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29. August 2016 Björn Radke: Schleswig-Holstein neun Monate vor der Landtagswahl

Politisches Establishment, soziale Spaltung und eine AfD ante portas

Die »Küsten-Koalitionäre« (Foto dpa)

In Schleswig-Holstein wirft die Landtagswahl am 7. Mai kommenden Jahres ihren Schatten voraus. Nach der Sommerpause wollen die Parteien startklar für den Wahlkampf sein. Die wichtigste Fragen: Kann die bisherige Koalition von SPD, Grünen und dänischer Minderheit ihre knappe Position verteidigen? Und schafft die AfD den Einzug in einen Landtag?

Laut der letzten Umfrage aus dem April liegen die regierende SPD von Ministerpräsident Torsten Albig und die oppositionelle CDU in der Wählergunst gleichauf. Beide Parteien kämen danach auf jeweils 28% der Stimmen. Die AfD ist mit 9% sicher im Landtag vertreten.

Da die Grünen auf 16% zulegen könnten (2012: 13,2%), würde es knapp zu einer erneuten Mehrheit für die regierende Koalition aus SPD, Grünen und dem von der Fünf-Prozent-Hürde befreiten Südschleswigschen Wählerverband (SSW) (erneut 4%) reichen. Gemeinsam kämen die drei Regierungsparteien auf 48%. Nur der deutliche Zuwachs der GRÜNEN schafft gegenwärtig noch eine rechnerische Mehrheit für die »Küsten-Koalition«. CDU und FDP (9%) erhielten rechnerisch gemeinsam mit der AfD 46%. Die Piraten würden mit 1% nicht wieder in den Landtag einziehen, die Linkspartei bliebe mit 3% ebenfalls draußen.

Die Wahlumfragen in Schleswig-Holstein seit Beginn der verstärkten Flüchtlingszuwanderung zeigen zudem, dass die Flüchtlingsfrage vor Verkehrsproblemen und der Bildungspolitik mit Abstand das wichtigste Thema ist. Eine Mehrheit der BürgerInnen (59%) rechnet wegen der starken Zuwanderung mit einem wesentlichen Anstieg der Verschuldung des Landes, mehr als die Hälfte (55 %) fürchtet, dass das Wohnungsangebot deutlich knapper wird.

Die Schleswig-HolsteinerInnen sehen durch den Flüchtlingszustrom allerdings keine ernsthaften Folgen für die Innere Sicherheit. Die Koalition von Ministerpräsident Albig bekommt für ihre Flüchtlingspolitik gute Noten. Eine Mehrheit der BürgerInnen (55%) ist hier mit der Arbeit der Regierung zufrieden, nur 38% sind weniger oder gar nicht einverstanden. Von den AnhängerInnen der rechtspopulistischen AfD sind allerdings nur 6% mit Albigs Flüchtlingspolitik zufrieden. Abseits stehen die AfD-AnhängerInnen auch, wenn es um die Folgen des Flüchtlingszustroms geht. 54% fürchten einen deutlich größeren Einfluss des Islam in Schleswig-Holstein, 49% deutlich mehr Verbrechen.

Der Zuzug von Flüchtlingen ist für die Hälfte der schleswig-holsteinischen WählerInnen (42%) das wichtigste politische Problem. Laut einer Forsa-Umfrage von Kieler Nachrichten und Lübecker Nachrichten folgen darauf die »vielfältigen Verkehrsprobleme« im Norden. Sie wurden von 32% der Befragten genannt, wobei dazu sowohl eine marode Landesstraße oder der Nicht-Weiterbau der A20 zählen dürften. Schon mit deutlichem Abstand landen die Schul- und Bildungspolitik mitsamt der Kinderbetreuung (15%) auf Platz drei der Problemliste.

Die Finanznot des Landes (9%, Platz sechs), Umweltprobleme (3%, Platz elf) und Kriminalität (2%, Platz zwölf) spielen eine untergeordnete Rolle. Befürchtete finanzielle und Wohnungsprobleme wurden aber in Verbindung mit der Flüchtlingsfrage betont.

