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29. Juni 2016 Hinrich Kuhls: Die Krise der britischen Labour Party

Der Kapitän bleibt vorerst an Bord

Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im britischen Parlament hat am 28. Juni in einer geheimen Abstimmung ihrem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Jeremy Corbyn das Misstrauen ausgesprochen. Damit wird die politische Erschütterung, die das britische Parteiensystem durch das Brexit-Referendum erfährt, nicht nur in der Regierungs-, sondern auch in der Oppositionspartei manifest. Corbyn hat angekündigt, dass er nicht zurücktreten wird.

Die Anhänger der zweimal (2010 und 2015) abgewählten Politik von »New Labour« setzen darauf, dass sie in der umfassendsten Gesellschaftskrise Britanniens seit Ende der 1920er Jahre und im Chaos der Ratlosigkeit der europäischen Eliten den Erneuerungsprozess der Labour Party aufhalten können, der mit der Wahl Corbyns im letzten September eingeleitet wurde. Die Politik von »New Labour« war vor 20 Jahren durch Tony Blair und Gordon Brown in Regierungshandeln umgesetzt worden.

Sie war die britische Variante des sozialdemokratischen »Wegs der Mitte« in den Metropolländern des entwickelten Kapitalismus. Mit ihm wurden durch Deregulierung der Finanzmärkte und des Arbeitsmarkts sowie durch massiven Sozialabbau die Tore geöffnet für den Durchmarsch des neoliberalen Gesellschaftsmodells – zunächst in sozialdemokratischem Antlitz und dann in seiner zunehmend autoritären Gestalt mit einer anhaltenden Austeritätspolitik und fortschreitend delegitimierten Entscheidungsprozessen.

Der politische Fallout des Brexits ist umfassend.[1] Aus dem Referendum über die Mitgliedschaft in der EU sind die Rechtspopulisten als Gewinner hervorgegangen. Schon die Abstimmungskampagne hatte offengelegt, dass der in den letzten Jahren erstarkte britische Rechtspopulismus die Konservative Partei in eine Zerreißprobe gestürzt hat. Es ist ihre stärkste Krise seit der Begründung ihrer modernen Gestalt durch Benjamin Disraeli im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, seinerzeit in der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus der Whigs.

Die Spaltung der Konservativen Partei in einen neoliberalen und rechtspopulistischen Flügel ist manifest, sie geht quer durch Mitgliedschaft, Parlamentsfraktion und Kabinett. Der Krisenmodus verstärkt sich zunehmend, je heftiger Finanzmärkte und Realwirtschaft auf die politische Desorientierung reagieren, und je deutlicher wird, dass das rechtspopulistische Austrittslager keine realistische Perspektive für ein Britannien außerhalb der EU vorzuweisen hat.


Die Implosion der Labour-Parlamentsfraktion

Mit dem Misstrauensvotum gegen Corbyn ist unmittelbar nach der Brexit-Entscheidung der personelle Kompromiss in der Zusammensetzung des Fraktionsvorstands im Unterhaus zusammengebrochen. Dem Statut der Labour Party entsprechend war Corbyn nach der mit großer Mehrheit in einer Urabstimmung erfolgten Wahl[2] zum Parteivorsitzenden im September letzten Jahres zugleich als Fraktionsvorsitzender der offizielle Oppositionsführer.

Mit einer geschickten Handhabung unterschiedlicher Positionen in den Parlamentsdebatten und in den Ausschüssen gelang es der Labour Party insgesamt, die Oppositionsarbeit während des ersten Jahres der laufenden Legislaturperiode erfolgreich zu gestalten. Ein Angriff des früheren Premiers Blair und weiterer Parteimitglieder, die sich der Politik von »New Labour« verpflichtet fühlen, auf die Integrität Corbyns zum Jahreswechsel 2015/16 verpuffte[3] und deutlich gemacht, dass Corbyns Politik der ersten Monate[4] in der Gesamtpartei großen Rückhalt hatte.

Dem Misstrauensvotum ging die Demission nahezu der Mehrheit des Schattenkabinetts voraus. Die Rücktritte erfolgten, nachdem Corbyn seinen außenpolitischen Sprecher Hilary Benn entlassen hatte. Dieser hatte nach einem Bericht des Observer zufolge das Misstrauensvotum ins Gespräch gebracht und kaum Zweifel daran gelassen, dass dieser Schritt innerhalb der Fraktion seit längerem vorbereitet war.

