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4. Dezember 2015 Hinrich Kuhls: Unterhausdebatte zum Luftkrieg in Syrien

Außenpolitische Kontinuitäten und eine Kehrtwende

Nach zehnstündiger Debatte hat das britische Parlament die Entscheidung der konservativen Regierung gebilligt, die Angriffe, die seit zwei Jahren gegen militärische Stellungen des Islamischen Staats auf dem von ihm im Irak kontrollierten Territorium geflogen werden, auf das Staatsgebiet Syriens auszuweiten.

397 Parlamentarier*innen haben der Ausweitung des Aktionsradius britischer Kampfjets zugestimmt, insgesamt 223 Abgeordnete lehnten die Ausweitung der Bombenangriffe ab. Die oppositionelle Labour Party hat sich mehrheitlich gegen diese Entscheidung ausgesprochen. Mehr als zwei Drittel der Labour-Parlamentsfraktion – 152  Abgeordnete – stimmte gegen die Regierungsvorlage, 66 Labour-Parlamentarier*innen stimmten allerdings mit der Fraktion der Konservativen Partei, die fast geschlossen die Regierung Cameron unterstützte. Die zweitgrößte oppositionelle Parlamentsfraktion, die Schottische Nationalpartei, stimmte geschlossen gegen den Antrag.

Damit hat die Mehrheit des britischen Parlaments der konservativen Regierung ein klares politisches Mandat für die Ausweitung der Luftangriffe auf Syrien erteilt. Vor zwei Jahren hatte das Unterhaus die Initiative David Camerons – auf internationaler Ebene agierte er in dieser Frage als Vorreiter – zur Bombardierung von Zielen in Syrien abgelehnt. Seinerzeit war der gewünschte Einsatz unverhohlen mit dem strategischen Ziel eines Regimewechsels in Syrien begründet worden. Unmittelbar nach den jetzt vom nationalen Parlament erteilten, völkerrechtlich aber nicht gestützten Mandat flogen noch in der Nacht Kampfjets der Royal Air Force erste Angriffe auf Syrien.

Die Royal Air Force ist in der Levante seit fast 100 Jahren an »Luftschlägen« beteiligt. Im Irak –nach Auflösung des Osmanischen Reichs ab 1920 bis zur formellen Unabhängigkeit 1932 britisches Mandatsgebiet – diente der Einsatz der Luftwaffe in den 1920er Jahren dazu, die spätkoloniale Herrschaft abzusichern. In der »Koalition der Willigen« stellten die britische Armee und die Royal Air Force 2003 neben den US-Truppen das größte Truppenkontingent im völkerrechtswidrigen Krieg gegen den Irak.

Zuvor war die RAF an der Durchsetzung der »Flugverbotszonen« ab 1997 beteiligt, die ohne UN-Mandat von den USA, Großbritannien, Frankreich, der Türkei und Saudi-Arabien verhängt worden war. Nach dem 2011 per »Luftschlägen« völkerrechtswidrig erzwungenen Regimewechsel in Libyen und der damit bewusst in Kauf genommenen Zerstörung staatlicher Strukturen kann die britische Regierung jetzt also auch in der Syrienpolitik die Unterstützung einer auf Luftkampfhandlungen basierenden Außenpolitik verbuchen, die sich in eine lange historische Tradition einordnet.


Außen- und Innenpolitik durch militärische Aktionen

Die Ausweitung der Luftangriffe stand seit Monaten auf der Agenda des Premierministers. Seine strategische Option fasste er in der Parlamentsdebatte so zusammen: »Etablierung einer Übergangsregierung in sechs Monaten und eine neue Verfassung und freie und faire Wahlen innerhalb von 18 Monaten. Die Schlüsselelemente einer Lösung zeichnen sich bereits ab: Waffenstillstand, Zusammenkunft der Oppositionsgruppen, während das Asad-Regime Verhandlungen anstrebt. Sie und die wichtigsten Akteure – Amerika und Russland, Saudi-Arabien und der Iran – sowie die wichtigsten regionalen Akteure wie die Türkei sitzen dann alle in einem Raum zusammen. Mein Argument: Den IS zu bekämpfen, schadet diesem Prozess nicht, es hilft ihm.«