In der Bewältigung der Probleme kritisierten die WählerInnen vor allem die Verkehrspolitik (56% unzufrieden), den Kampf gegen Kriminalität (54% unzufrieden) und die Schul- und Bildungspolitik, mit der 56% nicht einverstanden sind. In diesen drei Problemfeldern sind selbst die AnhängerInnen der Regierungsparteien mehrheitlich unzufrieden mit der Politik ihrer VertreterInnen.

In der Tat gibt es reichlich unbewältigte Baustellen der Landesregierung. Der Landeshausalt sieht für 2016 Ausgaben von gut 11 Mrd. Euro vor, ein Plus von 6,6% gegenüber 2015. Die Neuverschuldung steigt auf 273 Mio. Euro. Die Investitionsquote des Haushalts 2016 liegt bei 7,2% — viel zu niedrig angesichts des besorgniserregenden Zustands der Infrastruktur.

Die Zahl der neu ankommenden Flüchtlinge ist stark rückläufig. In Schleswig-Holstein wurden im August 2016 494 Zufluchtsuchende aufgenommen. Im August 2015 waren es noch 2.739. 2016 hat Schleswig-Holstein bisher 7.603 Asylsuchende aufgenommen (Stand: 23.8.2016). Im Letzten Jahr waren es insgesamt 35.076. Der Haushalt wird dadurch nicht entlastet, da die nun zu leistende Integrationsarbeit auch ausgebremst wird durch die offenkundigen Defizite im öffentlichen Raum. Es mangelt an Personal und Infrastruktur.

Weiterhin liegt im Dunkeln, wie die Landesregierung die Auflagen des Stabilitätsrates zur Sanierung des Haushaltes umsetzen will. Die Mahnung an die Landesregierung ist klar: Wolle das Land ab 2020 einen Haushalt ohne neue Schulden hinbekommen, sei eine »Rückkehr zum strikten Konsolidierungskurs unerlässlich«. Sollte das Land diesem Kurs nicht folgen, droht das Aus der Vereinbarung mit dem Stabilitätsrat, wonach das Land vom Bund jährlich 80 Mio. Euro als Konsolidierungshilfe erhält.

Bei für 2016 vorgesehenen Ausgaben von gut 11 Mrd. Euro, steigt die Neuverschuldung auf 273 Mio. Euro .Damit reißt Schleswig-Holstein erstmals die strengen Landesvorgaben in der Verfassung zur Schuldenbremse. Die weniger strikte Bundesvorschrift wird jedoch eingehalten. Hier gibt es einen Puffer von 39 Mio. Euro. Der Stabilitätsrat, der die hoch verschuldeten Bundesländer überwacht, hat zugestimmt.

Ein Grund für die Mehrausgaben sind die steigenden Kosten für Flüchtlinge. Das Land rechnet in der Haushaltplanung für 2016 mit 27.200 zusätzlichen AsylbewerberInnen. Diese Annahmen werden in diesem Jahr unterschritten. Wie mit den frei werdenden Mitteln umgegangen wird, bleibt derzeit im Dunkeln. 816 Mio. Euro statt der ursprünglich vorgesehenen 314 Mio. Euro hat die Landesregierung für diesen Zweck in den Etat eingestellt. Hiervon sollen 1.000 neue Stellen im Landesdienst geschaffen werden, unter anderem 298 im Landesamt für Ausländerangelegenheiten, 280 für LehrerInnen, 200 für PolizistInnen, 25 an den Gerichten und 20 beim Verfassungsschutz. 190 Mio. Euro sollen in den Bau und den Unterhalt von Flüchtlingsunterkünften fließen. Hinzu kommen 421 Mio. Euro für die Betreuung der Flüchtlinge und für Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Die Kommunen bekommen 10,9 Mio. Euro zusätzlich.

Nach Lesart des Stabilitätsrats erwartet das Land, »dass sich die Haushaltslage 2016 merklich verschlechtert, die Obergrenze der Nettokreditaufnahme aber noch knapp eingehalten wird. Dies ist insbesondere auf Konsolidierungsmaßnahmen aus den Vorjahren und die günstigen Rahmenbedingungen zurückzuführen.«

Für den Stabilitätsrat liegen die Ursachen eines bereits mit dem vorgelegten Sanierungsbericht weniger ambitionierten Konsolidierungskurses in den erheblichen zusätzlichen Belastungen in Folge der gestiegenen Zahl von AsylbewerberInnen. »Anstelle der ursprünglich angesetzten Nettotilgung plant das Land jetzt im Haushaltsjahr 2016 neue Schulden in beträchtlichem Umfang, der Abstand zur Obergrenze der Nettokreditaufnahme wird fast aufgezehrt.« Die Mahnung an die Landesregierung ist klar: Um einen Haushalt ohne Neuverschuldung bis 2020 erreicht werden, sei eine Rückkehr zum strikten Konsolidierungskurs unerlässlich.

