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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

24. Juli 2017 Friedrich Steinfeld

Der Nahe und Mittlere Osten als geopolitisches Pulverfass

flickr.com/The U.S. Army

Nach dem G7-Gipfel im Mai in Italien fasste Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Einschätzung über den offenkundig gewordenen Paradigmenwechsel in der gesamten Außenpolitik der USA unter Präsident Donald Trump zusammen, vorsichtig zwar, aber doch eindeutig: »Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stückweit vorbei.«

Bei diesen Bemerkungen wird zunächst an NATO, Brexit, Klimaabkommen gedacht, weniger an die Wende in der US-Politik bezüglich des Nahen und Mittleren Ostens. Aber auch dieser Wandel ist gravierend und brandgefährlich.

Seine erste Auslandsreise im Mai des Jahres führte Trump nicht etwa zuerst zum G7-Gipfel nach Italien, sondern in die Golfregion – in eines der derzeitigen geopolitischen Pulverfässer. Schon vor seinem Besuch hatte Trump sich im Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Golfregion eindeutig gegen den Iran positioniert und damit offen Partei für Saudi-Arabien, für das der Iran der Erzfeind schlechthin ist, ergriffen. Gemäß seiner außenpolitischen Devise »America first« machte er ökonomische Deals vor allem mit dem zahlungskräftigen Rentier-Staat und regionalen Macht-Akteur Saudi-Arabien. Die vereinbarten Waffenlieferungen an Saudi-Arabien belaufen sich in einem ersten Schritt auf 110 Mrd. US-Dollar.

Insgesamt soll Saudi-Arabien innerhalb der nächsten zehn Jahre Waffen im Wert von 350 Mrd. US-Dollar von den USA kaufen. Mit diesem größten bilateralen Waffendeal in der Geschichte der USA konnte sich Trump innenpolitisch als der im Wahlkampf versprochene Job-Beschaffer präsentieren, und Saudi-Arabien sich in seiner Rolle als regionaler Macht- und Ordnungsfaktor an der Seite der USA bestätigt sehen.

Trump forderte auf seiner Reise zwar die Golfstaaten zur entschiedenen Bekämpfung des Terrors auf, allerdings kam dabei weder die Tatsache zur Sprache, dass aus Saudi-Arabien heraus jahrzehntelang der islamistische Terrorismus finanziert worden ist, noch forderte er Saudi-Arabien zur Einhaltung der Menschenrechte (insbesondere des Rechts auf Religions- und Meinungsfreiheit) auf. Er sei nicht gekommen, um anderen zu sagen, wie sie zu leben hätten…

Saudi-Arabien führt derzeit im Jemen einen brutalen Krieg gegen die vom Iran unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen, unter dem vor allem die Zivilbevölkerung durch Tod, Hunger und Ausbruch der Cholera leidet. Amnesty International wertete einige Bombardements der saudi-arabischen Armee als Kriegsverbrechen – eine erneute humanitäre Katastrophe in der langen Kette solcher Katastrophen (Afghanistan, Irak, Syrien etc.). Und auch Deutschland liefert bekanntlich seit vielen Jahren Waffen an Saudi-Arabien. Die saudische Intervention konnte aber im Jemen bisher das Blatt nicht entscheidend zugunsten der sunnitischen Kräfte wenden.

Nur wenige Tage nach Abreise des amerikanischen Präsidenten zeigten sich direkt die außenpolitischen Folgen seiner offenen Parteinahme: Eine Vierer-Allianz aus Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten machten massiv Front gegen das (in religiöser Hinsicht ebenfalls sunnitisch geprägte) Emirat Qatar. Sie warf Qatar massive Unterstützung islamistischer Terrororganisationen vor und stellte ein Ultimatum zur Erfüllung von – aus Sicht Qatars – mehr oder weniger unannehmbaren Forderungen wie:

  • Schließung des arabischen Senders Al Dschadira, der seinerzeit den Arabischen Frühling mit seiner Berichterstattung befeuerte;
  • Schließung einer Luftwaffenbasis, die die Türkei in Qatar unterhält;
  • Reduktion der Beziehungen zum Iran, Qatar beutet z.B. gemeinsam mit Iran ein Gasfeld aus;
  • keine weitere Unterstützung des islamistischen Terrors, womit konkret z.B. die jahrelange hauptsächliche Finanzierung des Ablegers der Muslimbruderschaft [1] im Gaza-Streifen und ihres militärischen Arms, der Hamas, durch Qatar gemeint ist. Darüber hinaus sollen aus Qatar auch al-Quaida, die syrische al-Nusra-Front sowie der IS unterstützt worden sein.