Nachdem Cameron angekündigt hatte, im Nachgang zu den Terrorattentaten in Paris den Antrag im Parlament erneut einzubringen, war die Syrien-Politik ein weiteres Mal das beherrschende Thema im Vereinigten Königreich. Das hatte vor allem zwei Gründe. Umstritten war und ist, ob und inwieweit diese Form der von Präsident Hollande im Rahmen des EU-Vertrags eingeforderte Unterstützung der ausgeweiteten Kampfhandlungen der französischen Luftwaffe in der Levante eine politische Lösung des Bürgerkriegs in Syrien und Irak blockiert.

Darüber hinaus wurde diskutiert, ob durch die Beteiligung Großbritanniens an Kampfhandlungen in Syrien die Gefahr von Terroranschlägen zunimmt. Die Unterstützung des Regierungskurses seitens der britischen Bevölkerung ist breit verankert. Unmittelbar nach den Terrorattentaten in Paris hatte eine Mehrheit der britischen Bevölkerung eine Ausweitung befürwortet, auch einen Tag vor der Abstimmung sprach sich knapp die Hälfte der Brit*innen für Camerons Kurs aus.

Eine besondere Brisanz hatte die Debatte aber dadurch bekommen, dass mit dem im September neu gewählten Vorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, von Anfang an die Führungsspitze der neben der SPD mitgliederstärksten europäischen sozialdemokratischen Partei ihre Ablehnung deutlich gemacht hatte. Zahlreiche Abgeordnete seiner Fraktion drängten ihn daraufhin, für diese Abstimmung der Fraktionszwang aufzuheben.

Im Unterhaus – und in den Tagen zuvor – unterstützten u.a. der außenpolitische Sprecher Hilary Benn und Corbyns Stellvertreter Tom Watson die Position der Konservativen in dieser Frage. Die Differenzen in der Labour-Parlamentsfraktion wurden in aller Härte öffentlich ausgetragen. Die Aufhebung des Fraktionszwangs als Lösungsweg für den Konflikt lag auf der Hand und bietet eine Blaupause, wie in der noch anstehenden Debatte über die Erneuerung des Atomwaffenpotenzials des Vereinigten Königreichs die auch in dieser Frage gespaltene Labour-Fraktion agieren könnte.

Dennoch kann das Abstimmungsverhalten der Labour-Abgeordneten als Beginn einer Kehrtwende bewertet werden. Wurde die Beteiligung der New-Labour-Regierung mit Premierminister Blair an der Spitze am Irakkrieg 2003 von der Labour-Mehrheit – gegen den erbitterten Widerstand der Minderheit, zu deren Sprechern der heutige Parteivorsitzende Corbyn gehörte – getragen, so zeigt die Ablehnung der Ausweitung des Luftkriegs auf Syrien, dass sich in der außenpolitischen Positionierung der Labour Party ein tiefgreifender Wandel vollzieht.

Neben Corbyn stimmten 152 Labour-Abgeordnete, darunter immerhin 15 Mitglieder seines Schattenkabinetts, mit Nein, 66 Abgeordnete und 11 Mitglieder der Fraktionsspitze stimmten mit den Konservativen. Corbyns Vorgänger, Ed Miliband, sprach sich dezidiert gegen die Ausweitung des Luftkriegs aus. Zuvor hatte Tony Blair zumindest Zweifel angedeutet, ob der Irak-Krieg 2003 zu Recht vom Zaun gebrochen worden war.


