massenarbeitslosigkeit dadurch zu beseitigen, zugleich die wichtigste und schwierigste der Aufgaben, die vor uns liegen." John Maynard Keynes: Über staatliche Wirtschaftsplanung, in: ders.: On Air. Der Weltökonom am Mikrofon der BBC, Hamburg 2008, S. 104. Es verrät journalistisches Gespür für die Veränderung der gesellschaftlichen Debatte, dass die FAZ z.Zt. Auszüge aus Keynes Radioansprachen im zeitlichen Umfeld der Großen Depression in ihrem Feuilleton – jedoch nicht im Wirtschaftsteil des Blattes – abdruckt.
[3] Dies war auch der Fall bei der Betriebsschließung der AEG in Nürnberg, die bundesweite Aufmerksamkeit erlangte.
[4] Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEGA, 2. Abteilung, Band 3, S. 2091.

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