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13. August 2014 Bernhard Sander

Armut und Reichtum in Frankreich

Das staatliche Statistikbüro INSEE hat für Frankreich kürzlich eine Untersuchung zu Armut und Vermögen am Ende der Sarkozy-Ära veröffentlicht.[1] Diesem Präsidenten und seiner Partei war es gelungen, wenn auch offenbar unter Einsatz eines gigantischen Parteispendenbetruges, eine Koalition der »Leistungswilligen« aus allen Bevölkerungsschichten zu schmieden.

»Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen«, lautete das Motto. Schon vor dem Amtsantritt war diese »Bling-bling«-Regierung in die Kritik geraten, als Sarkozy in der Wahlnacht mit seiner »Entourage der Reichen und Schönen« ins Restaurant Fouquet´s zog, um zu feiern. Noch vor seiner Wiederwahl brach allerdings diese Koalition unter dem Druck der großen Finanz- und Wirtschaftskrise auseinander.

Obwohl die Sozialdemokraten bei den letzten Präsidentschafts- und den anschließenden Parlamentswahlen einen beeindruckenden Sieg einfuhren, blieb der versprochene Politikwechsel aus. In der Folge geriet das politische System in seine bisher schwerste Krise – mit hoher Wahlenthaltung und einem gewaltigem Schwenk zum Rechtspopulismus.

Frankreich liegt sowohl bei der Armutsrate als auch bei der Ungleichheit (gemessen mit den Gini-Ungleichheitskoeffizienten) im Mittelfeld der Europäischen Union. Das verfügbare Bruttoeinkommen pro Jahr und Einwohner liegt mit 24.900 Euro unter dem Deutschlands (28.300 Euro). Aber was heißt schon Durchsschnitt?! Lassen sich an den Einkommensverhältnissen die Prekarisierung der Lohnarbeit und die Schrumpfung der Mittelstandsgesellschaft erkennen?


Armut

Die Armut, definiert als ein Einkommen unterhalb von 60% des Medians (= mittleres Einkommen), hat auch in Frankreich stark zugenommen. Ihr Anteil lag zwischen 2002 (Ende der Regierung Jospin und der pluralen Linken) und 2008 immer um die 13%, um in der Periode Sarkozy auf 14,3% (2011 als letzte verfügbare Zahl) anzusteigen. Die Zahl der betroffenen BürgerInnen nahm in der Amtszeit Sarkozys zwischen 2008 und 2011 von 7,8 auf 8,7 Mio. zu. Es ist vermutlich dieser deutliche Anstieg, der zu großer Unzufriedenheit und zur Abwahl Sarkozys führte.

Der Anstieg betraf vor allem die Arbeitslosen, von denen 38,9% als arm gelten müssen (35,8% noch 2010), aber auch eine beachtliche Zahl von Lohneinkommensbeziehern (von 6,3% auf 6,9%). Das ist in einem Land mit gesetzlichem Mindestlohn bemerkenswert, aber die Statistik stellt fest, dass in konstantem Geldwert das SMIC gesunken ist.

Da die Zuwendungen für Arbeitslose keinen automatischen Inflationsausgleich kennen, nimmt ihre Verarmung zu. Je länger die Arbeitslosigkeit dauert, desto höhere Absenkung ihrer Median-Bezüge müssen sie verkraften (3,2% für Bezieher bis 6 Monate, 7% bei Beziehern zwischen sechs und 12 Monaten). Die Zahl der RentnerInnen unter den Armen geht hingegen zurück, da im April 2011 eine Erhöhung der Renten von 2,1% und der Grundsicherung stattgefunden hat.

Die Zahl der Armen unter den Erwerbstätigen, stieg zwischen 2010 und 2011 auf 10,9%. Zwischen 2009 und 2010 entkamen 4% der Gesamtbevölkerung der Armut und 5% rutschten hinein.

Die Schwierigkeiten, Miete, Strom sowie Heizung zu bezahlen und am Ende des Monats noch Geld übrig zu haben, zum ausreichend Essen aufzutreiben, häufen sich bei Alleinstehenden (15%), Alleinerziehenden (27%) und Familien mit mehr als zwei Kindern (17%), während die Durchschnittsfamilien (>10%) offenbar von den französischen Sozialsystemen einigermaßen aufgefangen werden, so dass solche existentiellen Probleme eher selten auftreten.