Die Grenzen zu Qatar wurden geschlossen, der Luftraum für qatarische Flugzeuge gesperrt, qatarische StaatsbürgerInnen des Landes verwiesen und den eigenen Landsleuten zwei Wochen Zeit gegeben, Qatar zu verlassen. Die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahmen wird Quatar zunächst verkraften, schließlich handelt es sich um das reichste Land der Welt.

Während jedoch der Lebensstandard der heimischen Bevölkerung sehr hoch ist, herrscht auf den Baustellen Qatars – u.a. beim Ausbau Qatars als Austragungsort der Fußball-WM 2022 – nicht nur, wie in Saudi-Arabien, harsche, sondern sklavenähnliche Ausbeutung (mit hohen Todesraten) sogenannter Gastarbeiter (vor allem Inder und Nepalesen) vor. Die Investitionen Qatars im Ausland (u a. in Deutschland, Türkei) beliefen sich auf 340 Mrd. US-Dollar. Davon seien 40 Mrd. US-Dollar flüssig, so der Gouverneur der qatarischen Notenbank.

Allerdings ist in Rechnung zu stellen, dass sich zwischen den Staaten des Golfkooperationsrates (GCC), in dem auch Qatar Mitglied ist, enge Wirtschaftsbeziehungen entwickelt haben. So beziehen die Vereinigten Emirate 40% ihres Erdgasbedarfes aus Qatar. Die wirtschaftlichen Beziehungen können bei Fortdauer des Konfliktes insgesamt erheblich gestört werden. Darüber hinaus senkt der gegenwärtige Konflikt massiv das Vertrauen in die zukünftige Entwicklung des gemeinsamen Wirtschaftsstandortes am Golf.

Der Konflikt vor allem zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf der einen und Qatar auf der anderen Seite, schwelt schon seit Langem. Seit Jahrhunderten sind die Herrscherfamilien der Arabischen Halbinsel auch in Machtkämpfe untereinander verwickelt. Neben Grenzstreitigkeiten kam es auch zu versuchten Einmischungen Saudi-Arabiens in die personellen Herrschaftskonstellationen Qatars. Saudi-Arabien betrachtet Qatar eigentlich als eine Art abgetrennte Provinz seines Herrschaftsbereiches und beäugt argwöhnisch den rasanten, vor allem dem Erdgas geschuldeten ökonomischen und politischen Aufstieg Qatars.

Wesentlich für die gegenwärtige Konflikteskalation dürfte die Tatsache sein, dass Qatar sich 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings auf die Seite der revoltierenden Massen stellte. Dieses Faktum und die vergleichsweise guten Beziehungen zum regional wiedererstarkten (und in religiöser Hinsicht schiitisch geprägten) Iran dürften wichtige Auslöser der gegenwärtigen Konflikteskalation sein. Es geht hier primär aber nicht um religiöse Auseinandersetzungen, sondern vor allem um ökonomische und politische Machtkämpfe um die Vorherrschaft innerhalb der Region sowie um die Aufrechterhaltung der inneren Stabilität der verschiedenen Regime.

Dies schließt nicht aus, sondern gerade in Regionen mit vormodernen Gesellschaftsstrukturen ein, dass diese Konflikte auch religiös codiert werden. Gerade weil hier die Religion noch nicht, wie in kapitalistisch-bürgerlich durchgeprägten Gesellschaften, in den Überbau verwiesen ist und noch keine substanzielle Trennung von Staat und Religion stattgefunden hat, kommt der Religion, d.h. in diesem Fall dem Islam in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, noch eine wesentlich stärkere Bedeutung im gesellschaftlichen Leben zu. Dies heißt aber nicht, dass die Religion hier allein strukturbestimmend ist, sie wird auch hier durch die geschichtliche Entwicklung entscheidend geprägt und verändert.