Das wird nur gehen, wenn die dringend notwendigen Infrastrukturmaßnahmen im Land zurückgefahren werden, der öffentliche Sektor personell weiter geschrumpft, der Wohnungsbau nicht angeschoben und bei den Mitteln für die Integration der Zufluchtsuchenden gespart wird. Soziale Verwerfungen und ein Anwachsen rechtspopulistischer Stimmungen sind dann unvermeidlich. Dem Land Schleswig-Holstein droht das größte Haushaltsdebakel seiner Geschichte mit nicht absehbaren Folgen für die BürgerInnen. Die gesamte politische Klasse hat keine Zukunftskonzeption für das Bundesland und die praktizierte Intransparenz wird sich in einem weiteren Legitimitätsverlust für die demokratischen Institutionen niederschlagen.

In einem Infrastrukturbericht hatte die Regierung den Sanierungsbedarf auf 4,85 Mrd. Euro beziffert. Davon waren 2,7 Mrd. Euro schon gedeckt. Mit dem geplanten »Infrastruktur-Modernisierungs-Programm für unser Land Schleswig-Holstein« (»Impuls 2030«) sollte der verbleibende Sanierungsstau aufgelöst werden. Bereits mit der letzten Finanzplanung hatte sich die Regierung darauf verständigt, von 2018 an jährlich 100 Mio. Euro für zusätzliche Investitionen zu reservieren. Dies soll es ermöglichen, einen verlässlichen Sanierungsfahrplan zum Abbau des Sanierungsstaus aufzustellen.

Zusätzlich wollte Finanzministerin Monika Heinold künftig am Jahresende Haushaltsüberschüsse in ein neues Sondervermögen für das »Impuls-Programm« überführen. Damit sollten spätestens ab 2018 jährlich mindestens weitere 50 Mio. Euro zur Gesamtfinanzierung des Programms hinzukommen. Von diesem Modernisierungsprogramm wird nicht viel übrigbleiben.

Vorsorge für Risiken im Zusammenhang mit der HSH-Nordbank sei im Haushaltsentwurf schlicht nicht getroffen, sagte ausgerechnet der CDU-Fraktionschef Daniel Günther, dessen Parteifreunde entscheidend an dem HSH Nordbank-Desaster beteiligt waren. FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki ätzt: »Nun sollen die Steuerzahler für viel Geld die faulsten Altlasten übernehmen, um die Braut namens HSH-Kernbank ansehnlicher für einen privaten Freier zu machen.« Ob es jedoch gelinge, die HSH – wie von der Europäischen Kommission verordnet – bis 2018 »an einen solventen Herrn zu bringen, steht allerdings in den Sternen«. Da ist ihm nur zu zustimmen.

Zu befürchten ist vielmehr: Der Substanzverlust der öffentlichen Infrastruktur geht weiter Auch der Personalabbau im öffentlichen Bereich ist keineswegs grundsätzlich gestoppt. Die zusätzlichen Ausgaben für die Integration der Flüchtlinge sind keineswegs in eine Entwicklungskonzeption für das Bundesland eingeordnet. Solange hier kein entscheidender Politikwechsel eingeleitet wird, wird der weitere Aufstieg der Rechtspopulisten nicht aufzuhalten sein. Die amtierende Regierungskoalition hat die kopflose Mängelverwaltung zum Prinzip erhoben. Von den bürgerlichen Oppositionsparteien ist aber auch keine Besserung zu erwarten.