Im untersten Zehntel der Einkommen stellen Alleinerziehende die Hälfte, im nächstniedrigen Zehntel ein Drittel der Einkommen. Ungefähr jedes fünfte Kind unter 18 Jahren wächst in Frankreich in Armut auf. 41% der alleinerziehenden Eltern (davon 22% in Arbeit) leben unterhalb der Armutsschwelle. Und die Armut ist auch in Frankreich weiblich und jung, ein Unterschied, der sich erst ab einem Lebensalter über 40 Jahren angeglichen hat.

Sie ist allerdings auch in starkem Maße ein Problem der Kleingewerbetreibenden und Selbständigen, bei denen die Quote über 21% liegt. Die Lage für die Eingewanderten ist mehr als prekär, da 44% der MigrantInnen aus Afrika nicht nur unter der Armutsschwelle Frankreichs liegen, sondern auch innerhalb der Gruppe der MigrantInnen mit weniger als 60% von deren Median zurechtkommen müssen. Das entspricht einem jährlichen verfügbaren Einkommen von rd. 25 Tsd. Euro pro Haushalt, während die Ursprungsfranzosen über 36 Tsd. Euro durchschnittlich verfügen.

Die größte Wahrscheinlichkeit arm zu sein hat man, wenn man im Vorjahr schon in Armut leben musste, wenn es im Haushalt zu einer Trennung kam, wenn kein Ausbildungsabschluss vorhanden ist oder  man arbeitslos wurde.

Die bürgerliche UMP versuchte in den Regierungsjahren unter Sarkozy, ihre politische Hegemonie aufrechtzuerhalten, in dem pausenlos auf die »Sozialschmarotzer«, die von öffentlicher Unterstützung Angewiesenen eingeprügelt wurde: Sie wollen nicht arbeiten, machen zuviele Kinder, halten nichts von Treue und Famili und können sich das Geld nicht einteilen.

Die Anstachelung solcher Ressentiments diente dem Zweck, die für das Beschäftigungssystem Überflüssigen und »Kostgänger« der Sozialsysteme zu isolieren. Der Sozialstaat sollte wegen der steigenden Verschuldung und wegbrechender Steuereinnahmen redimensioniert werden. Deshalb neutralisierte man die sozialen Rechtsansprüche mit Vorurteilen. Die ohnehin schon Ausgegrenzten wurden zu Bürgern zweiter Klasse degradiert und einer Almosenbürokratie unterworfen.


Die wirklich Reichen

90% der französischen Haushalte müssen sehen, wie sie mit einem verfügbaren Einkommen von 39.200 Euro pro Kopf (und weniger) durchs Jahr kommen. 99% haben weniger als 93.000 Euro pro Jahr und Kopf in ihrem Haushalt zur Verfügung. Die obersten 0,01% können über mehr als 810.000 Euro pro Kopf disponieren.

Die Jahreseinkünfte des obersten 0,01% stiegen in den Sarkozy-Jahren zwischen 2007 und 2011 um 11,1%, die Pro-Kopf-Einkünfte der reicheren Hälfte der Haushalte immerhin noch um 7,7%. Für die ärmere Hälfte liegen keine Zahlen vor, aber man bekommt ein Gefühl dafür, dass sich die Gesellschaft tiefer gespalten hat.

Der Bevölkerungsanteil des obersten 0,01% umfasst rd. 6.000 Personen und das oberste Prozent sind etwa 60.000 Menschen, von denen jeder durchschnittlich 256.000 Euro im Jahr »verdient«. Diese wirklich Reichen konnten Zuwächse von 1,5% im Jahr 2010 und 1,9% im Jahr 2011 verbuchen. Für den gesamten untersuchten Zeitraum seit der New Economy-Blase (2004) stellen die Statistiker fest, dass die Krise des Jahres 2008 nur vorübergehend die Dynamik der sehr hohen Einkommen unterbrechen konnte.

Zurückzuführen ist dieser Wiederanstieg vor allem auf die Vermögenseinkünfte. In den Steuererklärungen von 90% der Bevölkerung kommen nur bei rd. 9% Einkünfte aus Vermögen vor, beim obersten ein Prozent sind es immerhin 34%. Hier kommen neben Erwerbseinkünften Aktienoptionen Boni und ähnliche vermögensähnliche Bezüge dazu.

