26. Januar 2012 Redaktion Sozialismus

Zweifel am Kapitalismus

Neoliberale Gipfelstürmer, sozialdemokratische Halbherzigkeiten und der Bürger Ricardo

 

Das Motto des diesjährigen World Economic Forum – »Der große Wandel: Entwürfe für neue Modelle« – spiegelt das dramatische Scheitern des neoliberalen Umbaus von Ökonomie und Gesellschaft wider.

Die Stimmung schlägt wieder um. Dabei wollte man die Krise und das hektische Krisenmanagement demnächst hinter sich gelassen haben und nach neuen Wegen suchen, um die globalen Probleme in Gesamtzusammenhängen zu betrachten. Nun sitzen sich in Davos erneut führende Vertreter des Kapitalismus gegenüber und vermessen dessen systemische Grenzen.

Passend zum neoliberalen Gipfeltreffen kommt der aktuelle Bericht des Internationalen Währungsfonds zur Stabilität des globalen Finanzsystems: »Tief in der Gefahrenzone«. Christine Lagar­de, die Direktorin des Fonds, fordert seit längerem eine Aufstockung des Rettungsschirms für die Eurozone. Eine höhere »Brandschutzmauer« für Italien und Spanien sei nötig. Zudem müsse die Europäische Zentralbank ihre Geldpolitik rasch lockern. Die IWF-Experten fordern außerdem die Staaten der Eurozone auf, ihre Sparbemühungen nicht zu übertreiben. Es sei genauso wichtig, das Wachstum zu stützen. Das gelte besonders für Staaten mit entsprechendem finanziellen Spielraum, die ihre Sparmaßnahmen hinauszögern könnten. Damit ist Deutschland gemeint. Auf unerwartet schwaches Wachstum in diesem Jahr sollte nicht mit noch strengeren Sparprogrammen reagiert werden.

Doch exakt dieser Kurs wird den europäischen Staaten von der Berliner Republik vorgegeben – mit einem Staatenvertrag, der Schuldenbremsen mit Maßnahmen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit als verbindliche Rechtsnormen vorschreibt. Ersteres läuft auf harte Austeritätspolitik, letzteres auf weitere Deregulierung der Arbeitsmärkte, der Arbeitsverträge und der Sozialverfassung, gepaart mit beschleunigter Privatisierung hinaus. Dabei sollte klar sein, dass der »deutsche Weg« nicht verallgemeinert werden kann. Permanente Exporterfolge für alle kann es nicht geben – nur ausgeglichene Zahlungsbilanzen können das Ziel sein. Ebenso beim öffentlichen Haushalt. Über höheres Wirtschaftswachstum allein sind der Abbau der Defizite und eine Tilgung der Schulden nicht zu schaffen. Der grundsätzliche Streit geht deshalb darum, ob Haushaltssanierung durch Streichung öffentlicher Leistungen und Aufgaben oder durch eine Erhöhung der Einnahmen zu erfolgen hat.

In Deutschland steht die Schuldenbremse seit 2009 im Grundgesetz. Demnach ist ein ausgeglichener Haushalt auf Bundesebene bis 2016 und für die Bundesländer bis 2020 vorgeschrieben – und zur Kernfrage in der politischen Auseinandersetzung geworden.

Beispiel Saarland: Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte das Jamaika-Bündnis (CDU, FDP und Grüne) wegen interner Streitigkeiten in der FDP platzen lassen. Gespräche mit der SPD über die Bildung einer großen Koalition sind vorläufig gescheitert, sodass es im März zu Neuwahlen kommt. Deren Ergebnis steht weitgehend fest: Bildung einer großen Koalition, um auf die zwischen Bund und Ländern vereinbarte Schuldenbremse treten zu können. Danach muss das Saarland bis 2020 seine Nettoneuverschuldung jährlich um etwa 80 Mio. Euro auf Null zurückfahren. Im Gegenzug bekommt es etwa 260 Mio. Euro pro Jahr an Hilfen. Eine Alternative sieht die SPD nicht, da DIE LINKE die Schuldenbremse nicht akzeptiere.

Die Uneinigkeit von saarländischer SPD und Linkspartei in dieser Frage ist ein durchaus neues Phänomen. Anfang 2009, als die Föderalismuskommission die Schuldenbremse beschloss, waren sich beide Parteien in ihrer ablehnenden Haltung noch einig. Im Mai 2009 beschloss ein Parteitag der saarländischen SPD ein Regierungsprogramm für die Landtagswahl mit zahlreichen Forderungen, deren Vereinbarkeit mit der Schuldenbremse zumindest strittig ist. So etwa eine Bildungsquote am Landes­etat von 30%, kleinere Klassen sowie der Einsatz von Landesmitteln für eine aktive Arbeitsmarktpolitik.