Luftschläge zerstören die militären Strukturen des IS nicht

Wie andere Regierungen der NATO-Mitgliedsstaaten sieht auch die mit absoluter Mehrheit agierende konservative britische Regierung in einer Ausweitung der militärischen Interventionen im Nahen Osten eine angemessene Unterstützung der französischen Regierung. Der französische Präsident, anders als die deutsche Bundesregierung nicht auf eine parlamentarische Bestätigung von Kriegseinsätzen angewiesen, hatte unmittelbar nach den Terroranschlägen von Paris eine Verstärkung des Bombenkriegs vor allem gegen die ostsyrische Stadt Raqqa angeordnet.

Von dieser Stadt aus sollen nach wie vor die militärischen und terroristischen Operationen der Terrorgruppe Islamischer Staat sowie deren diktatorisches Verwaltungshandeln auf jenem Territorium im Irak und in Syrien koordiniert werden, in dem die überwiegende Mehrheit der Araber*innen sunnitischen Glaubens dieser beiden Staaten wohnt.

Raqqa unterliegt seit fast einem Jahr beständig Bombenangriffen, die ohne UN-Mandat von einer von der US Air Force angeführten Luftflotte geflogen werden, der neben den US-Kampfflugzeugen vor allem Kampfjets der französischen und jordanischen Luftwaffe angehören. Hinweise von Einwohner*innen aus Raqqa, denen zufolge von den Bombenangriffen in erster Linie die Zivilbevölkerung betroffen ist und die militärischen Strukturen des IS nicht zerstört werden können, werden von den Regierungspolitikern und dem militärischen Führungspersonal der in der Anti-IS-Allianz zusammengeschlossen Staaten nicht – zumindest nicht öffentlich – zur Kenntnis genommen.

Die Terrorattentate von Paris, deren Täter durchweg Bürger*innen der Europäischen Union waren, dienen, wie die Attentate vom 11.9.2001, dazu, eine völkerrechtswidrige Strafaktion zu rechtfertigen. Seinerzeit der Krieg gegen die Taliban-Regierung Afghanistans, heute die Verstärkung des Luftkriegs gegen die Terrorherrschaft, die vom IS auf dem Gebiet der Araber sunnitischen Glaubens in Irak und Syrien errichtet worden ist.

Der mit dem strategischen Ziel des Regimewechsels geführte völkerrechtswidrige Krieg im Irak ab 2003 endete in einem Desaster. Jener Krieg sowie die zuvor nach dem Kuweit-Irak-Krieg 1991 mit tödlicher Härte gegen die Zivilbevölkerung durchgesetzten Wirtschaftssanktionen, die »Flugverbotszonen« ab 1997 mit den darin eingeschlossenen »Luftschlägen« sowie die unzähligen Attentate während der Besatzung von 2003 bis 2011 und danach haben mehr als eine Million zivile Todesopfer und eine genauso hohe Zahl Verletzter gefordert, darunter zur Hälfte Kinder und Jugendliche. In dieser Zeit sind jene jungen irakischen Sunniten groß geworden, die mit Abstand den größten Teil der IS-Kampftruppen stellen, die auf eine Stärke von 40.000 Mann geschätzt werden.

Von den politischen Eliten in den NATO-Staaten wird heute offen formuliert, dass mit der Destabilisierung des Irak ab 2003 nicht nur die Infrastruktur größtenteils zerstört worden ist, sondern ebenso die sozialen Strukturen der gesamten Gesellschaft sowie das Zusammenleben von Kurden und Arabern sunnitischen und schiitischen Glaubens innerhalb staatlicher Strukturen.


Die Hilflosigkeit der Eliten befördert humanitäre Katastrophen

Faktisch ist der Krieg gegen den IS eine weitere Episode des 2003 begonnenen Irakkriegs, der sich wegen der Destabilisierung durch den Bürgerkrieg auf das Territorium Syriens – bisher ohne UN-Mandat – ausgedehnt hat. »Im Irak haben die USA den Fehler gemacht, nach dem Sturz Saddams alle Truppen und staatliche Strukturen aufzulösen. Den Fehler sollten wir in Syrien nicht wiederholen. Für einen politischen Neuanfang müssten die syrische Armee und der Staatsapparat großenteils erhalten bleiben, ohne dass Assad auf Dauer an der Spitze bleibt. Ich kann verstehen, dass sich die Franzosen hier der russischen Logik anschließen«, so der Chef des Think-Tanks Münchener Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, im Handelsblatt vom 30.11.2015.

