28. September 2011 Redaktion Sozialismus: Alltagsbewusstsein im Krisenprozess

Zuversicht trotz Hiobsbotschaften

Einer aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen zufolge lehnt die Hälfte der BundesbürgerInnen es ab, dass die EU Griechenland in den Bankrott schickt – 41% befürworten eine solche Entwicklung.

 

Eine deutliche Mehrheit von 68% glaubt, dass ein Bankrott Griechenlands für Deutschland wirtschaftlich schlecht wäre, lediglich 15% erwarten davon positive Effekte. Allerdings lehnen drei Viertel eine Erweiterung des Rettungsschirms ab und nur 19% unterstützen die entsprechende Erhöhung der deutschen Bürgschaften. Die Ablehnung geht quer durch alle Parteien (Union: 70%; SPD: 73%; Linke: 71%; Grüne: 67%; Piraten: 82%). Aber auch eine Fortführung der niedrigeren Finanzunterstützung wird kritisch gesehen: Weitere Hilfspakete für Athen unterstützt nur ein Fünftel der Befragten. Der Befund: Das Alltagsbewusstsein vermittelt kein eindeutiges Bild. Positiv zu werten ist, dass die große Mehrheit der deutschen Wahlbevölkerung gegenwärtig nicht bereit ist, einer rechtspopulistischen Schlussstrichparole zu folgen. Die FDP hat für einen solchen Versuch bei den Wahlen in Berlin eine krachende Niederlage kassiert. Aber in den Momentaufnahmen steckt noch eine tiefergehende Problematik.

Im Frühjahr 2011 gab knapp die Hälfte der Wahlbevölkerung an, dass der wirtschaftliche Erholungsprozess, der nach der massiven Schrumpfung des Jahres 2009 erst zögerlich und sich dann verstärkend einsetzte, auch in ihrem Alltagsleben spürbar sei. Dieser Optimismus steht »in auffallendem Kontrast zu der Einschätzung, wie sich unsere Gesellschaft in den nächsten zehn Jahren entwickeln wird«. Während eine Mehrheit ihre eigenen Perspektiven positiv einschätzt, glauben noch mehr (72%), dass künftig eine immer größere Zahl von Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich nicht mehr mithalten kann. »Die große Mehrheit geht davon aus, dass Egoismus und Materialismus die Gesellschaft immer mehr prägen werden«.

Dieser Kontrast in der Krisenwahrnehmung hat sich in den letzten Monaten weiterentwickelt. Turbulenzen an den Börsen, Rezessionsmeldungen, immer neue Hiobsbotschaften aus der Euro-Zone: Tagtäglich werden die BürgerInnen mit düsteren Meldungen über die Gefährdung von Wohlstand, Vermögen und Zukunftsaussichten konfrontiert. Diese Permanenz der Krisen in allen Medien hat eine eindeutige und zugleich beunruhigende Konsequenz: Das Vertrauen in die Lösungskompetenz der Politik ist noch weiter gefallen.

Dies zeigt sich in der Beurteilung der schwarz-gelben Regierung. Zwei Jahre nach der Bundestagswahl ist die Mehrheit der BundesbürgerInnen enttäuscht: 83% sind mit der Zusammenarbeit der Koalitionspartner unzufrieden. Lediglich gut die Hälfte (54%) glaubt noch daran, dass die Regierungskoalition bis zur Bundestagswahl im Herbst 2013 hält. Sogar bei den eigenen AnhängerInnen ist die Skepsis groß: 33% der UnionswählerInnen fürchten ein vorzeitiges Aus. Bei den Liberalen sind es sogar 37%. Dieses negative Urteil ist keineswegs mit deutlich optimistischeren Bewertungen für die Oppositionsparteien verbunden. Es gibt gegenwärtig keinen Akteur im politischen Feld, der von diesem Misstrauen ausgenommen ist – ein Faktor, der den Erfolg der Piratenpartei bei den Berlin-Wahlen erklärt. Und: Die Hoffnung, durch einen Bewegungskrieg im politischen Feld die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nachhaltig verändern zu können, ist vor diesem Hintergrund wenig begründet.

Den BürgerInnen vermittelt sich der Eindruck, dass in der europäischen Schuldenkrise niemand mehr den Überblick über das Ausmaß der Probleme hat – geschweige denn überzeugende Lösungskonzepte anbieten kann. 56% der BürgerInnen sind gegenwärtig davon überzeugt, in besonders unsicheren Zeiten zu leben. Lediglich 28% empfinden im Rückblick die Zeit vor 20, 30 Jahren als vergleichbar unsicher und unkalkulierbar wie die gegenwärtige Situation. Zwei Drittel befürchten, dass die Krise der überschuldeten Länder in der Euro-Zone über kurz oder lang auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland durchschlagen wird.