Der Konflikt mit Qatar, den die von Saudi-Arabien angeführte Allianz vom Zaun gebrochen hat, kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist letztlich nur aus der historisch entstandenen komplexen Gemengelage im Nahen und Mittleren Osten zu verstehen.

 

Das fragile Erbe von Kolonialismus und Imperialismus

Gerade im Mittleren und Nahen Osten haben wir es mit einer komplexen und ebenso fragilen Konstellation [2] zu tun, in der gerade Kolonialismus und Imperialismus eindeutige historische Spuren hinterlassen haben, wovon in den politischen Debatten hierzulande meistens wohlfeil abstrahiert wird.

  • Der Zerfall von sogenannten Kunst-Staaten wie Irak und Syrien etc. ist zunächst dem kolonialistischen und imperialistischen Erbe geschuldet, insofern die damaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich im Gefolge des Zerfalls des Osmanischen Reiches mit dem Ende des Ersten Weltkrieges künstliche multi-ethnische und multi-religiöse Gebilde durch willkürliche Grenzziehungen schufen, die aufgrund der inneren Widersprüche auf Dauer keine Entwicklungschancen hatten. Hinzu kommt – nach Wegfall der kolonialen Klammer und politischen Selbständigkeit der Staaten – die Unfähigkeit der einzelnen Herrschaftsregime, eine tragfähige Produktivitätsentwicklung und eine breit akzeptierte gesellschaftliche Modernisierung in den jeweiligen Ländern in Gang zu setzen. Stattdessen formierte sich massiver kultureller und politischer Widerstand gegen Modernisierungsbestrebungen – oft auch in religiös verbrämter Form –, worauf die einzelnen Regime mit brutaler Gegengewalt reagierten. Konfliktverschärfend kam hinzu, dass sich das syrische Herrschafts-Regime der Familie Assad wie auch das irakische von Saddam Hussein jeweils aus religiösen Minderheiten in ihren Staaten rekrutierte. Die Spirale wechselseitiger Gewaltausübung kam in Gang und mündete, wie das Beispiel Syrien zeigt, in einen langen Bürgerkrieg.
  • Innere Konflikte bieten zugleich das Einfallstor für Interventionen anderer Staaten zur Durchsetzung eigener ökonomischer und politischer Interessen. Bürgerkriege werden so zu Stellvertreter-Kriegen ausländischer Mächte. Der Nahe und Mittlere Osten wurde vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Zentralfeld geopolitischer Machtkämpfe und geriet voll in den Strudel des West-Ost-Konflikts. Die Region wurde sukzessive von allen Seiten mit Waffen vollgepumpt.
  • Die Situation wird durch die Existenz des Staates Israel und die damit gegebenen Konfliktlinien mit den Palästinensern und arabischen Anrainer-Staaten weiter verkompliziert. Der militärische Sieg Israels im Sechstage-Krieg 1967 und die Besetzung von Gebieten wie des östlichen Teils von Jerusalem, des Westjordanlandes und der Golan-Höhen, haben die Region nicht befriedet. Obwohl die UN-Resolution 242 den Erwerb von Territorien durch Kriege für unzulässig erklärte und Israel zum Abzug aus den besetzten Gebieten aufforderte, reagierte Israel mit der systematischen Besiedlung der besetzten Gebiete. Ein politischer und religiöser Fundamentalismus bestimmt zunehmend das politische Handeln auf israelischer wie auf arabischer Seite.
  • Äußerst fatal auf die Entwicklung der Staaten wirkten sich die verschiedenen militärischen Interventionen der USA und ihrer jeweiligen Verbündeten in Afghanistan, im Irak 2003 und in Libyen aus. Sie führten zu umfassenden Störungen in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen dieser Länder, zu einer Kette humanitärer Katastrophen sowie zum Verfall der (teilweise auch in Ansätzen bereits vorhandenen säkularen) gesamtstaatlichen Strukturen, und als Kehrseite davon zur Aufwertung von Stammesgesellschaften und des Kriegsfürstentums und schließlich auch zur Etablierung des Islamischen Staates (IS).
  • Die Radikalisierung innerhalb des Islam und auch die Entstehung des IS können nur in diesem Gesamtkontext verstanden werden. Sie ist daher als »moderne Form der Reaktion auf Entwurzelung« (Habermas) zu verstehen. Auch wenn das Ende des IS als Staat gekommen ist, sind damit seine Ideologie und der islamistische Terror keineswegs am Ende. Das jihadistische Saatgut ist ausgebracht und bedarf keiner staatlichen Strukturen zum Wachstum.


