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24. September 2014 Otto König / Richard Detje: Klage gegen die Mörder von Victor Jara

Chile: der lange Weg zur Demokratie

»Wie schwer ist das Singen, wenn ich den Schrecken singen muss. Den Schrecken, den ich lebe, den Schrecken, den ich sterbe. Mich selbst unter so vielen sehen und so viele Augenblicke der Unendlichkeit, in denen Schweigen und Schreie das Ende meines Gesanges sind.« Diese Zeilen aus seinem letzten Gedicht »Somos cinco mil« (Wir sind fünftausend) schrieb Victor Jara unter der Qual der Folter im Estadio Chile der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile.[1]

Dann brach ihm die faschistische Soldateska die Hände, damit er keine Gitarre mehr spielen konnte. Der Komponist, Sänger und Gitarrist, einer der Begründer der Nueva Cancion, des neuen politischen Liedes in Lateinamerika, wurde zwölf Tage vor seinem 41. Geburtstag von seinen Peinigern bestialisch ermordet.

Drei Jahre zuvor hatte das Linksbündnis »Unidad Popular« (Einheit des Volkes) in Chile die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Zahlreiche Reformen zugunsten der armen und arbeitenden Bevölkerung wurden in Angriff genommen. Mit seinen Liedern ergriff der »Che Guevara der Gitarre« Partei für die Arbeiter, Bauern, Fischer und die Menschen in den Poblaciónes. Seine Texte erzählen von Solidarität, Auflehnung und Befreiung: »Früher, wenn du Geld hattest, dann nannten sie dich einen Herrn, jetzt genügt es zu arbeiten, um compañero genannt zu werden.« Wie viele KünstlerInnen unterstütze auch Victor Jara den 1970 zum Präsidenten Chiles gewählten Salvador Allende.

Im März 1973 bestätigte die chilenische Bevölkerung mit großer Mehrheit den sozialistischen Präsidenten in seinem Amt. Wenige Monate später, am 11. September 1973, schlug die reaktionäre Prätorianergarde zurück. Die Streitkräfte unter Führung von General Augusto Pinochet putschten gegen die demokratisch gewählte Regierung.[2] Als sich der Victor Jara an diesem Tag auf den Weg zu seinem Arbeitsplatz in der Universität machte, bombardierten Kampfjets den Präsidentenpalast Moneda. Teile der putschenden Truppen umzingelten die Universität, verhafteten wahllos Studenten sowie Professoren und verschleppten sie ins Nationalstadion – einem der ungezählten Gefangenenlager und Folterzentren.



Das Verbrechen von Victor Jara war seine Musik. Er wurde wie seine Leidensgenossen gefoltert. Das war die Rache für seine Lieder, die offen Stellung für die einfachen Menschen und ihren Kampf für Gerechtigkeit beziehen.

»Singe, wenn du ein Sänger bist«, brüllten ihn die Soldaten im Stadion an. Victor Jara erhob zum letzten Mal seine Stimme und sang das Lied der Unidad Popular an:  »Venceremos – Wir werden siegen«. »Ich weiß, dass er dort gesungen hat. Ich weiß, dass sie ihn zusammengeschlagen haben. Ich weiß, dass sie ihm die Finger und die Handgelenke gebrochen haben. Ich weiß, dass sie ihm befohlen haben zu singen – Canta! – und ihm danach die Zunge herausgeschnitten haben«, so seine Ehefrau Joan Jara.[3]

Fünf Tage nach dem Staatsstreich ermordeten die Folterknechte den Sänger und Gitarristen. Barsch forderten sie seine Frau auf, seinen Leichnam abzuholen. Im Leichenschauhaus fand sie einen schrecklich zusammengeschlagenen blutigen Körper vor. »Der Leichnam … mit verstümmelten Händen und entstelltem Gesicht wies 44 Einschüsse auf«, stellte der »Rettig Bericht« der Wahrheitsfindungskommission (Comisión de Verdad Y Recon-ciliación national) 20 Jahre später fest.[4]

Fast auf den Tag genau, 44 Jahre nachdem der brutale Militärputsch mit Hilfe der US-amerikanischen Administration[5] den sozialistischen Aufbruch beendete und dem Land und der Bevölkerung eine Grabesruhe aufzwang, am 4. September 2014, erhob Richter Miguel Vázquez Plaza in Santiago de Chile Klage gegen die ehemaligen Armeeoffiziere Hernán Chacón Soto und Patricio Vásquez Donoso wegen Beteiligung an der Ermordung Victor Jaras sowie gegen den ehemaligen Militärankläger Ramón Melo Silvo als Mitverschwörer, der die Tat verschleiert haben soll (Portal Amerika 21.de, 7.9.2014). Acht weitere Ex-Offiziere waren im Dezember 2012 und im Januar 2013 wegen ihrer Beteiligung an dem Mord angeklagt worden.[6]

Bereits 1990, zwei Jahre nach dem Ende der Pinochet-Diktatur, wurde die verbrecherische Tötung des Künstlers eingestanden. Die juristische Aufarbeitung des Verbrechens wurde jedoch wie alle anderen Morde und Folterungen an oppositionellen Kräften unter der Diktatur recht zögerlich angegangen. Erst 2007 nahm der Richter Juan Eduardo Fuentes Belmar Ermittlungen über die Umstände der Ermordung Víctor Jaras auf.  Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen durch die Handlanger der Militärdiktatur gestaltete sich nach deren Ende mehr als schwierig, da sich die Militärs in der Phase des Übergangs Ende der 1980er Jahre wichtige Einflussmöglichkeiten gesichert hatten, um nicht belangt werden zu können.