Für die politische Begründung des Misstrauensvotums müssen drei Anwürfe herhalten:

  • Zu viele WählerInnen, die zuletzt Labour gewählt hatten, hätten sich mit ihrer Entscheidung für einen Austritt nun abgewandt, und seien ohne einen Austausch der Parteispitze nicht zurückgewinnen.
  • Die Pro-EU-Kampagne Labour in for Britain sei zu spät gestartet, nicht offensiv genug und mit den falschen Argumenten geführt worden und hätte daher die Labour-AnhängerInnen nicht erreicht. Dass Corbyn nicht zusammen mit Cameron in der Abstimmungskampagne aufgetreten ist, hätte das Pro-EU-Lager entscheidend geschwächt.
  • Corbyn sei seinem ganzen Habitus nach nicht in der Lage, einen Wahlkampf mit dem Ziel eines Machtwechsels erfolgreich zu gestalten.

Alle drei Anwürfe sind unbegründet. Das Misstrauensvotum ermöglicht es der Fraktionsmehrheit, der inhaltlichen Debatte über die Veränderung von Zielrichtung und Schwerpunkten der Oppositionsarbeit gegen die konservative Regierung aus dem Weg zu gehen. Person und Habitus des Parteivorsitzenden werden in den Vordergrund geschoben, um den Diskurs über die von Corbyn skizzierte politische Richtungsänderung der Labour Party zu unterbinden, die von weiten Teilen der Parteibasis getragen wird, sowohl von den Gewerkschaften als auch den Individualmitgliedern und Sympathisanten. Zu den Anwürfen im Einzelnen:


Die Brexit-Entscheidung und die Labour-WählerInnen

Die Behauptung, die Wählerschaft Labours, soweit sie jetzt für einen Brexit gestimmt habe, würde bei kommenden Parlamentswahlen nicht die Politik der Labour Party unterstützen, hat keine Evidenz.

Zunächst ist festzustellen, dass in den meisten Wahlkreisen mit traditionellen Labour-Hochburgen in städtischen Agglomerationen gegen den Brexit gestimmt wurde. Das trifft für fast alle Wahlkreise in London, Liverpool, Manchester, Yorkshire, Leicester, Bristol und Cardiff zu. Birmingham, zweitgrößte Stadt im Land, hat mit 50,5% knapp für den Austritt gestimmt. Fast zwei Drittel der Labour-WählerInnen (63%) – neben 64% der SNP und 70% der Liberaldemokraten – haben für den Verbleib gestimmt, hingegen stimmten 58% der Tory-Wähler und 95% der UKIP-WählerInnen für den Brexit. Von zehn WählerInnen, die für den Verbleib gestimmt haben, hatten bei der letzen Parlamentswahl vier Labour und drei konservativ gewählt; von zehn Brexit-BefürworterInnen hatten vor einem Jahr zwei Labour und vier konservativ gewählt – so die Wahlanalyse des Instituts Lord Ashcroft Polls vom 24.6.2016.

Labour könnte allenthalben vorgeworfen werden, dass sie noch mehr jüngere WählerInnen zur Stimmabgabe hätte bewegen können. Das war aber kein Manko Corbyns, sondern ist der verhaltenen Unterstützung der eigenständigen Pro-EU-Kampagne Labour in for Britain seitens der Labour-ParlamentarierInnen anzulasten.

Die nach dem Start der Referendumskampagne durchgeführten Kommunalwahlen Anfang Mai hatten für den Landesteil England gezeigt, dass die Labour Party ihre Position konsolidieren konnte. Dass das in äußerst geringen Teilen auch der UKIP gelungen war, lag am fortschreitenden Kompetenzverlust der Konservativen in der Wohnungs-, Gesundheits- und Schulpolitik. Die Kommunalwahlen bestätigten das Bild, dass eine gegenüber der durchgefallen Wahlprogrammatik von 2015 veränderte Sozial- und Wirtschaftspolitik die Wahlaussichten Labour stärken würden. Corbyn rückte in Meinungsumfragen dicht an die Zustimmungswerte des jetzt abtretenden Premierministers Cameron heran, was Medien und viele Labourgranden immer als unmöglich hingestellt hatten.