Jetzt hat die Saar-SPD ihre Haltung geändert: Nach Neuwahlen gäbe es »keine Chance für Rot-Rot in diesem Land«. Der Chef der Saar-SPD, Heiko Maas, räumt für seine Partei ein, man habe die Schuldenbremse »immer sehr kritisch« gesehen. »Doch wir müssen die Realität akzeptieren«. Die Alternative einer Verbesserung der Einnahmeseite etwa durch eine Vermögenssteuer sei in absehbarer Zeit nicht zu erreichen. Heiko Maas erklärt viel und doch vage: »Das Saarland steht wegen seiner hohen Verschuldung vor einem harten Sanierungsweg. Wer mit uns regieren will, muss dazu bereit sein. Aber es geht auch darum, gerecht zu sparen und eine stabilere Einnahmebasis zu bekommen. Die Vermögenden müssen einen Beitrag leisten, damit die Aufgaben in Kindergärten und Schulen finanzierbar bleiben. Und wir wollen gute Arbeit: Bekämpfung des Missbrauchs der Leiharbeit, Gesetzlicher Mindestlohn, Initiativen für eine Vermögenssteuer und eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes … Es geht jetzt um die Unterschiede zwischen SPD und CDU. Darüber müssen die Wähler dann abstimmen. Klar ist: Wir wollen den Politikwechsel. Das muss jeder wissen, der mit uns nach der Wahl koalieren will … Wir wollen stärkste Partei werden. Die Linken verweigern sich der Realität, in dem sie etwa die Schuldenbremse nicht akzeptieren. Damit verweigern sie sich auch jeder Regierungsbeteiligung« (Frankfurter Rundschau vom 24.1.2012).

DIE LINKE verweigert sich keineswegs der Realität. Es geht präzise um den Weg, wie man zu einem ausgeglichenen Haushalt kommt. Oskar Lafontaine skizziert die Gegenposition: »Heiko Maas erklärte richtigerweise, Jahr für Jahr bei Kindern und Familien 80 Millionen einsparen zu müssen, könne keine dauerhafte Option sein. Daher ist der andere Weg, die Vorgaben des Stabilitätsrates zu erfüllen, die Erhöhung der Einnahmen. Wir haben jetzt durch die rot-grüne Mehrheit im Bundesrat die einmalige Chance, eine gerechtere Besteuerung der hohen Einkommen und Vermögen durchzusetzen. Es wird also bei den Wahlen darüber entschieden, ob wir weniger Bildung und Sozialstaat im Saarland haben werden. Oder ob wir durch eine andere Steuerpolitik im Bund die Länderkassen so füllen, dass wir auch die Vorstellungen realisieren können, die Linke und SPD haben, um zum Beispiel die Schulsituation im Land zu verbessern, also durch kleinere Klassen und mehr Lehrer. Zudem wollen wir nicht weiter Sozialleistungen streichen.« (Saarbrücker Zeitung vom 20.1.2012)

Die Erhöhung der Einnahmen durch höhere Steuern auf höhere Einkommen und Vermögen wäre auch ein Weg, die Schuldenberge abzutragen. Die Linke kann sich dabei auf einen der Gründer der politischen Ökonomie, den Bürger David Ricardo (1772-1823) und dessen »wissenschaftliche Unbefangenheit« (Marx), berufen. Zu dessen Lebzeiten war die Staatsschuld Englands infolge der Napoleonischen Kriege und angesichts unzureichender Steuereinnahmen auf bis dahin unbekannte Höhen angeschwollen. Das hatte dazu geführt, dass etwa die Hälfte der laufenden Steuereinnahmen für den Schuldendienst verwendet werden musste. Die öffentliche Schuld, so Ricardos Vorschlag, sollte durch eine einmalige Vermögenssteuer innerhalb weniger Jahre getilgt werden. Als Mitglied des House of Commons hielt er am 24. Dezember 1819 eine Rede: »Um sich gegen dieses Übel zu schützen, das unmittelbar verantwortlich ist für individuelle Ungerechtigkeit und nationalen Schaden, solle das gesamte Kapital eines Landes für den Abbau der öffentlichen Schuld ermittelt werden, sodass kein Kapital mehr das Land verlassen dürfe, ohne vorher einen fairen Anteil dieser Schuld zu begleichen. Die Durchführung dieses Plans könne zwar auf gewisse Schwierigkeiten stoßen, aber die Bedeutung des angestrebten Zieles sei das Experiment wert, jede sich ergebende Schwierigkeit zu überwinden. Der gesamte Plan, mittels dessen die Begleichung der öffentlichen Schuld verwirklicht werden könne, sei … innerhalb von vier bis fünf Jahren umsetzbar«.

Die Hauptursache für das Ansteigen der Schuldenquote der öffentlichen Haushalte liegt in der Steuersenkungspolitik bei den Unternehmens- und Vermögenseinkommen. Das führte zur Schrumpfung des öffentlichen Sektors bei gleichzeitiger Expansion des Kredits, zur Verschärfung der Einkommens- und Vermögensunterschiede und zur übermäßigen Ausdehnung der Finanzsektoren (Finanzialisierung), die schließlich zur Finanzkrise führte, deren Folgen mit einer weiteren Expansion der Staatsschulden begrenzt wurden. Die Krise der Eurozone ist lediglich eine Erscheinungsform dieser Widerspruchsentwicklung.

Die Finanzmarktkrise erweist sich im engeren wie im weiteren Sinne also als Krise des Systems. Das verbreitete Unbehagen richtet sich nicht nur gegen die Spekulation und Zockerei, die offenkundige Leichtigkeit, mit fremdem Geld reich werden zu können, und gegen unzureichende staatliche Regulierung und Kontrolle, sondern sie schlägt um in eine tendenzielle Ablehnung der Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der Ausblick auf die nächsten Monate ist düster und auch das Gipfeltreffen in Davos wird keine Silberstreifen ausmachen können. Stefan Schulmeister wagt die Prognose: »Das Urteil künftiger Historiker über unsere Eliten am Beginn der Depression der 2010er-Jahre wird vernichtend ausfallen. Anders als Reichskanzler Brüning könnten sie die Erfahrungen der 1930er-Jahre berücksichtigen: Finanzspekulation führte 1929 zum großen Finanzcrash, die Sparpolitik machte aus der nachfolgenden Rezession eine Depression.« (Wirtschaftsblatt vom 24.1.2012)

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