Wesentlich für die Zukunft der Golfregion sind zwei zentrale Aspekte:

  • Der starke und andauernde Verfall des Ölpreises, der auch reiche Rentierstaaten wie Saudi-Arabien wirtschaftlich erheblich unter Druck setzt.
  • Nach der Implosion der ehemaligen Sowjetunion sind mittlerweile auch die USA in der Rolle der hegemonialen ökonomischen Macht auf dem Weltmarkt und als globaler Ordnungsfaktor unter dem Druck des Desasters der militärischen Interventionen in Afghanistan, im Irak und in Libyen und der ökonomischen Folgen der massiven Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff sowie des wirtschaftlichen Erstarkens neuer globaler Akteure wie China deutlich geschwächt.

 


Rentierstaaten unter Druck: Das Beispiel Saudi-Arabien

Saudi-Arabien blieb lange Zeit von den wirtschaftlichen Störungen und politischen Verwerfungen wie in den failed states Afghanistan, Syrien, Irak, Libyen, Jemen etc. verschont. Der Wohlstand der gesamten Bevölkerung ist ähnlich hoch wie in Qatar.

Allerdings haben die verhaltene globale Nachfrage nach fossiler Energie, bedingt durch sinkende Wachstumsraten der Kapitalakkumulation (säkulare Stagnation) und die Erschließung regenerativer Energien sowie durch den Ausbau des Fracking in den USA, das mittlerweile auch bei einem Rohölpreis von 50-60 Dollar wirtschaftlich noch tragfähig ist, zu einem anhaltenden Verfall des Ölpreises auf dem Weltmarkt geführt. Nach dem Atomabkommen mit dem Iran und dem Abbau der jahrelangen Wirtschaftssanktionen tritt dieser auch wieder als Erdölproduzent auf dem Weltmarkt auf, was ebenfalls Druck auf den Ölpreis erzeugt. Im Ergebnis wurde die frühere Vormachtstellung der OPEC erheblich geschwächt. Allein in 2015 belief sich laut IWF der Verlust der Golfregion in den Öleinnahmen auf über 360 Mrd. US-Dollar. Diese Verluste halten angesichts des konstant niedrigen Ölpreises an.

In Saudi-Arabien liegt auch heute noch der Anteil der Ölexporterlöse am Staatshaushalt bei deutlich über 80%. Aufgrund des stark gesunkenen Ölpreises stehen auch der saudische Wohlfahrtsstaat und der dadurch ermöglichte vergleichsweise »luxuriöse« Lebenswandel der – einheimischen – Bevölkerung (keine Steuern; kostenloser Zugang zu Wasser, Strom, Gesundheits- und Bildungswesen) vor erheblichen Problemen. »Saudi-Arabiens Wirtschaft – ohne Erdöl berechnet – ist erstmals seit 1985 in die Rezession geglitten, weil auch der Staat die riesigen Bauvorhaben zurückfährt, um zu sparen.« (FAZ vom 11.8.2016)

Obwohl gerade Saudi-Arabien die Einnahmen aus dem Öl-Boom von 2003 bis 2013 zu einer Modernisierung der Infrastruktur sowie einer Verbesserung des Bildungswesens (auch mit Ansätzen einer Koedukation in einer Universität) und des Gesundheitswesens genutzt hat, blieb die gesamtgesellschaftliche Arbeitsproduktivität niedrig. Die saudi-arabische Gesellschaft blieb dadurch auch kulturell (einschließlich der nach wie vor stark patriarchal strukturierten Geschlechterverhältnisse) und politisch-religiös weit hinter dem entsprechenden Niveau der kapitalistischen Metropolen zurück. Ein auf kapitalistischer industriell-technologischer Basis generierter gesellschaftlicher Reichtum hat eine ganz andere gesellschafts- und subjektverändernde Qualität als ein aus einer externen Rente sprudelnder Reichtum.