Der Brexit ist über die Migrationsfrage entschieden worden, und zwar zentral über die Ablehnung von Arbeitsmigranten aus der EU. Schon zum Zeitpunkt der letzten Parlamentswahl – Labour verlor sie unter der Regie der »New-Labour«-Erben, weil sie sich nicht klar von der Austeritätspolitik der Konservativen abgesetzt hatte, und weil die damalige Parteispitze ihr Agieren im schottischen Unabhängigkeitsvotum von 2014 nicht nachträglich legitimieren konnte – bildete sich bei der Hälfte InselbewohnerInnen eine starke Ablehnung gegenüber Ausländern heraus. 52% der BritInnen beantworteten folgende Frage mit »Ja«: »Denken Sie, dass zu viele Einwanderer ins Land gelassen worden sind, oder nicht?«

Die Ablehnung der EU-ArbeitsmigrantInnen hat sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren aufgebaut und ist in den letzten Jahren in eine verstärkte Fremdenfeindlichkeit übergegangen, die sich in der Abstimmungskampagne und jetzt nach dem Brexit weiter zunehmend in Gewalthandlungen äußert – eine für Britannien relativ neue Erfahrung. Dass sich diese Fremdenfeindlichkeit entwickeln konnte und dass in sozialen Brennpunkten auch Labour-Wähler in ihrer sozial bedrückenden Situation gegenüber diesen Ressentiments nicht resistent sind, liegt nicht an Corbyn, sondern haben die Blairisten mit zu verantworten.

Denn es war die Regierung Blair, die im Zuge der forcierten Deregulierung des Arbeitsmarkts 2004 zum Zeitpunkt der EU-Osterweiterung als einzige Regierung in der EU nicht auf Übergangsregelungen zurückgegriffen und es versäumt hatte, diese Zuwanderung sozial- und bildungspolitisch zu flankieren. Darauf hatten Corbyn und seine Minifraktion schon damals hingewiesen, und die inklusive Sozialpolitik im Zusammenhang mit der Erneuerung der sozialen Infrastruktur ist ein Kern seiner programmatischen Vorschläge.

Dass vor diesem Hintergrund die Fraktionsmehrheit den insgesamt geringen Anteil von Labour-WählerInnen, die für den Brexit votiert haben, als Vorwand nimmt, Corbyn ein Versagen in der Mobilisierung der Wählerschaft und somit eine Teilschuld am Ausscheiden Britanniens aus der EU zu geben, kann nur als schäbiges politisches Handeln qualifiziert werden.


Corbyns europapolitische Position

Corbyns europapolitische Position wurde frühzeitig und in Abstimmung mit den jeweiligen außen- und europapolitischen Sprechern der Fraktion umrissen und ist von ihm zum Auftakt der Abstimmungskampagne ausführlich[5] dargelegt und dann in der Kampagne selbst vielfach vorgetragen worden. Er hat sie zusammengefasst mit »Bleiben und Reformieren« und unmissverständlich deutlich gemacht, dass er für eine Transformationsperspektive für Britannien in der EU steht, und dass mit einem Austritt große Teile des arbeits-, umwelt- und verbraucherrechtlichen Vorschriften wegfallen.

Für Corbyn und McDonnell heißt »Reformieren oder Erneuern«, der langjährigen Austeritätspolitik eine Absage zu erteilen und sie durch ein eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu ersetzen, mit der die öffentliche Infrastruktur und die industriellen Basis im Verbund mit einer inklusiven Sozialpolitik erneuert wird. Diese politische Alternative, die ihren Rückhalt in der übergroßen Mehrheit der Labour Party hat, wird von den meisten Abgeordneten, wenn überhaupt, nur in Teilen mitgetragen.

Das ist der politische Kern des Aufstands der Mehrheit des Schattenkabinetts und der Parlamentsfraktion gegen ihren Vorsitzenden. Von einer Perspektive, die die neoliberalen Elemente in einer sozialdemokratischen Programmatik hinter sich lässt, sind sie bisher nicht überzeugt. Sie bleiben ihrer abgemilderten Version einer neoliberal ausgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik verhaftet.