Die soziale Spaltung verfestigt sich

Trotz guter Wirtschaftslage ist die Armut in Deutschland nur leicht gesunken – in Schleswig-Holstein ist die Quote seit 2013 um 0,2 Prozentpunkte gesunken. Demnach liegt die Armutsquote im gut verdienenden Hamburger Speckgürtel bei gerade mal 10,1% und damit sogar unter den ohnehin guten Durchschnittswerten der reichen Bundesländer Bayern und Baden-Württemberg. Der Paritätische Wohlfahrtsverbands Schleswig-Holstein verweist jedoch auf die kreisfreien Städte im Norden: In Kiel, Neumünster, Lübeck und Flensburg balle sich seit Jahren die Armut. Trotz sinkender Arbeitslosenzahlen bleibe das Armutsrisiko in den kreisfreien Städten Schleswig-Holsteins so hoch wie in einigen Regionen im Ruhrgebiet oder im Osten Deutschlands. Im Bereich der alten Kern-Region Kiel, Eckernförde, Rendsburg-Eckernförde, Neumünster und Plön liegt die Armutsquote demnach bei 16%. In Dithmarschen und Steinburg beträgt sie 16,7% und in Lübeck sowie dem Kreis Ostholstein sogar 17,2%.

Drastischer sind die Zahlen bei Kindern und Jugendlichen unter 15 Jahren, die Hartz IV beziehen: Die Landeshauptstadt Kiel ist mit 30% trauriger Spitzenreiter, dicht gefolgt von Neumünster mit 29,7%, Flensburg mit 28,7% und Lübeck mit 28,1%. Zum Vergleich: In Stormarn liegt die Armutsquote in dieser Altersgruppe bei 8,5%, im Landesdurchschnitt beträgt die Quote 16%.

Der Deutsche Kinderschutzbund forderte eine grundlegende Reform der Kinder- und Familienförderung zu einer »gerechten und existenzsichernden Kindergrundsicherung«. Außerdem müsse die Betreuungssituation weiter ausgebaut und verbessert werden, »und zwar in Form von leicht zugänglicher, qualifizierter und langfristig kostenfreier Förderung«, sagte die Landesvorsitzende Irene Johns. Es gehe um die Vereinbarkeit von Familie und Berufsleben und darum, frühzeitig kindliche Entwicklungsunterschiede zu verringern.

Der Vorstand vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Schleswig-Holstein, Günter Ernst Basten, kritisiert, dass die Armut im Norden »noch immer konstant hoch« sei. Nötig seien genaue Zahlen über die regionale Ungleichverteilung und das Wissen um bestimmte Risikogruppen. »Wir fordern für Schleswig-Holstein eine detaillierte Armutsberichterstattung«, sagte Basten. »Nur auf dieser Grundlage werden wir Armut und Armutsfolgen bekämpfen können.« Armut »macht krank, verschließt Bildungswege, verbaut Perspektiven und schließt Betroffene vom gesellschaftlichen Leben aus«. Betroffen seien viele: Alleinerziehende, Kinder- und Jugendliche, Alte, Migranten, chronisch Kranke, Erwerbsgeminderte, Arbeitslose und »Arbeitnehmer mit unfairen Arbeitsverträgen«.

Deutlich wird dies unter anderem beim mittleren Haushaltsnettoeinkommen pro Kopf – also jenem Einkommen, das von der Hälfte der Menschen in einer Region über- und von der anderen Hälfte unterschritten wird. In 2013 waren das in Westdeutschland 1.538 Euro. In Hamburg können die Menschen aufgrund der höheren Preise damit aber nur für 1.432 Euro einkaufen, in weiten Teilen Schleswig-Holsteins hingegen für 1.531 Euro. In den Kreisen Stormarn, Segeberg oder auch Pinneberg sind es sogar 1.606 Euro – nur in der Eifel und Teilen Bayerns wird dieser Wert noch übertroffen.

Der Verband nannte einen Wert des Statistischen Bundesamts für 2014 als zentrale Zahl für die Armutsquote. Gezählt werden dabei Menschen, die in Haushalten mit weniger als 60% des mittleren Einkommens leben. Im deutschlandweiten Vergleich liegt Schleswig-Holstein mit 13,8% auf dem vierten Platz und damit unter dem Bundesdurchschnitt von 15,5%. Anders sieht die Situation aus, wenn die Armutsquote auf Basis des Landesmedians berechnet wird, der die regionalen Einkommens- und Lebenshaltungskosten besser berücksichtigt. Dann liegt Schleswig Holstein mit 15,4% nur mehr im Bundesdurchschnitt.

