26. November 2010 Otto König / Richard Detje

»Zeit der Krisentarifverträge ist vorbei«

Ausblick auf die Tarifrunde 2011

Das Tarifjahr 2010 geht zu Ende. Erneut stand die Beschäftigungssicherung im Zentrum, verteilungspolitisch war nach dem tiefen Kriseneinbruch 2008/2009 nicht viel zu holen. Bis zur Jahresmitte gingen die Tarifabschlüsse noch einmal »kräftig« – so die Bilanz von Reinhard Bispinck, WSI-Tarifarchiv – zurück.

»In einer ganzen Reihe von Branchen wurden für dieses Jahr überwiegend Pauschalzahlungen vereinbart, die nicht zu dauerhaft tabellenwirksamen Tarifanhebungen führen. Auf diese Weise konnte einerseits aktuell der (relativ geringe) Anstieg der Verbraucherpreise ausgeglichen werden, andererseits profitieren die Arbeitgeber langfristig von dem zumindest vorübergehend ›eingefrorenen‹ Tarifsockel.«[1] Für einen etwas positiveren Ausblick sorgte dann im Herbst der Abschluss in der Eisen- und Stahlindustrie (Sozialismus 11: 36). Gegenwärtig werden noch die Entgelttarifverträge im privaten Verkehrsgewerbe, für die Reisebüros sowie in einigen kleineren Industriebereichen verhandelt. In den Tarifverhandlungen für die 175.000 Versicherungsangestellten fordert die Gewerkschaft ver.di 6% mehr Gehalt, Beschäftigungssicherung und Maßnahmen zum Gesundheitsschutz. Dann richtet sich der Blick auf die Tarifbewegungen in 2011.

Durch die konjunkturelle Erholung erfährt die Debatte über höhere Löhne schon vor den Tarifrunden im kommenden Jahr eine neue Dynamik. Der Sachverständigenrat geht in seinem Jahresgutachten von einem Wachstum in 2010 von 3,7% und für 2011 von 2,2% aus. Damit sind die »Wirtschaftsweisen« etwas optimistischer als die Wirtschaftsforschungsinstitute, die in ihrem Herbstgutachten wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) für das laufende Jahr ein Wachstum von 3,5% und für 2011 eines von 2,0 bzw. 1,9% prognostiziert haben. Diesen Prognosen zufolge wäre der wirtschaftliche Einbruch nach zwei Jahren wieder ausgeglichen. Schon heute fahren die börsennotierten Unternehmen wieder Rekordgewinne ein. In ihren Bilanzen ist die Krise – vorläufig – ausgestanden. Nach dem sehr guten zweiten Quartal liegt die Gewinnquote wieder bei 34,1%.[2] Viele Maschinenbauer, Autohersteller und Zulieferbetriebe haben von der anziehenden Konjunktur durch den Export profitiert. In dieser Situation kommen selbst Mitglieder der schwarz-gelben Bundesregierung nicht umhin, sich für steigende Einkommen stark zu machen.

Krisenverarbeitung

Dabei geht es weniger um die Abschätzung des voraussichtlichen Verteilungsspielraums, denn dafür sind die Prognosen über die BIP-, Produktivitäts- und Preisentwicklung viel zu ungewiss. Entscheidend ist dreierlei:

Erstens die bereits in früheren Aufschwungsphasen gewonnene Erfahrung, dass sich zwar die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessern, die Beschäftigten davon aber nicht mehr partizipieren. Tatsächlich sinkt die Lohnquote seit drei Jahrzehnten – in allen kapitalistischen Metropolen, was zugleich Grundlage für die Herausbildung der in der neuen Weltwirtschaftskrise bis zum »Systemrisiko« abgestürzten Akkumulation des Finanzkapitals ist.

Es gibt jedoch – zweitens – einen deutschen Sonderweg. Nirgendwo anders in Europa sind die Löhne derart von der Reichtumsentwicklung abgekoppelt wie in Deutschland, mit dem Ergebnis, dass noch nicht einmal die Realeinkommensposition gehalten werden konnte. Hinzu kommt: Nirgendwo anders in Europa ist zugleich der arbeitsrechtliche und sozialstaatliche Status des Lohnarbeitsverhältnisses derart untergraben worden wie hierzulande seit dem Jahr 2003. Es sind die beschleunigte Ausweitung der Niedriglohnsektoren (6,5 Millionen)[3] auf nahezu US-amerikanische Ausmaße und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse – also Deregulierung in einem umfassenden Sinn –, die die Lohn­entwicklung nach unten ziehen.

Und ein dritter Abkopplungsprozess kommt hinzu: die Abkopplung der Leistungs- von der Lohnentwicklung. Selbst in den Krisenmonaten sind – bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung – die Leistungsschrauben weiter angezogen worden, sodass viele Unternehmen mit einem noch intensivierteren Leistungsregime aus der Krise kommen. Dieses geht nun einher mit massiver Arbeitszeitverlängerung, mit der die Arbeitszeitkonten schnell wieder aufgefüllt werden. Dabei bildet sich möglicherweise auch ein neues Regime flexibler Arbeitszeiten mit Kontensystemen heraus, die drohen, immer häufiger in den roten Überlastbereich gefahren zu werden.