Corbyns politisches Auftreten

Der Vorhalt, Corbyn sei nicht in der Lage, für die Partei Wahlen zu gewinnen, und würde keine Führungsqualitäten besitzen, läuft ins Leere. Corbyn vertritt explizit eine andere Methodik der politischen Arbeit als die Praxis der Top-Down-Politik. Er setzt auf die Einbeziehung der Basis in die Entscheidungsprozesse der Partei und der interessierten Bevölkerung in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Es könnte ihm allein vorgehalten werden, dass die Aktivierung der Parteibasis zu langsam vorankommt.

Das ist aber nicht die Stoßrichtung der Kritik. Im Gegenteil, dem Prozess der inhaltlichen und organisatorischen Erneuerung der Partei entziehen sich die Abgeordneten oder arbeiten ihr entgegen. Die Ablehnung des Erneuerungsprozesses bündelt sich in der haltlosen Kritik an der Person und dem Habitus des Vorsitzenden, der vor seiner Wahl in der Fraktion wohl geduldet oder belächelt wurde, den man aber letztendlich nicht mehr akzeptieren will. Denn mit dem Abschied von der Top-Down-Politik wird die Rechenschaftspflicht der Abgeordneten nicht mehr nur an ihre Wahlkreisbasis, sondern auch an den politischen Diskurs und die Entscheidungsfindung jener Organisation zurückgebunden, die parteiförmig die Interessen der Benachteiligten und eben nicht der Privilegierten der Gesellschaft vertritt.

Dass die Revolte in einer Situation ausbricht, in der die britische Gesellschaft an einem Kreuzweg steht und die Krise des gesamten politischen Systems in eine Gesellschaftskrise umgeschlagen ist, zeugt von einer Praxis politischer Arbeit, die auch anglophilen Beobachtern, wenn nicht den Atem verschlagen, so doch in Erstaunen versetzen kann.


Wie weiter nach dem Misstrauensvotum?

Das Misstrauensvotum haben 172 Abgeordnete mitgetragen, 40 haben Corbyn ihr Vertrauen ausgesprochen. Nur ein Dutzend hat nicht mitgestimmt. Corbyn, der zuvor schon sein Schattenkabinett neu zusammengestellt hatte, hat erklärt, dass er nicht zurücktreten wird.

»Nach dem Brexit-Referendum steht unser Land vor großen Herausforderungen. Die Risiken für die Wirtschaft und den Lebensstandard wachsen. Das Land ist gespalten. Die Regierung ist in Auflösung begriffen, und ihre Minister haben deutlich gemacht, dass sie keinen Plan für den Austritt aus der EU haben, aber entschlossen sind, die arbeitende Bevölkerung zur Kasse zu bitten mit einer neuen Runde von Sozialkürzungen und Steuererhöhungen.

Wir als Labour Party sind in der Pflicht, Führungsverantwortung zu übernehmen, da die jetzige Regierung dazu nicht mehr in der Lage ist. Wir müssen die Menschen in einer gemeinsamen Perspektive vereinen, die Regierung zur Rechenschaft ziehen, gegen die Austeritätspolitik opponieren und einen Ausstiegsplan vorlegen, mit dem Arbeitsplätze und Einkommen geschützt werden.

Dazu müssen wir zusammenstehen. Seit ich vor neun Monate zum Parteivorsitzenden gewählt worden bin, haben wir wiederholt die Regierung erfolgreich daran hindern können, ihre Angriffe auf den Lebensstandard fortzusetzen. Vor einem Monat ist Labour bei den Kommunalwahlen als stärkste Partei hervorgegangen. Beim Referendum stimmte eine knappe Mehrheit für den Brexit, aber zwei Drittel der Labour-WählerInnen hat entsprechend unseres Aufrufs für den Verbleib gestimmt.