1988 verlor Augusto Pinochet das Plebiszit über eine weitere achtjährige Präsidentschaft. Dies eröffnete den Vertretern der »Concertación de Partidos por la Democracia«, dem Bündnis von Mitte-Links-Parteien, mit dem ausscheidenden Präsidenten die »Transición« auszuhandeln. Damit gelang nach 17 Jahren autoritärer Militärherrschaft die Einleitung des gewaltlosen Übergangs zur Demokratie. Der Preis dafür war jedoch der Verzicht auf einen sofortigen radikalen Bruch mit der Diktatur. Die vom Militär-Regime erlassene autoritäre Verfassung blieb in Kraft, auch das »binominale Wahlsystem«, das in beiden Kammern des Parlaments für zwei nahezu gleich große Blöcke sorgte: die Rechtsparteien auf der einen und die Concertación auf der anderen Seite.

Tief greifende Verfassungsänderungen waren damit so gut wie unmöglich. Erst 2005 gelang es, einige autoritäre Elemente aus der Verfassung zu streichen: Der Nationale Sicherheitsrat (COSENA) hat nur noch beratende und nicht mehr exekutive Befugnisse und Offiziere dürfen nicht mehr für das Parlament kandidieren. Die Abschaffung der neun ernannten SenatorInnen, meist hochrangige Militärs oder Ex-Präsidenten, war ein weiterer bedeutender Beitrag. Dennoch: Die endgültige Reform der Verfassung gilt neben der Bildungsreform und der Steuerreform als eines der drei großen Vorhaben der derzeitigen Mitte-Links-Koalition unter der Sozialistin Michelle Bachelet, die 2014 erneut als Präsidentin in den Präsidentenpalast Moneda einzog.

Die Verbrechen der Putschisten in Chile beschäftigen bis heute die Politik und Justiz des lateinamerikanischen Staates. Dabei steht insbesondere das von der Militär-Junta beschlossene Amnestiegesetz von 1978, das nach wie vor gilt, der politischen Vergangenheitsbewältigung im Wege. Denn es legt fest, dass bis auf wenige Ausnahmen den Tätern, die im Zeitraum zwischen September 1973 und März 1978 Verbrechen wie die Folterung und Ermordung von Menschen begangen haben, die Strafe erlassen wird. Dies erschwert die Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen während der Frühphase der Diktatur. Um die Strafverfolgung zu beschleunigen, so Justizminister José Antonio Gómez, soll das »Amnestiegesetz« abgeschafft werden.

Wie wichtig das ist, zeigt die von 20 militärischen Organisationen unterschriebene und finanzierte Anzeige »Gruß an ganz Chile« in der Tageszeitung »La Tercera«, in deren Text die Militärs unverhohlen den Putsch als »Gründungsdatum des Chile des 21. Jahrhunderts« feiern. Während sie gleichzeitig die von der Regierung betriebene Strafverfolgung ihrer Kameraden, die dem Land »Sicherheit und eine aufrechte Ordnung« gegeben hätten, heftig kritisieren (Portal Amerika. 21. de, 12.9.2014).

Mit der Bombardierung der Moneda in der Hauptstadt Santiago de Chile wurde am 11. September 1973 die faschistische und neoliberale Epoche in diesem lateinamerikanischen Land eingeleitet. An diesem Ort forderte 41 Jahre später –  am 11. September 2014 – die sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet ein »Ende des schmerzhaften Wartens und ungerechtfertigten Schweigens«: Es sei von fundamentaler Bedeutung, dass jeder, der Informationen über die begangenen Verbrechen habe, diese in die Aufarbeitung einbringe; es gebe in Chile keinen Platz mehr »für Angst oder Furcht«.

[1] Im September 2003, zum 30. Jahrestag seiner Ermordung, wurde das Estadio Chile offiziell in Estadio Víctor Jara umbenannt.
[2] Otto König: Vor 40 Jahren – Militärputsch in Chile. »El pueblo unido« – Das vereinte Volk ist unbesiegbar, SozialismusAktuell v. 10.9.2013,
[3] Wochenzeitung/Schweiz, 13.9.2014.
[4] In diesem nach dem Vorsitzenden der Kommission benannten Bericht wurden Menschenrechtsverletzungen der 16-jährigen Diktatur dokumentiert. 2.279 Morde, 957 bis heute Vermisste, 641 ungeklärte Fälle sind in dem Bericht aufgelistet. Verschiedene Foltermethoden werden benannt, die die Grausamkeit der Diktatur bezeugen: Elektroschocks, Vergewaltigungen, Verbrennen bei lebendigem Leibe.
[5] Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger rechtfertigte die massive Unterstützung des faschis­tischen Putsches in Chile mit den Worten: »Ich sehe nicht ein, weshalb wir zulassen sollten, dass ein Land marxistisch wird, nur weil die Bevölkerung unzurechnungsfähig ist.«
[6] Gegen den Folterspezialisten Pedro Barrientos Nuñez ordnete Richter Miguel Vásquez bereits am 28.12.2012 in Santiago de Chile die Festnahme an und erwirkte einen internationalen Haftbefehl. Die Menschenrechtsorganisation »Center for Justice & Accountability« (CJA) reichte beim zuständigen Distriktgericht in Florida eine offizielle Klage ein. Victor Jaras Witwe Joan und die Töchter Amanda und Manuela klagen darin Pedro Barrientos Nuñez, der seit 1990 unbehelligt in Deltona im USA-Staat Florida lebt, des Mordes, der Folter, der Misshandlung von Gefangenen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an. Es gebe mehrere Zeugen, dass Barrientos Nuñez als Erster auf Victor Jara geschossen und danach die Maschinengewehrsalven auf dessen leblosen Körper angeordnet habe, heißt es in der Klageschrift.

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