Andererseits steigt aufgrund der hohen Abhängigkeit vom Erdöl und der massiv gesunkenen Erdölerlöse der politische Handlungsbedarf zur ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderung der saudi-arabischen Gesellschaft. Der kürzlich zum Kronprinzen ernannte Sohn des saudischen Königs, Mohammed bin Salman, stellte offen fest: »Heute beruht unsere Verfassung auf dem heiligen Buch und dem Erdöl. Das ist sehr gefährlich. Im Königreich haben wir eine Art Sucht nach dem Öl. Das verhinderte die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche in den vergangenen Jahren.«

Mit der »Vision 2030« soll das Land für die Zeit nach dem Erdöl neu aufgestellt werden. Der auf dieser Vision basierte Plan sieht folgende Reformschwerpunkte vor:

  • Der staatliche Ölkonzern Aramco soll teilprivatisiert werden. Der Erlös fließt in einen Staatsfonds, der internationale Investitionen tätigt und die Erlöse daraus können in Saudi-Arabien reinvestiert werden.
  • Stärkung der Wirtschaftsbereiche, die nicht vom Erdöl abhängen. Als Leuchtturmprojekt für eine sozio-ökonomische und kulturelle Modernisierung soll der Bau von King Abdullah Economic City (KAEC) dienen, eine aus dem Wüstensand gestampfte Großstadt, in der einmal zwei Mio. Menschen leben sollen. Die Grundsteinlegung erfolgte bereits 2005. Neben Wohn- und Bürogebäuden werden als ökonomische Anker ein Gewerbegebiet und ein Tiefsee-Hafen gebaut. Das Potenzial des Marktes um das Rote Meer ist gewaltig, hier werden statt heute 650 Mio. 2050 1,5 Mrd. Menschen leben. Das KAEC-Projekt gilt als weltweit größtes von privatem Kapital getragenes Bauprojekt. Hauptprojektentwickler ist ein Immobilienkonzern aus Dubai.
  • Das Projekt KAEC soll nicht nur der ökonomischen, sondern auch der sozialen und kulturellen Öffnung dienen. Im wirtschaftlichen Bereich soll die traditionelle Arbeitsplatztrennung zwischen den Geschlechtern aufgegeben werden. Geworben wird damit allerdings nicht. Darüber hinaus sollen die Freizeitanlagen Sportanlagen beinhalten, in denen Männer und Frauen gleichermaßen Sport treiben können. Was aus westlicher Sicht kaum noch der Erwähnung wert ist, bedeutet für Saudi-Arabien eine sozial-kulturelle Revolution. Denn in der saudischen Gesellschaft sind die patriarchal-religiösen Strukturen noch so mächtig, dass es für Frauen aller Altersstufen nahezu unmöglich ist, überhaupt Sport zu treiben. So fehlt in den Mädchenschulen jegliche sportliche Infrastruktur. »Die absurde Fixierung der Geistlichen auf das Jungfernhäutchen, das sie durch Herumrennen gefährdet sehen, ist einer der Gründe dafür. Fettleibigkeit und Diabetes sind die Folgen.« [3] Die Mächtigkeit des patriarchal-religiösen Komplexes in Saudi-Arabien gründet darauf, dass hier ökonomische, patriarchale, religiöse und politische Beziehungen noch relativ stark miteinander verquickt sind. Diese massive Rückständigkeit im Geschlechterverhältnis wird auch immer mehr zu einem massiven Hemmnis in der Entwicklung der saudischen Wirtschaft jenseits des Erdöls. So ist an einen forcierten Ausbau Saudi-Arabiens z.B. zu einem Touristenschwerpunkt bei solch restriktiven Bedingungen kaum zu denken. 
  •  Absenkung der großzügigen Subventionen von Wasser, Strom und Benzin für die Reichen, nicht aber für die Mittel- und Unterschicht. Es hat sich herausgestellt, dass 70% der Subventionen den Reichen zugutekommen, obwohl diese sie gar nicht benötigten.
  • Ob KAEC tatsächlich eine Blaupause für eine entschiedene Modernisierung der Gesellschaft abgeben kann, bleibt abzuwarten. Zudem sind nach wie vor die gesellschaftlichen Beharrungskräfte in Form des Wahabismus, jener gegen jegliche Säkularisierungstendenzen gerichteten, puritanistischen Strömung innerhalb des Islam, und in Gestalt des Patriarchats, das noch immer für das gesamte gesellschaftliche Leben in Saudi-Arabien sozio-kulturell prägend ist, sehr mächtig. Die Einnahme der Rolle als regionaler Macht- und Ordnungsfaktor an der Seite der USA, die scharfe Maßregelung Qatars und das Feindbild des schiitisch geprägten regionalen Mitkonkurrenten Iran können diese Widersprüche innerhalb der saudi-arabischen Gesellschaft zwar ein Stückweit übertünchen, bieten zugleich aber gefährliches zusätzliches Konfliktpotenzial.