Ich bin der von 60% der Mitglieder demokratisch für eine Neue Politik gewählte Parteivorsitzende. Ich werde ihr Vertrauen nicht verraten und daher nicht zurücktreten. Die heutige Abstimmung der Abgeordneten hat keine konstitutionelle Legitimität. Wir sind eine demokratische Partei, mit einem klaren Statut. In dieser kritischen Zeit unseres Landes müssen die Mitglieder der Labour Party, ihre Mitgliedsgewerkschaften und die Parlamentarier mit ihrem Vorsitzenden gemeinsam agieren.«

Schneller als noch vor einem Jahr erwartet werden konnte, ist damit die Frage zugespitzt worden, ob und wie sich die Gewichte in dieser neuen Konstellation von Gewerkschaften mit ihrer Kollektivmitgliedschaft, von seit Langem in lokalen Parteiverbänden aktiven Mitgliedern, von interessierten SympathisantInnen und Neumitgliedern und von überwiegend einseitig mit den Konzepten New Labours vertrauten Labour-Parlamentariern neu ausbalancieren. Corbyns Methode ist die Einbeziehung der Basis in die Entscheidungsprozesse der Partei und der interessierten Bevölkerung in den gesellschaftspolitischen Diskurs.

Was die Aktivierung der Parteibasis betrifft, steht nach der langen Zeit der Top-down-Politik New Labours eine Phase harter Rekonstruktionsarbeit bevor. Besonders die Parteibasis in den Wahlkreisorganisationen steht vor großen Herausforderungen, da bei Wahlen nach dem reinen Mehrheitswahlrecht die Aktivierung der WählerInnen vor Ort durch die jeweiligen Wahlkampfteams entscheidend ist.

Wie die Mehrheit der ParlamentarierInnen nach dieser Misstrauensaktion in einer – von den meisten für die nächste Zeit – erwarteten Neuwahl mit den ParteiaktivistInnen für die Verteidigung ihres Mandats (ganz zu schweigen von der Erringung neuer Mandate) zusammenarbeiten wollen, werden sie bald beantworten müssen. Len McCluskey, Vorsitzender der mitgliederstärksten Gewerkschaft Unite, hat bereits angekündigt, dass er darauf bestehen wird, ab der nächsten Wahl müssten auch Abgeordnete, die ein Mandat zu verteidigen haben, sich entgegen der bisherigen Praxis einer erneuten Kandidatenkür unterziehen.

Die Krise der Labour Party ist tiefgreifend. Unmittelbar nach dem Misstrauensvotum der Mehrheit der Parlamentsfraktion ist vollkommen offen, wie sich der Widerspruch zwischen den Abgeordneten, die sich auf ihr in einer allgemeinen Wahl errungenes Mandat berufen, und der durch die enge Partei- und Fraktionsspitze vertretenen Parteibasis bewegen kann. War bisher die Zeit zu kurz, um die grundlegenden Probleme der britischen Sozialdemokratie zu lösen, so wird jetzt wohl die Zeit bis zu einer Klärung der Grundsatzfragen auf dem Parteitag Ende September zu lang sein, um die Handlungsfähigkeit der Labour Party aufrecht zu erhalten.

[1] Zu den ökonomischen, sozialen und politischen Konsequenzen der Brexit-Entscheidung vgl. ausführlich im Juli/August-Heft der Printausgabe von Sozialismus: Joachim Bischoff, Hinrich Kuhls, Björn Radke: Brexit – Britannien verlässt die EU. Vgl. außerdem den Kurzkommentar vom 24.6.2016 hier auf der Website: dies.: BREXIT - Britannien verlässt die EU.
[2] Vgl. Ulrich Bochum, Hinrich Kuhls: Labours langer Weg zur gesellschaftlichen und politischen Wende. Sozialismus 10-2015, S. 25-31, sowie den Kurzkommentar auf Sozialismus Aktuell vom 1.10.2015: Aufbruch, Erneuerung, Skepsis. Die Jahreskonferenz der Labour Party.
[3] Vgl. Hinrich Kuhls: Eine steife Brise umweht das Steuerdeck. Die Umbildung der Labour-Fraktionsspitze. Sozialismus 2-2016, S. 2-6.
[4] Jeremy Corbyn: Die ersten Monate eines langen Kampfes. Jeremy Corbyn im Gespräch mit Leo Panitch und Hilary Wainwright. In: Walter Baier, Bernhard Müller und Eva Himmelstoss (Hrsg.): Das Rätsel Europa. Transform! Jahrbuch 2016. Hamburg: VSA: Verlag, S. 85-97
[5] Jeremy Corbyn: Speech to Senate House, 14. April 2016. Labour Party (Labour Press); dt.: Bleiben – und Reformieren. Rede des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn zum Brexit-Referendum. Dokumentation – April 2016. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Internationale Politikanalyse (Perspektive).

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