Trotzdem ist eine Mehrheit bemerkenswert positiv gestimmt über ihre persönlich-familiäre Zukunft. 53% sehen den nächsten zwölf Monaten überwiegend optimistisch entgegen, nur 12% mit ausgeprägten Befürchtungen. In Bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung der nächsten sechs Monate rechnen nur 15% mit einem Abschwung. Die Meldungen zur prekären Finanzlage vieler Staaten kontrastieren mit der wachsenden Zufriedenheit mit der eigenen Lage: Erstmals seit Ende der 1990er Jahre nimmt die Zufriedenheit mit der eigenen wirtschaftlichen Situation zu. Vor diesem Hintergrund zeugen auch die Reaktionen auf die europäische Schuldenkrise eher von Unaufgeregtheit, die durchaus mit Wut und Misstrauen gegen­über dem politischen System und seinen Akteuren einhergehen kann. Während beispielsweise in Politik und Medien häufig und voller Zorn auf die Proteste der GriechInnen gegen die verordneten Sparmaßnahmen reagiert wird, bekunden tatsächlich 52% der BürgerInnen Verständnis für diese Proteste. Den Rettungsschirm hält zwar eine relative Mehrheit von 44% für falsch. Angesichts der Überzeugung der überwältigenden Mehrheit, dass die Hilfspakete die Situation nicht nachhaltig entschärfen, ist bemerkenswert, dass der Widerstand nicht wesentlich größer ist. Zudem kommt die Ablehnung vor allem aus politisch desinteressierten Bevölkerungskreisen, während unter politisch interessierten BürgerInnen die Auffassung überwiegt, dass der Rettungsschirm grundsätzlich notwendig und richtig ist. Mit der Erfahrung eines langwierigen Krisenprozesses schon vor Ausbruch der Großen Krise setzt die große Mehrheit darauf, sich auch in der aktuellen Krisenkonstellation persönlich behaupten zu können. Gestützt wird diese Hoffnung durch die Erfahrung der Krise 2008, die nur 8% der BürgerInnen direkt hart getroffen hat. Nach dem Absturz 2008/09 zog die Konjunktur schnell wieder an. Die Sonderentwicklung hierzulande hat die Überzeugung gestärkt, dass Deutschland als eine der stärksten Wirtschaftsnationen der Welt im Standortwettbewerb weiterhin punkten kann. Die meisten hoffen, dass auch die aktuelle Verdichtung von Krisentendenzen nicht in ihr Leben eingreift. Dies könnte sich ändern. Mindestens ein Teil der Experten will den Rückfall in eine erneute Rezession (»douple dip«) nicht mehr ausschließen.

Bereits im Sommer 2009, als sichtbar wurde, dass der wirtschaftliche Absturz gestoppt wurde, signalisierten Meinungsumfragen eine leichte Entspannung von Krisenängsten, die in den folgenden Monaten an Breite gewann. »Die meisten Bundesbürger blieben von größeren Einschränkungen verschont, sodass zum Jahresbeginn 2010 47% der deutschen Bevölkerung wieder mit Hoffnungen in die Zukunft blickten. Auf dem Höhepunkt der pessimistischen Konjunkturerwartungen, im Spätherbst 2008, sagten dies nur 30%.« (Allensbach 2010) Auch die tiefe Krise der EU, die im Frühjahr 2010 nur kurz vor dem Staatsbankrott einer Reihe süd- und mittelosteuropäischer Länder und dem Auseinanderbrechen der Euro-Staaten gestoppt werden konnte, haben die Einschätzung nur kurzfristig getrübt.

Angesichts dieser Konstellation sehen sich politisch und wissenschaftlich engagierte Zeitgenossen mit einer paradoxen Situation konfrontiert: einer Finanz- und Wirtschaftskrise historischen Ausmaßes, die scheinbar keine nachhaltigen Spuren im Alltagsbewusstsein der Bevölkerung hinterlassen hat.

Unsere zentrale These lautet: Krisen sind Zeiten, in denen der gleichsam naturgegebene Schein der bürgerlichen Ordnung aufbricht und ihr historischer Charakter aufschimmert. Dies allerdings nicht in der Weise – wie man vor über 100 Jahren in der Zweiten Internationale der Arbeiterbewegung dachte –, dass ein großer »Kladderadatsch« die Menschen auf die Barrikaden treiben und den Kapitalismus hinwegfegen würde. Auch große Krisen – das hat Gramsci immer wieder diskutiert – entfalten nicht von einem auf den anderen Tag eine »kathartische« Wirkung, die den Schleier vor der Einsicht in die Bedingungen, den weiteren Gang und die allgemeinen Resultate der sozialen Bewegungen wegreißt. Auch eine große Krise ist eingebettet in einen zeitgeschichtlichen Kontext, der ihre Wahrnehmung sowie die Einschätzung der Handlungsmöglichkeiten prägt.

Das gilt auch heute: Trotz ihres historischen Charakters wird die Weltwirtschaftskrise nicht als ein Ereignis wahrgenommen, das Anlass für eine weitreichende Neuausrichtung des Alltagslebens ist, sondern von der Mehrheit als ein sozialer Kältestrom erlebt, der nicht erst »seit Lehman«, sondern bereits seit Jahren die Zukunftsfähigkeit der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und insbesondere des politischen Systems zunehmend skeptischer bewerten lässt. Die Delegitimierung der »sozialen Marktwirtschaft« ist vorangeschritten. In der Krise vollzieht sich eine weitere Delegitimierung der bestehenden Sozial- und Herrschaftsverhältnisse. Die Richtung, in die Legitimationsverluste neu artikuliert werden, ist allerdings nicht vorbestimmt. Wohin dabei das politische Pendel ausschlägt, hängt nicht zuletzt von den sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen ab.

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