 

Auftreten neuer regionaler und Comeback alter globaler Akteure

Mit der Globalisierung hat sich die gesamte Weltordnung verändert, was sich auch auf die Konstellationen im Nahen und Mittleren Osten auswirkt. Konkret bedeutet dies:

  • Der Iran nutzte sein ökonomisches und politisches Wiedererstarken außenpolitisch zur massiven Intervention im Syrienkrieg aufseiten des Assad-Regimes mit eigenen Milizen und zur Unterstützung anderer, ebenfalls in Syrien auf Regimeseite kämpfender ausländischer schiitischer Milizen (Hisbollah).
  • Die sukzessive politische Abwendung der Türkei vom Ziel eines EU-Beitrittes und die Hinwendung zur Rolle eines machtvoll agierenden regionalen Akteurs im Nahen und Mittleren Osten ist innenpolitisch über die Etablierung eines autokratischen Regimes durch Erdogan vermittelt. Erdogan stützt sich dabei ideologisch auf eine politisch forcierte Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft (u.a. massive Ausweitung der Moscheen, Rückschritte im Geschlechterkampf und im Umgang mit sexuellen Minderheiten). Der an Säkularismus und westlichen Werten ausgerichtete Kemalismus ist in die Defensive gedrängt. Aktuell geht es Erdogan und der AKP vor allem um die Verhinderung eines selbstständigen Kurdenstaates nicht nur im eigenen Land, sondern auch entsprechender Bestrebungen in den Anrainerstaaten, in denen auch kurdische Minderheiten leben. Dass die Kurden ähnlich wie die Palästinenser über keinen eigenen Staat verfügen, ist ebenfalls dem kolonialistischen Erbe nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches geschuldet. Im Qatar-Konflikt ermächtigte eine Eilentscheidung des türkischen Parlamentes Erdogan dazu, innerhalb kurzer Zeit bis zu 3.000 türkische Soldaten und Kampfflugzeuge zur Unterstützung Qatars in Qatar stationieren zu können.
  • Mit der außenpolitischen Neuorientierung der Türkei und der Distanz zum westlichen Wertesystem werden auch die Risse innerhalb der NATO noch größer. Der Konflikt zwischen Deutschland und der Türkei um den Besuch deutscher Soldaten auf türkischen Militärstützpunkten durch Bundestagsabgeordnete sowie der willkürlichen Verhaftung z.B. des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner erscheinen nur als Vorspiel eines größeren Konfliktes.
  • Das von Obama seinerzeit mit der Einschätzung als Regionalmacht düpierte Russland hat sich mit seiner auch gegenüber der Zivilbevölkerungen äußerst brutalen, aber militärisch erfolgreichen Intervention im syrischen Bürgerkrieg zur Stützung des Machtregimes von Assad zumindest im Nahen und Mittleren Osten als nicht mehr zu exkludierender globaler Macht- und Ordnungsfaktor zurückgemeldet. Russland hat damit nicht nur eigene geopolitische Machtinteressen wirkungsvoll vertreten, sondern kann auch darauf verweisen, den endgültigen Verfall eines Regimes und damit ein weiteres Chaos in der Region zumindest vorerst verhindert zu haben.

