1. Februar 2005 Redaktion Sozialismus

Zumutungen als Reformen

Eine Zusammenlegung der verschiedenen sozialen Sicherungssysteme von Arbeitslosen- und Sozialhilfe hätte durchaus als eine Reform konzipiert werden können.

Drei Aspekte hätte eine solche zu leisten gehabt:

  Erstens eine grundlegende Überprüfung der Sozialhilfe; denn dem Anspruch der Sicherung eines bedarfsorientierten soziokulturellen Existenzminimums für Menschen ohne Erwerbsarbeit und ohne Einkommen genügte die bisherige Regelung schon lange nicht mehr.

  Zweitens müsste für Langzeitarbeitslose sowohl eine ausreichende Existenzsicherung als auch eine Qualifizierung der Arbeitskraft gewährleistet werden; darüber hinaus müssten Langzeitarbeitslose und Sozialhilfebezieher vernünftig in das übrige soziale Sicherungssystem (Krankenversicherung und Altersrente) eingebunden werden.

  Und drittens könnte der mehrfache bürokratische Aufwand abgestellt und mit der Integration von Wohngeld etc. eine bürgerfreundliche Verwaltungsstruktur etabliert werden. Herausgekommen ist aber mit dem Gesetzespakt "Hartz IV" keine Reform, sondern eine Zumutung.

Die Versendung der Antragsunterlagen für das neue Arbeitslosengeld II samt Fragebogen zur Ermittlung der Unterstützungsleistung in der "Bedarfsgemeinschaft" hat über mehrere Wochen eine breitere Protestwelle hervorgerufen. Das "neue Sicherungssystem" wurde in einigen unwesentlichen Punkten nachgebessert.

Viele hatten daher erwartet, dass zum Beginn des Jahres 2005 die Proteste wieder breiter aufflammen würden. Dies hat sich ebenso als Illusion erwiesen wie die Erwartung, Gewerkschaften, Sozialverbände und globalisierungskritische Organisationen könnten der Regierung mit ihrer "Agenda 2010" einen heißen Herbst bereiten.

Es gilt festzuhalten: Proteste und Widerstand gegen die neoliberalen Zumutungen sind nach wie vor nicht normaler Bestandteil unseres Alltagslebens und der gesellschaftlichen Willensbildung. Mehr noch: Das politische Klima hat sich in dem zurückliegenden Halbjahr erheblich verändert. Damals waren nicht nur die politische Linke, sondern auch der Großteil der Medien von einem anderen Szenario ausgegangen, wie die FAZ feststellt: "Massendemonstrationen wegen der Sozialkürzungen durch die Hartz IV-Vorhaben; damit einhergehende Proteste der Gewerkschaften und Erfolgsmeldungen über die Aussichten einer neuen linkssozialdemokratischen Partei; sodann die Gewissheit, deswegen würden SPD und Grüne die beiden letzten rot-grünen Landesregierungen verlieren – zuerst im Februar in Schleswig-Holstein, dann im Mai auch die in Nordrhein-Westfalen." (FAZ 8.1.05) Dieses Szenario ist nicht eingetreten. Mehr noch: Die Sozialdemokratie macht sich nicht nur in Schleswig-Holstein Hoffnung, zusammen mit den Grünen die Mehrheit verteidigen zu können. Die SPD sieht sich – bestätigt durch Umfragen – politisch im Aufwind und ruft 2005 zum Jahr der "Entschiedenheit" und der "neuen Stärke" aus.

Ganz im Sinne eines "Weiter so" bekräftigt die SPD, dass sie die Agenda 2010 als Einstieg sieht. "Reformen sind in ihrer Umsetzung nicht einfach und in ihrer Wirkung anstrengend, aber sie sind nötig und zielführend... Die grundlegende Erneuerung unseres Landes ist mit den Entscheidungen vom 1.1.05 längst noch nicht erreicht. Aber sie ist erreichbarer geworden. ... Diese Aufgaben sind gewaltig. Aber wir gehen sie mutig und konsequent an. Die beschriebenen Ziele zeigen aber auch, dass Reformen nicht immer nur Zumutungen sind und dass wir unser Land in eine gute, menschliche Zukunft führen können." (SPD-Pressemitteilung vom 10.1.2005)

Die Hoffnung, dass Reformen nicht immer Zumutungen sind, mag die SPD in ihrer sturen Haltung bestärkt haben. Die wichtige Frage lautet: Warum lassen sich große Teile der Wahlbevölkerung diese Zumutungen gefallen?

Die "Gesundheitszumutung" hat den privaten Haushalten eine Mehrbelastung in zweistelliger Milliardenhöhe gebracht, die Krankenkassen konnten ihre Schulden abbauen, der Krankenstand und folglich die Arztbesuche sind zurückgegangen, die Pharmakonzerne werden vom Kanzler für leichte Einbußen versöhnt und die nächste Gesundheitsreform wirft ihre Schatten voraus.

Die Zumutungen am Arbeitsmarkt bringen in diesem wie im letzten Jahr nur weniger Ausgaben für mehr Arbeitslose. Eine Belebung des Arbeitsmarktes ist vom Superminister auf das Jahr 2006 verschoben worden.