Diese langjährigen und aktuellen Krisenerfahrungen sind auch der Hintergrund für die breitere Beteiligung an den gewerkschaftlichen Aktionen gegen die fortschreitende Deregulierung der Arbeitsverhältnisse (wofür die erneute rasante Zunahme der Leiharbeit in den Betrieben steht), gegen Rentenkürzungen, die auf Armut im Alter hinauslaufen (Rente mit 67), und gegen die nahezu ausschließliche Abwälzung der Krisenlasten auf die abhängig Beschäftigten. Diese Aktionen haben gezeigt: Die Wut gegenüber einem System, das schon lange nicht mehr sozial balanciert ist, und einer politischen Klasse, die diesen Anspruch auch gar nicht mehr an die Profiteure dieses System heranträgt, sitzt tief.

Metallindustrie: Tariferhöhung vorziehen

Diese Wut wird bekräftigt, wenn Gesamtmetallchef Martin Kannegießer bereits über »Verteilungshysterie« klagt. In der sich erholenden Konjunktur mutieren »Wirtschaftsvertreter zu Hobbygärtner«, kommentiert Mathias Schiermeyer das Verhalten der Arbeitgeberfunktionäre: »Mit der Floskel, man möge das ›Pflänzchen Aufschwung‹ nicht zertreten, warnen sie dann vor übermäßigen Lohnforderungen.«[4] So sieht DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben wegen der Krise »die Betriebe noch ausgeblutet« und plädiert für den »Vorrang von Investitionen vor Lohnerhöhungen«. BDA-Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt mahnt, »wir dürfen den wirtschaftlichen Aufschwung auf gar keinen Fall belasten oder gefährden.« Und der Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes (ZDB), Karl Robl, bekräftigt: »Es gibt keinen Spielraum für Lohnerhöhungen«. In diesem Chor darf natürlich die Mehrheit des Sachverständigenrats nicht fehlen. Sie empfehlen den Verteilungsspielraum nicht auszuschöpfen: »Das Erreichte darf nicht durch überzogene Lohnsteigerungen gefährdet werden«.

Auch wenn es schon längst keinen Geleitzug in der Tarifbewegung mehr gibt, liefert die Entwicklung in der Metall- und Elektroindustrie doch immer einen prägenden Orientierungsrahmen. Dort steht die Tariferhöhung für 2011 mit 2,7% aus dem Tarifabschluss vom Februar 2010 bereits fest. Über neue Entgelttarifverträge wird erst im April 2012 wieder verhandelt. Der Tarifvertrag enthält jedoch eine Öffnungsklausel, die es den Betriebsparteien ermöglicht, die für den 1. April 2011 vereinbarte prozentuale Erhöhung der Löhne und Gehälter um zwei Monate vorzuziehen.

Nach Bosch, Audi, Ford und Porsche zieht auch der Elektrokonzern Siemens die 2,7% vor. Dem Beispiel folgen inzwischen die Zulieferbetriebe ZF Friedrichshafen, SKF Schweinfurt und der Autoleuchtenhersteller Hella in Lippstadt. In zahlreichen weiteren Betrieben wie u.a. bei Daimler laufen die Verhandlungen zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern. Tatsächlich wird die Liste der Betriebe, die die Tariferhöhung auf Februar vorziehen, immer länger.

Dabei sind jedoch drei Hürden zu überwinden.

Erstens: Die wirtschaftliche Lage ist zwischen den Branchen und  Betrieben – beispielsweise zwischen Fahrzeug- und Maschinenbau – noch recht unterschiedlich, sodass es keineswegs sicher ist, dass bei der vorgezogenen Tariferhöhung ein »Sog« entsteht, dem sich möglichst kein tarifgebundener Betrieb entziehen kann.

Zweitens: Nicht wenige Betriebe ziehen es vor, statt einer vorgezogenen Tariferhöhung Bonuszahlungen oder »Erfolgsbeteiligungen« auszuschütten. Hier müssen Gewerkschaften auf der Hut sein. Denn hier wirkt der »Sog« der Finanzmarktsteuerung: Löhne sind in dessen Logik nicht mehr der Produktion vorausgesetzte, tarifvertraglich vereinbarte Kosten, sondern werden abhängig von Markt- und Renditeentwicklungen. Deshalb das Trachten der Unternehmen, so genannte ertragsabhängige Entgeltbestandteile auszuweiten. Dass diese dann auch noch betrieblichen Opportunitäten – sprich: schlechteren Kräfteverhältnissen – unterliegen, versteht sich von selbst. Gewerkschaften würden sich selbst den Boden unter den Füßen wegziehen, die hier nicht den Vorrang des Tarifvertrages sichern.

