14. Oktober 2014 Otto König / Richard Detje: Wahlkampf in Brasilien geht in die zweite Runde
Bündnis mit sozialen Bewegungen notwendig
In drei lateinamerikanischen Staaten fanden und finden in diesem Monat Parlamentswahlen statt, die über eine wichtige Bedeutung für den südamerikanischen Kontinent haben: In Brasilien (5. und 26. Oktober), Bolivien (12. Oktober) und Uruguay (26. Oktober) entscheiden die WählerInnen über die Fortsetzung der eingeleiteten politischen Transformationsprozesse und der damit verbundenen sozialpolitischen Reformen.
Der Ausgang der Wahlen wird sich aber auch auf die laufenden Integrationsprozesse in Lateinamerika und der Karibik auswirken.[1] In Brasilien waren 143 Millionen Wahlpflichtige aufgerufen, das Amt des Staatschefs neu zu besetzen. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahl setzte sich die Amtsinhaberin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei (PT) mit 41,4% der Stimmen gegen den ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Minas, Aécio Neves, durch.
Der Kandidat der konservativen Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) landete mit 33,8% auf dem zweiten Platz. Sein unerwartet starkes Abschneiden »zündete ein kleines Freudenfeuer bei den Brasilien-Fonds an den europäischen Börsen, wo auf einen kapitalfreundlicheren Kurs der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt unter einem Präsidenten Neves spekuliert wird.« (Junge Welt, 6.10.2014)
Mit 21,3% erreichte Marina Silva, die für die linksliberale Sozialistische Partei (PSB) angetreten war, nachdem der eigentliche Kandidat Eduardo Campos mitten im Wahlkampf bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, den dritten Platz. Dies ist ein herber Rückschlag für die ehemalige Umweltministerin im Kabinett von Lula da Silva, die sich im Wahlkampf als »dritte Kraft« präsentiert hatte. Die evangelikale Ökologin lag noch Anfang September in den Umfragen mit 34% gleichauf mit Rousseff. Jetzt schied sie nach der ersten Runde aus.
Die Wahlberechtigten stimmten bei dieser Wahl auch über die 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer und über ein Drittel der 81 Senatoren sowie über die Gouverneure und die Abgeordneten in den Parlamenten der 27 Bundesstaaten ab. Im Senat hat die regierende PT die Hälfte der bisherigen Sitze verloren. Im Abgeordnetenhaus bleiben die PT und ihr größter Koalitionspartner, die Partei der demokratischen Bewegung (PMDP), trotz großer Verluste die stärksten Fraktionen.
Am 26. Oktober kommt es zur Stichwahl zwischen Dilma Rousseff, der ehemaligen Widerstandskämpferin gegen die Militär-Diktatur, und Aécio Neves, dem neoliberalen Kandidaten der traditionellen Oligarchie. Die Ausgangsbasis für Rouseff ist dieses Mal nicht so komfortabel wie bei ihrer ersten Kandidatur vor vier Jahren, als sie im ersten Wahlgang fast 47% erreichte. Deshalb könnte es im zweiten Wahlgang durchaus ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben, bei dem die WählerInnen von Marina Silva eine gewichtige Rolle spielen.
Die Spitze der PSB hat sich in der Stichwahl für Neves ausgesprochen. Doch jene, die nicht bereit sind, die erfolgreiche Sozialpolitik der PT gegen das PSDB-Konzept einer neoliberalen Wirtschaft einzutauschen – vor allem die Protestwähler –, werden voraussichtlich für die PT und die Fortsetzung sozialer Reformprojekte votieren. Denn bei Millionen Menschen, die von Sozialprogrammen wie »Null Hunger« (Fome Zero) und »Familien-Stipendium« (Bolsa Familia) profitieren, gilt Rousseff allen Anfeindungen zum Trotz als »Heldin im Kampf gegen die Armut«. Darüber hinaus sehen Teile der Mittelschicht in ihr die Garantin einer demokratischen Regierung.[2]
Tatsächlich haben die Regierungen von Lula da Silva und seiner Nachfolgerin in den vergangenen zwölf Jahren wichtige soziale Reformen angestoßen. So konnten zwischen 2002 und 2012 rund 35 der insgesamt 201 Millionen Einwohner aus der extremen Armut in die so genannte C-Klasse, die Mittelschicht, aufsteigen. Zur C-Klasse zählen insgesamt etwa 103 Millionen Bürger und damit mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung (2011).[3] Insbesondere Sozialprogramme wie der Haushaltszuschuss Bolsa Família halfen das Elend zu lindern: Heute bekommen vierzehn Millionen Familien einen monatlichen Zuschuss von durchschnittlich 175 Reias (ca. 58 Euro).
