27. Januar 2016 Bernhard Sander
Der FN okkupiert den Staatsapparat
Die französische Linke ist verunsichert, da ihnen sowohl die bürgerliche Presse als auch Marine Le Pen selber entgegenhält, der rechtspopulistische Front National sei heute die größte Arbeiterpartei des Landes. Weniger oberflächlich betrachtet stellt sich jedoch heraus, dass große Kontingente der Wählerschaft heute aus den verunsicherten Mittelschichten stammen.
Bemerkenswert ist der Durchbruch bei den Staatsbeschäftigten, wenn man die Wahlabsichten bei den Regionalwahlen 2015 mit dem faktischen Stimmenanteil in den verschiedenen Berufsgruppen bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2012 vergleicht.[1]
Die untersuchten Zweige des Staatsapparates sind unterschiedlich (nach Bildungsabschluss) gegliedert und entlohnt. Es gab 2013 etwa 5,6 Millionen Staatsbedienstete (die auch nach Titularbeschäftigten und Vertragsmitarbeiter unterschieden werden, was aber bei dieser Untersuchung keine Rolle spielt).
Der FN-Stimmanteil in den Staatsfunktionen ist vor allem bei den unteren Laufbahngruppen am höchsten. Das spiegelt sich auch im Wahlverhalten der unterschiedlichen Bildungsabschlüsse, besonders ausgeprägt im Gesundheitswesen. 20% derjenigen, die dort höhere Abschlüsse haben, äußerten eine Präferenz für FN gegenüber 43% bei denen, die nur einen Schulabschluss bis zum Abitur nachweisen können.
Im Zentralstaat dominiert das Bildungspersonal (vor allem im Grundschulbereich weiblich und damit aktuell weniger FN-anfällig). Dort ist zwar ein Anstieg des FN-Anteils zu beobachten ist, jedoch bleibt der Stimmenanteil unterdurchschnittlich. Von den etwa 840.000 Mitgliedern des Lehrkörpers, die fast durchgängig in der Kategorie A entlohnt werden, wählten bei den Präsidentschaftswahlen 2012 nur 6% FN, bei den letzten Regionalwahlen präferierten aber über 9% für den FN. Im repressiven Staatsapparat würde heute jeder zweite den FN wählen (Anstieg von 30 auf 51,5%).
Die Zugewinne der Rechtspopulisten gingen weniger auf Kosten der Grünen und des PS (von 36 auf 34%), sondern zulasten des Front de Gauche und der Linksradikalen, die traditionell im öffentlichen Dienst, dort allerdings bei den Staatsunternehmen (Bahn, Post, Telecom, Air France usw.), ihre Bastionen hatten. Ihr gemeinsamer Stimmanteil in den untersuchten Sektoren hat sich von 15 auf 7% halbiert.
Die Kategorie C umfasst Beschäftigte, die entweder den gesetzlichen Mindestlohn oder das bis zu 1,4 fache davon beziehen. Sie stellen quer durch alle Funktionen die größten Bataillone des FN im Staatsapparat. Der Mindestlohn SMIC betrug im Jahr 2015 etwas mehr als 1.457 € im Monat; das 1,4-fache also rd. 2.040 €.
In den zehn Jahren zwischen 2002 und 2012 stiegen die Löhne nur um 6,6%, während die Inflation sich auf 20,3% summierte. 2010 lag das Durchschnittseinkommen aller Staatsdiener bei 2.459 Euro netto. Heute arbeiten 900.000 Staatsbeschäftigte in Lohnverhältnissen, die einen Antrag auf Aufstockung auf den Mindestlohn erforderlich machen. Für das Jahr 2008 gibt es eine Schätzung, dass etwa 10% von etwa 5,9 Mio. Staatsbeschäftigten SMIC bezogen (620.000 Menschen).
In den letzten fünf Jahren wurden die Gehälter vollständig eingefroren, was für den Staatshaushalt Entlastungen um sieben Mrd. Euro brachte, wie die zuständige Ministerin in Le Monde kundtat, und einen Kaufkraftverlust von 8-10%, wie die Gewerkschaft FO betont.
Im ersten Haushalt unter Hollande sollten 30.000 Vollzeitäquivalente abgebaut werden; 2011 waren unter Sarkozy bereits 32.000 VZE budgetiert worden. Dennoch hat das bevölkerungskleinere Frankreich absolut heute immer noch mehr öffentliche Beschäftigte als Deutschland. Zu diesem Stellenabbau kommen Leistungsverdichtung und Verlust von Identifikation mit der Arbeit aufgrund von betriebswirtschaftlicher Umorganisation und regionaler Dezentralisierung – allesamt Entwicklungen, die auch der PS nach 2012 fortsetzte.