Viele dieser Zumutungen haben Auswirkungen auf Binnenwirtschaft und Konjunktur, was auch die SPD weiß: "Wer das Land krank redet, verhindert die Bereitschaft zum Aufbruch... Massenkaufkraft sinkt aber auch und auch das beeinträchtigt die Binnennachfrage. Von seiner Arbeit muss man leben können" – was realiter aber viele nicht mehr können. Entgegen der häufigen Beteuerung vieler SPD-Mandatsträger, man könne mit den neuen Regelsätzen von ALG II gut auskommen, nimmt die in Armut lebende Bevölkerung weiter zu. Gestiegen ist die Zahl der Mini-Jobs, ausgeweitet wurden die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die unter dem sozialkulturellen Existenzminimum entlohnt werden. Und dies liegt im Trend. Der von der rot-grünen Regierung in Auftrag gegebene Reichtums- und Armutsbericht bestätigt als Ergebnis der Zumutungen aus der ersten Legislaturperiode: "Viele private Haushalte in Deutschland verfügen über hohe Vermögen. Diese sind in der Vergangenheit stetig gewachsen... Allerdings sind die Privatvermögen sehr ungleichmäßig verteilt. Während die unteren 50% der Haushalte nur über etwas weniger als 4% des gesamten Nettovermögens (ohne Betriebsvermögen) verfügen, entfallen auf die vermögendsten 10% der Haushalte knapp 47%. Der Anteil des obersten Zehntels ist bis 2003 gegenüber 1998 um gut zwei Prozentpunkte gestiegen." (Entwurf XXIV) Die polemische Kurzformel lautet: Dank der Zumutungen von Rot-Grün sind die Reichen reicher und Armen ärmer geworden.

Auch im abgelaufenen Jahr 2004 hat sich diese Tendenz fortgesetzt. Erstmals wurde mit einem Wirtschaftswachstum von 1,7% die längere Phase der Stagnation durchbrochen. Aber die BürgerInnen, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben, haben von dieser Ausweitung des gesamtgesellschaftlichen Produkts nichts abbekommen: "Während das Arbeitnehmerentgelt ... mit 1.132 Euro auf dem Vorjahresstand stagniert, legten die Unternehmens- und Vermögenseinkommen beträchtlich auf 484 Mrd. Euro zu, das war mit 10,7% die höchste Wachstumsrate seit der Wiedervereinigung." (Statement vom Präsidenten des Statistischen Bundesamtes auf einer Pressekonferenz am 13.1.2005)

Gute Zukunftaussichten kann man als SPD-Mandatsträger hegen. Die größte Zumutung des letzten Jahres waren die vielfältigen Bereicherungsaktionen von Angehörigen der politischen Klasse. Diesmal war weniger die Spendenpraxis Symbol von Korruption als vielmehr die Nebeneinkünfte von Mandatsträgern.

Die Logik ist bestechend: Die massiv gestiegenen Kapital- und Vermögenseinkommen werden großteils ins Ausland und auf die Finanzmärkte wandern; im Inland wird die Massenkaufkraft weiter sinken und die tendenziell rückläufigen Einnahmen bei den sozialen Sicherungssystemen werden einen weiteren Bedarf nach "Zumutungen" erzeugen. Nur wenn Aussicht auf höhere Arbeits- und Sozialeinkommen besteht, machen Erweiterungsinvestitionen wieder Sinn.

Die Schlussfolgerung ist bekannt: Ein radikaler Politikwechsel muss her. Aber warum lassen sich große Teile der Wahlbevölkerung eine solche Umverteilungs- und Zerstörungspolitik gefallen?

Kernproblem für die anhaltende Passivität ist die Zersplitterung der Kräfte, die Hoffnungslosigkeit und vielfach auch unzureichende Kenntnis über die Zusammenhänge. Die seit Jahren anhaltende Auszehrung des politischen Systems hält unvermindert an. Bei gestiegenem politischen Interesse nimmt das Engagement in den Parteien und bei Wahlen ab. Die neue Stärke der SPD basiert auf einem Placebo-Effekt. Im letzten Jahr sind ihr 44.000 Mitglieder davongelaufen und viele Wähler sind bei den Abstimmungen zuhause geblieben. Allerdings ist die gesellschaftliche und politische Krise auch auf die Union und das gesamte politische System durchgeschlagen.

Neuerdings macht sich in allen Regionen – auch in Schleswig-Holstein – ein teilmodernisierter Rechtradikalismus breit und rechnet sich Chancen aus, mit Werten von deutlich über der 5%-Sperrklausel in die Landtage einzuziehen. CDU/CSU und FDP verkünden ihren WählerInnen noch radikalere Zumutungen jenseits der "sozialen Marktwirtschaft" und können mit Debatten über Patriotismus, abendländische Leitkultur und den Islamismus als Sprengsatz der Multi-Kulti-Gesellschaft die an den rechten Rand Freigegebenen nicht mehr einbinden. Die SPD gewinnt relativ – gegenüber einem geschwächten bürgerlichen Lager – an Stärke und entwickelt daraus die Sturheit, mit der asozialen Politik fortzufahren.

Gesellschaftlicher Widerstand von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften etc. und realistische Alternativen gehören zusammen. Nur durch fortgesetzte und immer populärer werdende Aufklärung über die Wirkungszusammenhänge kann eine Vernetzung der gesellschaftlichen Protestlager vorankommen. Nur wenn im öffentlichen Raum die Kritik an sozialdemokratisch-grünen und bürgerlichen Zumutungen auch zur Sprache und zu Gehör kommt, kann der falsche Schein der Alternativlosigkeit durchbrochen werden.

Wer für einen radikalen Politikwechsel eintritt, wie viele in den Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und Sozialverbänden, der müsste an der Herausbildung eines veränderten politischen Kräfteverhältnisses interessiert sein, weil dieses veränderte Politikfeld eine Bedingung für eine größere Stringenz und Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Protestes ist, ohne den ein radikaler Politikwechsel perspektivisch nicht zustande kommen kann.

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