Besonders betroffen von Armut sind Alleinerziehende (Armutsquote: 43%), Erwerbslose (55%) und Migrantinnen ohne (35,5%) und mit deutschem Pass (28%). Aber auch immer mehr SeniorInnen sind von Armut betroffen. In Schleswig-Holstein haben am Jahresende 2015 gut 20.200 Menschen im Alter von mehr als 64 Jahren Grundsicherungsleistungen für die laufende Lebensführung erhalten. Das ist die höchste Zahl seit Einführung der Statistik im Jahr 2003. Im Vergleich zum Vorjahr ergibt sich ein Zuwachs um gut 3%. Gegenüber 2010 betrug der Anstieg sogar 30%.

Ende 2015 waren 60% der Unterstützten Frauen. 14% aller Hilfebezieherinnen und -bezieher wohnten in Heimen und 80% bezogen Grundsicherungsleistungen ergänzend zur Altersrente. 29% waren zuvor auf Arbeitslosengeld II (»Hartz IV«-Leistungen) und 16% auf Sozialhilfe in Form von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen (alle Zahlen stammen aus dem Armutsbericht 2016 des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes/Statistikamt Nord).

In Schleswig-Holstein liegt der Anteil prekärer Beschäftigungsformen sehr hoch: Über 40% aller Erwerbstätigen sind von Befristungen, Leiharbeit und ungewollter Teilzeit betroffen oder arbeiten in einem sogenannten Mini-Job. Insbesondere Frauen sind häufig unter prekären Bedingungen angestellt – zwei von drei berufstätigen Frauen arbeiten in einem atypischen Beschäftigungsverhältnis.

Es bedarf eines Maßnahmen-Kataloges, der durch Schaffung eigener Wirtschaftscluster in Zukunftsbereichen wie Gesundheit, Soziales, Wissenschaft- und Bildung neue, gut bezahlte Arbeitsplätze schafft, und den öffentlichen Bereich nicht weiter ausdünnt, sondern stärkt. Dies ist sicher nicht auf einen Schlag realisierbar, aber letztlich nur auf bessere Zeiten zu hoffen, reicht nicht. Es braucht langfristig ein Paket von Maßnahmen, um die zunehmende Armut zu stoppen und die Verteilung umzukehren.

Im wachsenden Dienstleistungsbereich bedarf es der Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohnes mit entsprechender Anpassung, um den dort Beschäftigten Löhne zu garantieren, die im Alter Renten zum Leben ermöglichen. Das wird aber ohne eine Veränderung der Struktur der Arbeitsplätze in Schleswig-Holstein nicht zu machen sein. Hochtechnologien mit wenig gut bezahlten Arbeitsplätzen allein sind keine Lösung. Leider sind entsprechende Impulse bei der Landesregierung nicht in Sicht.


Opposition nicht überzeugend

Der Spitzenkandidat der CDU, Ingbert Liebing, ist vielen Schleswig-HolsteinerInnen noch weitgehend unbekannt. In der Umfrage im April bekam der Landesvorsitzende der CDU deutlich schlechtere Persönlichkeitswerte als Ministerpräsident Albig. Programmatisch ist die CDU weiterhin am Schwimmen. Ihre Hauptthemen: die schwierige Lage in der Landwirtschaft, der aktuelle Bildungsreport bei dem Schleswig-Holstein auf dem vorletzten Platz steht oder der unzureichende ÖPNV. Neben einem Zukunftsprogramm für SH mangelt es der CDU an Köpfen.