Je kleiner das Vermögen, eine desto größere Rolle spielt der Besitz von Grund und Boden. Die starke Erholung der Preise für Finanzprodukte (+18,4% in 2011 gegenüber -23,5% im Vorjahr), verbunden mit einem Anstieg der Zinsen, ließen die Dividenden steigen. Einkünfte aus Lebensversicherungen verringerten sich demgegenüber um 4,3%. Ein Fünftel des Nettovermögens ist bei nur einem 1% der Bevölkerung konzentriert (diese letzte verfügbare Zahl stammt aus dem Jahre 2009).

Angesichts der Höhe und der Dynamik der Spitzeneinkommen wirkt die hysterische Debatte des letzten Jahres um konfiskatorische Steuern, die vorläufig mit der Steuerflucht von Promis wie Depardieu, Clavier und anderen und der Zurücknahme des 75%-Spitzensatzes endete, ziemlich schräg.


Bröckelnde Mitte?

Die Mittelschichten sind ein blinder Fleck der Statistiker, daher finden sich nur wenige Indizien für deren Situation. Ausgemacht kann auf jeden Fall eine deutliche Spreizung der Spaltung zwischen Arm und Reich. Auch in Frankreich finden wir massive Prekarisierungstendenzen. Die verfestigte Armut diszipliniert, die noch Beschäftigten wagen nur noch moderate Lohnforderungen, die Rücklagen schrumpfen.

Die Sparquote, die im nationalen Durchschnitt seit 2009 sinkt, lag im Jahr 2012 bei durchschnittlich 13%. Allerdings finden sich auch hier erhebliche Unterschiede: Im unteren Viertel der Einkommen gibt es eine Verschuldung von 13% und im oberen Viertel eine Sparquote von 33% der Jahreseinkünfte. Da langlebige Konsumgüter berücksichtigt sind, kann geschlussfolgert werden, dass die ärmeren Schichten hauptsächlich wegen ihrer Konsumentenkredite nicht zum Sparen kommen. Alleinstehende, Mieter und Menschen unter 30 Jahren haben negative Sparquoten von rd. 30% (Sonderuntersuchung für 2009).

Verfügbares Jahreseinkommen der Haushalte in konstanten Euros von 2011[2]

Die durchschnittlichen Einkommen in Frankreich steigen, aber die Spreizung zwischen Oben und Unten nimmt zu: Das Verhältnis zwischen dem oberen Fünftel und dem unteren Fünftel wächst, wobei der untere Teil der Bevölkerung (-0,3) einen leicht sinkenden Anteil am Gesamteinkommen hat. Deutlich stärker sinkt der Anteil der unteren Hälfte (-1,3 Punkte) und der unteren vier Fünftel (-2 Punkte).

Offenbar fallen die hart arbeitenden Mittelschichten, auf die sich Sarkozy berief, in weniger als einem Jahrzehnt in ihrem Einkommensanteil spürbar zurück. Der Trend war nach der großen Rezession von 2008 stärker als vorher.

Die Bruttolohnsumme der abhängig Beschäftigten (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) zeigt für die letzten Jahre gegenüber dem jeweiligen Vorjahr eine sinkende Tendenz: 2011 = 2,0%, 2012 = 0,5% und 2013 = 0,6%; da ist es verständlich, wenn ein Teil der Lohnabhängigen sich in Umfragen sagt, unter Sarkozy sei doch manches besser gewesen. Zieht man die Preissteigerungsrate ab, sinkt die Kaufkraft faktisch.

Sarkozy ist an der gesellschaftlichen Polarisierung gescheitert, die sich nach der Finanz- und Währungskrise 2008 verschärfte und die noch immer andauert. Es gibt keine Gründe, warum sich die Verarmungs- und Spaltungstendenzen in den Jahren der PS-Regierung verlangsamt oder gar umgekehrt haben könnten, für die noch keine amtliche Statistik vorliegt.

[1] Les revenus et le patrimoine des ménages, Edition 2014 (Bearbeitet von Cédric Houdré, Juliette Ponceau)  www.insee.fr Auf Einzelnachweise und genauere Definitionen wird zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
[2] Das Jahr 2010 taucht in der Tabelle zweimal auf, weil zwischenzeitlich die Datengrundlage geändert wurde.

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