Drittens: Der Tarifabschluss in Zeiten eines rasanten Krisenabsturzes kann nicht Orientierungspunkt für die Verteilungssituation im Frühjahr 2011 sein. Das sehen auch die IG Metall, der Betriebsrat und die Beschäftigten in den sechs westdeutschen VW-Werken so, deren Tarifverhandlungen im Januar 2011 beginnen. Sie wollen sich, so der Wolfsburger Konzernbetriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh, nicht am Tarifergebnis des letzten Jahres orientieren, denn »der in der Krise vereinbarte Metallabschluss wird der positiven Geschäftsentwicklung nicht gerecht.«

Tarifrunde 2011: Die Zeit der Krisentarifverträge ist vorbei

Insgesamt laufen von Ende 2010 bis Ende 2011 die Einkommenstarifverträge für rund 7,5 Millionen Beschäftigte aus. In der chemischen Industrie endet die Laufzeit der Verträge Ende Februar. Ende März folgen das Bauhauptgewerbe, die Druckindustrie, die ersten Regionen des Einzel- und Großhandels und der Süßwarenindustrie. Im öffentlichen Dienst der Länder und im Hotel- und Gaststättengewerbe laufen die Tarifverträge bereits Ende dieses Jahres aus.

Für die IGBCE ist die Zeit der »Krisentarifverträge« vorbei. »Jetzt geht es um einen Aufschwungtarifvertrag«, kündigte das für Tarifpolitik zuständige Vorstandsmitglied, Peter Hausmann, an.[5] Auch die IG Bau erklärt, es gäbe in 2011 keinen Grund, »Zurückhaltung in der Lohnrunde zu üben«.  In der Tat: Das »Mantra der Lohnmäßigung«, so Gustav Horn (IMK), hat nicht nur zur Entstehung der Krise beigetragen, sondern auch über Jahre hinweg forciert, dass die Einkommen umverteilt wurden: »von der Arbeit zum Kapital, von unten nach oben«.[6]

Als großer Krisensektor erweist sich der öffentliche Bereich. Hochverschuldet durch krisenbedingte Steuerausfälle und Bankenrettungsprogramme – die in sich wiederum Umverteilungsprozesse von unten nach oben beinhalten – steht dort mehr als je zuvor »Sparpolitik« auf der Tagesordnung – verfassungsrechtlich festgeschrieben mit der »Schuldenbremse«. 2011 steht keine Tarifrunde bei den Gemeinden und beim Bund an, dafür aber für die Beschäftigten bei den Bundesländern. Der letzte Tarifvertrag mit einer Tariferhöhung von 1,2% spiegelt die Kräfteverhältnisse in diesem nur schwach organisierten Bereich wider. Dabei wird gerade auch bei den Ländern mit ihren maroden Landeszentralbanken deutlich, wo Verursacher und z.T. auch Gewinner der Krise sitzen, und wohin die Gelder fließen, die für die Beschäftigten angeblich nicht zur Verfügung stehen. Gerade im öffentlichen Dienst sind Verteilungskonflikte unmittelbar politische Auseinandersetzungen und müssen auch als solche geführt werden.

Bislang bringt allein der Export Schwung in die deutsche Wirtschaft. So war es vor der Krise, so darf es aber nach der Krise nicht weitergehen. Für nachhaltiges Wachstum ist neben dem Export die Stärkung der Binnenkaufkraft notwendig. Eine Stärkung der Binnennachfrage ist jedoch nur realistisch, wenn in der Tarifrunde 2011 von den Gewerkschaften deutlich höhere Löhne durchgesetzt werden, so auch der Sachverständige Peter Bofinger mit seiner »Minderheitsmeinung« im Gutachten.

Im Jahr 2010 wurden der Staatskonsum und die Anlageinvestitionen noch von den Konjunkturprogrammen angeschoben. Diese laufen 2011 aus. Stattdessen greifen die  Sparprogramme in Bund, Ländern und Gemeinden, die den privaten Konsum beschneiden.

Steigende Löhne in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst sind damit die entscheidenden Komponenten zur Erhöhung der Binnennachfrage. Diese werden jedoch nicht durch wohlmeinende Ermunterungen aus dem politischen Lager, sondern allein durch das Vertrauen auf die eigene Kraft und die Erhöhung der Durchsetzungsfähigkeit, verwirklicht.

Otto König ist Mitherausgeber und Richard Detje Redakteur von Sozialismus.

[1] WSI: Informationen zur Tarifpolitik – Tarifpolitischer Halbjahresbericht, Düsseldorf, Juli 2010.
[2] Frankfurter Rundschau vom 25.8.2010.
[3] Vgl. hierzu Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ), Niedriglohnbeschäftigung 2008, IAQ report, Nr. 6, 2010.
[4] Stuttgarter Zeitung vom 27.8.2010.
[5] Handelsblatt vom 1.11.2010.
[6] Süddeutsche Zeitung vom 26.10.2010.

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