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Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Linksliberal oder dezidiert sozialistisch?
Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
Eine Flugschrift
126 Seiten | EUR 12.00
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
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Frank Deppe
Zeitenwenden?
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176 Seiten | EUR 14.80
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Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
ISBN 978-3-96488-203-5

Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

13. Mai 2015 Otto König / Richard Detje: Griechische Verhältnisse in Merkel-Land?

Das Grundrecht auf Streik

Die längste Streikphase in der Geschichte der Deutschen Bahn endete nach sechs Tagen. Ohne Ergebnis. Der weitere Verlauf des Arbeitskampfes ist ungewiss. Doch gewiss scheint zu sein, dass die Republik vor einem Abgrund stand. Wirtschaftsminister Gabriel sieht nicht nur »Pendler und Reisende« als Leidtragende, sondern »die deutsche Wirtschaft insgesamt« bedroht.

Dieter Schweer vom Bundesverband der Deutschen Industrie präzisiert: Wenn Lokführer die Arbeit niederlegen, seien »schwerste Schäden für den Industriestandort Deutschland« die Folge (Tagesspiegel, 4.5.2015). Er beruft sich dabei wohl auf eine Hochrechnung des (Arbeitgeber)Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), wonach Kosten von über 100 Millionen Euro pro Tag (!) entstehen, wenn länger als drei bis vier Tage gestreikt wird.[1] Denn dann drohten Produktionsstilllegungen. Nun, davon ist nichts bekannt.

Nach sechs Streiktagen kann man die »Rechnung« der Abteilung Propaganda zuordnen. Interessant ist das trotzdem. Zum einen, weil der Ruf nach Schlichtung bereits unterhalb der Marge eines Erzwingungsstreiks als Gebot wirtschaftlicher Vernunft ertönt. Zum andern, weil Spartengewerkschaften nur vordergründig eine Rolle spielen. In einer Zeit eng getakteter Wertschöpfungsketten seien Streiks generell nicht mehr »verkraftbar«. Aus dem Grundrecht der kollektiven Arbeitsniederlegung wird eine betriebswirtschaftliche Größe.

Damit nicht genug. In einem unbefristeten Streik befinden sich die ErzieherInnen in den kommunalen Kitas und andere Einrichtungen des Sozial- und Erziehungsdienstes.[2] Bei der Post wurden die Verhandlungen über die Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 38,5 auf 36 Stunden bei vollem Lohnausgleich abgebrochen. Und schließlich: In Berlin wird das Bargeld knapp, weil die Beschäftigten des Geldtransportunternehmens Prosegur aus Potsdam mit Arbeitsniederlegungen für mehr Urlaubs- und Weihnachtsgeld kämpfen.

Auf ZEIT-online sieht die Journalistin Marlies Uken schon »griechische Verhältnisse« heraufziehen und das Handelsblatt rief prophylaktisch die »Streik-Republik« aus (5.5.2015). Dabei wird den ErzieherInnen noch vergleichsweise viel Verständnis entgegen gebracht. Dies könnte sich allerdings mit der Dauer des Konflikts, der ebenso wie der Tarifkampf bei der Bahn von grundsätzlicher Bedeutung ist, ändern.

Die mediale Hetze konzentriert sich – seit vergangenem Jahr[3] – vor allem auf die Gewerkschaft der Lokführer (GDL). Dabei wird die Berichterstattung zu einer inhaltlichen Nullgröße, reduziert auf die Person des ihres Vorsitzenden. War beim Nachrichtensender n-tv von einem »tarifpolitischen Amoklauf« die Rede, titelte die Berliner Zeitung: »Weselsky legt sich mit Deutschland an«. »Stoppt den Bahnsinn« wütete der stellvertretende BILD-Chefredakteur Bela Anda: »80 Millionen Menschen dürfen nicht zu Immobilitäts-Geiseln werden«. Damit wird das Grundrecht auf Streik zum Hauptziel des Angriffs: »Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass es ein Tarifeinheitsgesetz braucht, um die zügellosen Auswüchse machtverliebter Einzelgewerkschafter zu regulieren, dann ist es dieser neue Streik.« (3.5.2015)

Der WSI-Tarifexperte Reinhard Bispinck hat das zurechtgerückt. Für die Jahre 2006-14 weist die »Streikstatistik ... rund 46 Tarifkonflikte mit Streikaktionen der Berufsgewerkschaften aus. Im direkten Vergleich mit den DGB-Gewerkschaften relativiert sich diese Zahl. Allein die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) führte im selben Zeitraum 140 Streikaktionen aus, und bei ver.di waren es 800 Tarifkonflikte mit Streikaktionen. Diese Zahlen zeigen, dass die Berufsgewerkschaften nicht an der Spitze der Bewegung stehen.«[4]

Es spräche viel dafür, die schwierigen Arbeitskämpfe der DGB-Gewerkschaften zu kommunizieren – denn Rechte abhängig Beschäftigter gegen die strukturell überlegene Macht der Unternehmen gelten nicht erst seit den Zeiten von TTIP als partout wettbewerbsschädlich. Doch wenn sich der Vorsitzende der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE), Michael Vassiliadis, über den Arbeitskampf der Lokführer empört, die GDL verfolge »rücksichtslos ihre eigenen Ziele« und gehe »erkennbar nicht verantwortlich mit dem Arbeitskampfinstrument um«, weshalb das im Bundestag zur 2. und 3. Lesung anstehende Tarifeinheitsgesetz unverzichtbar sei, ist dies nicht nur ein zutiefst unsolidarischer Akt, sondern respektlos gegenüber ArbeitnehmerInnen, die für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Einkommensbedingungen streiken.