Die gefährliche Hilflosigkeit der politischen und militärischen Eliten jener Staaten, die seit Jahrzehnten militärisch, ökonomisch und politisch in den Staaten der Levante und im Irak von außen eingreifen und im Irak zur Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Menschen beigetragen haben, wird daran ersichtlich, dass man sich allein darauf konzentriert, auf diplomatischer Ebene eine multilaterale Lösung der militärischen Konflikte zu finden. Bisher ist auch nicht im Ansatz eine Andeutung gemacht worden, wie die ökonomischen und sozialen Strukturen in den der Arabischen Liga angehörigen Staaten und Gebieten im Nahen Osten – Irak, Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina – so weit rekonstruiert werden können, dass Leben und Würde der Menschen geschützt werden und die andauernde humanitäre Katastrophe in diesen Ländern nachhaltig überwunden kann.

Dieser Aspekt einer Konfliktlösung ist in der Debatte im Unterhaus wie in anderen Parlamenten in Europa weitgehend außen vor geblieben. Corbyns Fokus lag ebenfalls auf der vordringlichen politischen Lösung des Bürgerkriegs in Syrien: »Camerons Ansatz lautet erst bombardieren, dann reden. Statt dem Bombenregen auf Syrien britische Bomben hinzuzufügen, ist es vielmehr vordringlich notwendig, die Friedensgespräche in Wien unter Einbeziehung aller wichtigen regionalen und internationalen Mächte zu beschleunigen mit dem Ziel, dass in Syrien die Regierungsgeschäfte einer breit auf gestellten Regierung übertragen werden, die die Unterstützung der Mehrheit der Menschen hat. Im Rahmen einer solchen Regelung könnten mit internationaler Unterstützung die dortigen Regionalmächte helfen, vom IS kontrollierte Territorien zurückzugewinnen. Eine dauerhafte Niederlage des IS in Syrien kann nur durch die Syrer selbst erreicht werden.«

Welche Positionen in der Außen- und Verteidigungspolitik die Labour Party vertreten soll, war schon auf ihrem Parteitag Ende September umstritten. Corbyn hatte im Sommer in einem umfassenden Papier zur »Defence Diversification« die Problematik von Rüstungs- und Verteidigungspolitik dargestellt, vor allem im Zusammenhang mit der Frage, wie mit dem Vanguard-Trident-System mit auf U-Booten stationierten Trägerraketen verfahren werden soll. Eine sozialverträgliche Rüstungskonversion setzt eine breite gesellschaftliche Debatte voraus – darauf hatte Corbyn hingewiesen. Das gleiche gilt aber auch für das außenpolitische Handeln des Vereinigten Königreichs als ständigem Mitglied des UN-Sicherheitsrats.

In naher Zukunft stehen Auseinandersetzungen an um die weitere Gestaltung der Nahostpolitik, in der Frage der Erneuerung oder Abschaffung der britischen Atomwaffen und in der Frage Austritt oder Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Um einen politischen Wechsel in Britannien herbeizuführen, ist nicht nur eine breite gesellschaftliche Debatte erforderlich, sondern auch ein Blick über die britischen Küsten hinweg. Dass eine mitgliederstarke Labour Party den Diskurs über außen- und europapolitische Fragen auch außerhalb Großbritanniens beeinflussen kann, ist von großen Teilen der Partei und der Labour-Bewegung noch nicht realisiert worden. Das hat die Niederlage in der Frage der Ausweitung des Bombenkriegs auf Syrien trotz der sichtbar gewordenen Kehrtwende ein weiteres Mal gezeigt.

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