Insbesondere die regelmäßigen Erhöhungen des Mindestlohns auf derzeit 724 Reias (ca. 240 Euro) im Monat hatten Auswirkungen auf die Sozialstruktur des Landes. Mit der neu erworbenen Kaufkraft trugen die ArbeitnehmerInnen maßgeblich dazu bei, den Binnenmarkt zu stärken. Die Welternährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO bescheinigte dem Land vor kurzem, den »strukturellen Hunger überwunden« zu haben. Nur noch knapp zwei Prozent der Bevölkerung seien von »Ernährungsunsicherheit« betroffen – weniger als in Europa.[4] Zusätzlich legte die PT-Regierung ein Programm für mehr Ärzte auf: Rund 15.000 ausländische MedizinerInnen (mehrheitlich aus Kuba) arbeiten in abgelegenen Kommunen, wo es an brasilianischen Fachkräften fehlt.
Doch viele Probleme sind unbewältigt. Dies kam in den Sozialprotesten im Juni zum Ausdruck. Damals hatten meist jugendliche Demonstranten im Vorfeld der Fußball-Weltmeisterschaft die mediale Aufmerksamkeit genutzt, um einen guten öffentlichen Nahverkehr, den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen Bildungswesen und eine Landreform einzufordern, die sich an den Bedürfnissen der landlosen Bauern und nicht an den Interessen der Großgrundbesitzer und der Agrarbusiness orientiert. Sie verlangten ein Ende der zügellosen Ausbeutung der Bodenschätze, die schädlich für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen ist und die in vielen Fällen im Konflikt mit der indigenen Bevölkerung steht.
Gewalt und Korruption erschweren das Alltagsleben. Im Wahlkampf spielt insbesondere der Geldwäsche- und Bestechungsskandal des halbstaatlichen Öl- und Erdgasunternehmens Petrobas eine von der konservativen Opposition genüsslich ausgeschlachtete Rolle. Der Zentralfigur in diesem Skandal, dem ehemaligen Petrobas-Manager Paulo Roberto Costa, zufolge sollen zwischen 2002-2012 mehr als 60 Politiker geschmiert worden seien, die meisten von der PT und Koalitionspartnern stammend. Von der PT wird das als Verleumdung zurückgewiesen.
Dilma Rousseff setzt bei der Mobilisierung für den zweiten Wahlgang auf die Mehrheit der von den Sozialprogrammen profitierenden Brasilianer, die gebildete linke Mittelklasse und Gewerkschafter. Doch wenn sie den zweiten Wahlgang für sich entscheiden will, muss sie angesichts des absehbaren Bündnisses zwischen PSB, PSDB, Evangelikalen und Wirtschaftsverbünden ihre Allianz mit den sozialen Bewegungen des Landes erneuern.
Schon im bisherigen Wahlkampf hatte sie mit ihnen einen breiten Dialog begonnen. Im Ergebnis führte das dazu, dass der größte brasilianische Gewerkschaftsdachverband CUT (Central Única dos Trabalhadores) und der Verband der Arbeiter und Arbeiterinnen Brasiliens (CTB), der der Partido do Communista Brasil nahesteht und in den Fiat-Betrieben dominiert sowie die Landlosenbewegung MST und die Obdachlosenbewegung, die sehr auf ihre Autonomie bedacht sind, zur Wiederwahl der Präsidentin aufriefen.[5]
Den »Komplex des geschlagenen Hundes«, das Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem Rest der Welt, hätten die Brasilianer inzwischen abgelegt, so Expräsident Luis Inácio Lula da Silva in einem Beitrag in der spanischen Tageszeitung »El País« (15.5.2014) Man habe Hunger und Armut erfolgreich bekämpft und sich auch auf der Weltbühne Gehör verschafft. Am 26. Oktober wird sich entscheiden, ob mit der Massenmobilisierung durch soziale Bewegungen die sozialpolitischen Errungenschaften verteidigt und eine emanzipatorische Entwicklung fortgeschrieben werden können.
[1] Siehe Otto König: Bolivars Erben – Kampf um Souveränität und Einheit, in: Sozialismus 9/2014.
[2] Vgl. Janna Greve: Brasilien: Rousseff vor dem Aus?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9/2014.
[3] Vgl. La clase media brasilena, www.eleconomista.com.ar 28.3.2014.
[4] Vgl. WOZ Wochenzeitung/CH, 2.10.2014.
[5] Vgl. Marco Consolo: Wie Medien und das Finanzkapital versuchen, die Dominanz der Arbeiterpartei zu brechen – und warum sie scheitern werden, Amerika21, 6.10.2014.