Dass es im Bahn-Tarifkonflikt auch um das Recht auf Streik geht, müsste auch der Vorsitzende einer Gewerkschaft nachvollziehen, die sich der Tradition der Sozialpartnerschaft verpflichtet fühlt und sich darauf verlässt, dass konfliktorientiertere Schwester-Gewerkschaften mit Warnstreiks oder Streiks den Weg für akzeptable Tarifabschlüsse auch in der Chemieindustrie bereiten.

Was heißt »verantwortlicher« Umgang mit Arbeitsniederlegungen? Es waren gewerkschaftliche Kämpfe, mit denen tarif- und sozialpolitische Errungenschaften wie der Achtstundentag und das Gesetz auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft wurden. Unter restriktiven Bedingungen. Denn ein Streikrecht wie beispielsweise in Frankreich ist hierzulande nicht anerkannt; Arbeitskämpfe können im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen organisiert werden. Und dazu sind innergewerkschaftlich harte Quoren zu erfüllen. Auch die GDL setzt sich für die Rechte ihrer Mitglieder ein, schließlich sind sie es, die die Streikfront schließen müssen. Gehört nicht eher die Verantwortung des Bahn-Managements auf dem Prüfstand?

Der Tarifkonflikt dauert jetzt zehn Monate. Es gab 16 Verhandlungsrunden. Während sich die Bahn nach außen verhandlungsbereit präsentiert, ist sie der GDL am Verhandlungstisch bei den Kernforderungen nicht entgegenkommen: Verkürzung der Wochenarbeitszeit um eine Stunde und eine tarifliche Begrenzung der Überstunden sowie – und das ist zwischen den beteiligten Gewerkschaften der springende Punkt – ein eigenständiger Tarifvertrag für ihre Mitglieder in allen Berufsgruppen des Zugpersonals.

Selbst mit den angebotenen Stufen bei der Einkommenserhöhung von 3,2% und 1,5% für einen Zeitraum von 30 Monaten (!) liegt sie immer noch deutlich unter der GDL-Forderung. Angesichts der Vorgehensweise Deutsche Bahn AG ist die Feststellung der GDL, dem Unternehmen gehe es überhaupt nicht um einen Tarifabschluss, sondern um Zeitgewinn bis zum Inkrafttreten des »Gesetzes zur Tarifeinheit« nur schwer von der Hand zu weisen. Tatsächlich läuft der GDL die Zeit davon.

Denn das von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vorgelegte Tarifeinheitsgesetz war bereits in erster Lesung im Bundestag. Zu Beginn der achten Streikrunde folgte die öffentliche Experten-Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Für den 21. und 22. Mai sind die weiteren Lesungen geplant, sodass das nach Auffassung von Arbeitsrechtlern »verfassungswidrige« Gesetz zum 1. Juli in Kraft treten könnte. Wenn es der GDL nicht gelingt, zuvor ein Tarifabschluss unter Dach und Fach zu bringen, könnten sie juristisch ausgebremst werden.

Ohne das von der schwarz-roten Koalition vorangetriebene Gesetz zur Tarifeinheit wäre der Republik die Eskalation des Tarifkonflikts bei der Deutschen Bahn vermutlich erspart geblieben. Als Eigentümer der Bahn ergreift der Bund einseitig Partei und gießt Öl ins Feuer. Begleitet von einem vielstimmigen Chor, der bereits nach einer »Zwangsschlichtung« ruft, um damit erst recht die im Artikel 9 GG geschützte Koalitionsfreiheit der ArbeitnehmerInnen und deren Recht auf Arbeitskampf weiter einzuschränken. Übrigens nicht nur zur Disziplinierung besonders renitenter Berufssparten. Der gesamte Bereich öffentlicher Daseinsvorsorge ist bereits ins Visier geraten – womit wir auch wieder bei den ErzieherInnen wären.

[1] IW: Schlichtung statt Millionenschäden, 5.5.2015 www.iwkoeln.de/infodienste/iw-nachrichten
[2] Mit einer überwältigenden Mehrheit von 93,44 bzw. 96,37% haben sich die Mitglieder von ver.di und GEW im Sozial- und Erziehungsdienst für einen Arbeitskampf ausgesprochen. Nicht nur in Kitas, auch in vielen Behindertenwerkstätten, Jugendzentren und anderen Sozialeinrichtungen ruht die Arbeit. Ziel ist eine Neueingruppierung der Arbeit, die durchschnittlich zu Gehaltserhöhungen von 10% führen soll.
[3] Vgl. Otto König/Richard Detje: Das aktuelle Streik-Bashing. »Dumm«, »verantwortungslos«, »irre«, SozialismusAktuell 27.10.2014.
[4] Reinhard Bispinck: Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik, auf: www.gegenblende.de (11.5.2015).

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