Diese Prekarisierung der Einkommensstrukturen konnte auch durch zahlreiche Arbeitskämpfe, vor allem im Gesundheitswesen, nicht abgewehrt werden. Die Untersuchung fördert zu Tage, dass 50% der öffentlichen Bediensteten einschätzen, dass sich der Zustand der Gesellschaft verschlechtere und nur noch 15% halten dafür, dass die öffentliche Politik im Dienste des Allgemeininteresses stehe.
In der Folge verabschiedete sich auch der FN von einer feindlichen Haltung gegenüber dem öffentlichen Dienst und gründete sogar Fachsektionen und Basisorganisationen. Der Frust, dass die Verteidigung des öffentlichen Dienstes nicht gelingt, entlädt sich in schwacher Wahlbeteiligung bei den betrieblichen Interessenvertretungen und heute in einem rechtspopulistischen Votum derjenigen, die sich in einem besonderen Treue- und Fürsorgeverhältnis wähnten. Etwa ein Zehntel gab an, 2012 Hollande gewählt zu haben und etwa ein Fünftel bekannte sich zu einem früheren Votum für Sarkozy, teilte also schon damals eine Reihe von Ressentiments der Rechtspopulisten.
In einer Nachwahlbefragung des Meinungsforschungsinstituts Opinionway wird die repräsentative Stichprobe für alle FranzösInnen nach vier Gruppen von monatlichem Haushaltseinkommen unterschieden. In den unteren Gruppen < 1.000 und < 2.000 Euro sind die Voten für den FN am höchsten, allerdings sind dort auch die Quoten der Wahlenthaltung am höchsten.
Umgekehrt ist das Votum für den Front National bei den Bessergestellten eher unter- und die Wahlbeteiligung überdurchschnittlich. Es sind diese Kreise, die noch am ehesten glauben, dass das demokratische System gut oder einigermaßen gut funktioniere. Zwei Drittel der Franzosen sehen das nicht mehr so; ihr Anteil steigt trotz der beiden Wahlgänge im letzten Jahr auf 67% an.
Die aktuellen Aufrufe zu Streiks und Kundgebungen des öffentlichen Dienstes und vor allem des Lehrkörpers finden trotz des anhaltenden Ausnahmezustands zwar Gehör, aber keine Resonanz. Nur 22% des Lehrpersonals beteiligte sich am 25. Januar (30% nach Auskunft der Gewerkschaft CGT). Man hatte sich den wütenden Taxifahrern angeschlossen, um wenigstens noch etwas mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Der Zustand des Bildungswesens ist katastrophal. In Marseille, der Europäischen Kulturhauptstadt von 2013, unterbleiben beispielsweise Asbestsanierungen und energetische Erneuerung in den Schulgebäuden seit 2008, obwohl in das Stadion von Fußball-Erstligist Olympique über 200 Mio. Euro investiert wurden.
Ähnliche Beispiele findet man im ganzen Land. Die Reform der Mittelstufe halbiert den Deutschunterricht vor allem in den abgelegenen Regionen wie Normandie, Bretagne und im Südwesten, altsprachlicher Unterricht wird nur an den teuren Privatschulen überleben. Statt der von Hollande zu Beginn der Amtszeit versprochenen 60.000 neuen Stellen im Bildungswesen stehen die Zeichen also auf Abbau.
Die soziale Wut findet mündet im Rückzug aus dem politischen System. Der Front National sieht darin allerdings keine Niederlage. Es werde deutlich, »dass die Regierung sich entschlossen hat, den Streik totlaufen zu lassen. Mit ihrer Untätigkeit lädt die Regierung Schuld auf sich. Irgendwann wird es zur Explosion kommen«.
Die nun begonnene Debatte über gemeinsame Vorwahlen der gesamten politischen Linken könnte ein Forum bieten, über die Notwendigkeiten zur Wiederherstellung eines funktionierenden öffentlichen Dienstes im eingeschränkten Spielraum des Fiskalpaktes ins Gespräch zu kommen. Damit wäre die Wahrnehmung des amtierenden Staatspräsidenten als im Vergleich zu seinem Vorgänger Sarkozy »geringerem Übel« zu durchbrechen, die offenbar das einzige Pfund des PS ist.
Gerade die unteren sozialen Kategorien halten Hollande zwar die Steuerentlastungen für RentnerInnen und die Mittelschichten zugute, werfen ihm aber vor, seine Wahlversprechen nicht eingehalten zu haben und die Bessergestellten weiter zu privilegieren. Die Arbeitslosigkeit steige ungebremst, die Prekarisierung greife selbst in den Mittelschichten um sich (auch durch die Steuerprogression) und die Reichen werden immer reicher. Hollande sei weich, inkompetent, nicht entscheidungsfreudig. Beste Voraussetzungen also, über eine Kandidatendebatte für einen neuen Politikertypus zu werben, der wieder mobilisieren kann.
[1] L’Enquête électorale française: Comprendre 2017 La Note / #3 / vague 1 décembre 2015