Außerdem ist der Landesverband pleite. Die Nord-CDU drücken Schulden von etwa einer Mio. Euro aus den Landtagswahlkämpfen 2009 und 2011. Die Mitgliederzahl, die vor 20 Jahren bei über 40.000 gelegen hat, ist inzwischen fast halbiert. Die Probleme des nördlichsten Bundeslandes liegen nach Ansicht der CDU vor allem in der maroden Infrastruktur. Deshalb wolle seine Partei alle Kräfte auf Zukunftsprojekte wie die A20, die Elbquerung und die Fehmarnbelt-Querung konzentrieren, sagte Liebing. Zwar habe die Landesregierung 2,5 Mrd. Euro mehr zur Verfügung als bei ihrem Amtsantritt vor vier Jahren. Trotzdem würden fast 100 Mio. Euro weniger investiert. »So fährt diese Landesregierung unser Land auf Verschleiß. Und das darf nicht sein.«

Und danach kommt die übliche CDU-Vorstellung: Voran komme im Norden nur die Bürokratie – dank Landesmindestlohn, Tariftreue- und Vergabegesetz sowie bürokratischen Auflagen im Naturschutz. Mit der CDU gegen Bürokratie, gegen Mindestlohn, gegen Tariftreue etc. Da wird nach rechts geblinkt, um mögliche AfD-WählerInnen anzuziehen.

Für den Kieler FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki spricht nach der Landtagswahl viel für eine Koalition von SPD und CDU. Die FDP will bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein ein zweistelliges Ergebnis holen. »Und das ist ja nicht unrealistisch bei 9% in der letzten Umfrage.« So hoch seien die Werte nicht einmal 2009 gewesen, als die FDP 14,9% holte. »Die Piraten werden rausfliegen aus dem Landtag und die AfD wird einziehen – das werden wir gar nicht verhindern können«, sagte Kubicki voraus. Er erwarte, dass die AfD schwächer wird als die FDP und einstellig bleibt in Schleswig-Holstein. Das erfolgreiche Abschneiden der AfD in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin lässt allerdings einen weiteren Aufschwung auch in Schleswig-Holstein befürchten.

Die AfD im Land ist seit längerem in innerparteilichen Auseinandersetzungen verstrickt. Dies ist für ein positives Wahlergebnis kein Hindernis. In Mecklenburg-Vorpommern geht die AfD mit einem Landesverband von rund 500 Mitgliedern und keinem landesspezifischen Programm einem Wahlergebnis von deutlich über 20% entgegen. Auch in Schleswig-Holstein hat die Partei keine landespolitische Substanz. Der Mangel an Programmatik beeinträchtigt indes den Aufschwung der Rechtspopulisten nicht. Sie erwarten im nächsten Jahr ein gutes Ergebnis. Der Ex-Landesvorsitzende Thomas Thomsen sieht das Umfrageergebnis in dem bundesweiten Trend zunehmender Akzeptanz begründet, nicht aber im Verdienst der AfD in Schleswig-Holstein: »Die ist ein Sammelbecken von Psychopaten, Chaoten, Unzufriedenen und Abgehängten.«

Nimmt man die letzte Umfrage aus dem April, dann wird sich eine neue Konstellation des Parteiensystems ergeben. Eine Zweier-Koalition ist nicht mehr wahrscheinlich. Nur der deutliche Zuwachs der GRÜNEN schafft gegenwärtig noch eine rechnerische Mehrheit für die »Küsten-Koalition« aus SPD, GRÜNEN und SSW.

Da ein zweistelliges Ergebnis der AfD nicht ausgeschlossen ist, ist selbst die Dreier-Ampel womöglich nicht mehrheitsfähig. Die Koalition hat zwar eine passable Mängelverwaltung über die Legislaturperiode durchgehalten. Doch die Kernprobleme (Infrastruktur, Arbeitsmarkt und öffentliche Dienste) wurden nicht angegangen und führen immer wieder zu Protesten der Betroffenen. Daher ist eine Fortführung der Koalition nicht sicher.

Unter diesen Bedingungen könnte eine LINKE mit einem realitätstüchtigen, landesspezifischen Reformprogramm durchaus Chancen haben, in den Landtag zurückzukehren. Mit Blick auf die bisherigen Wahlergebnisse muss die Partei in Schleswig-Holstein aber konzeptionell mächtig zulegen, besonders was die Auseinandersetzung mit dem modernen Rechtspopulismus betrifft. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD muss mehr beinhalten als moralischen Antifaschismus. Um ein solches Reformprogramm zu entwickeln und im Land bekannt zu machen, braucht es eine starke politische innerparteiliche Mobilisierung und das entsprechende Personal. Die Zeit bis zum Wahltag am 7. Mai 2017 ist bereits sehr knapp.

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