 

Trump und die außenpolitischen Folgen

Die innenpolitische Machtverschiebung in den USA durch den Wahlsieg des Rechtspopulisten Trump unterwirft die Außenpolitik der USA verstärkt nationalistisch verstandenen Wirtschaftsinteressen und innenpolitischem Kalkül, und macht diese daher immer weniger berechenbar. Unter Trump versuchen die USA, den tendenziellen Verlust ihrer hegemonialen Vorherrschaft auf dem Weltmarkt wie ihrer Rolle als geopolitischer Ordnungsfaktor durch ein Konkurrenzmodell zu ersetzen. Mit »America first« wird außenpolitisch umgesetzt, dass die Welt keine globale Gemeinschaft, sondern eine Arena ist, in der der Stärkere obsiegt.

Die offene Parteinahme für Saudi-Arabien und seine Verbündeten und die eindeutige Positionierung gegen den Iran illustrieren diesen Paradigmenwechsel in den Außenbeziehungen der USA. Der Mega-Waffendeal mit Saudi-Arabien stärkt massiv dessen Rolle als regionaler Macht- und Ordnungsfaktor an der Seite der USA. Und das dadurch gestärkte Selbstbewusstsein Saudi-Arabiens kommt bereits in der harschen Maßregelung Qatars zum Ausdruck.

Im Endeffekt werden durch den Paradigmenwechsel der US-Außenpolitik weitere Lunten an das Pulverfass Golfregion gelegt. Zudem gibt es in der komplexen und fragilen Gemengelage des gesamten Nahen und Mittleren Ostens diverse autokratische Potentaten und Herrscherfamilien, von denen ein rationales, an langfristigen und gemeinsamen Zielen der Golfregion ausgerichtetes Handeln gerade in eskalierenden Situationen nicht zu erwarten ist. Die Einschätzung von Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, dass die Kriegsgefahr in der Golfregion wachse, ist nicht aus der Luft gegriffen.

Das sowie schon überreichlich vorhandene Konfliktpotenzial und damit letztlich auch die Kriegsgefahr innerhalb der Golfregion werden durch den Wandel in der US-Außenpolitik befeuert.


EU – Was tun?

Angesichts des Paradigmenwechsels in der US-Außenpolitik ist dringend eine einheitliche europäische Außenpolitik auch gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten erforderlich, und zwar mit folgenden politischen Schwerpunkten:

  • absoluter Vorrang der Achtung der grundlegenden Bedürfnisse (Ernährung, Wohnen, medizinische Versorgung, Bildung und Ausbildung) der jeweiligen Bevölkerungen;
  • Verhandlungen als einzige Methode der Konfliktlösung;
  • keine Waffenlieferungen mehr in den Nahen und Mittleren Osten;
  • Schaffung eines Systems vertrauensbildender Maßnahmen;
  • Rückgabe aller durch Kriege besetzten Gebiete;
  • Stärkung der Rolle der UN als der zentralen politischen Instanz der Konfliktlösung;
  • Massive Verstärkung der internationalen Versorgung von Schutzsuchenden. Unter- oder Nichtversorgung von Flüchtlingen infolge fehlender finanzieller Mittel dürfen keine Ursache mehr für weitere Fluchtbewegungen sein.
  • Unterstützung einer nachholenden ökonomischen und sozialen Modernisierung unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und kulturellen Stärken und Ressourcen in den einzelnen Ländern;
  • Längerfristige wirtschaftliche Unterstützung nur bei Akzeptanz von Gewaltlosigkeit innerhalb der verschiedenen multi-ethnischen und multi-religiösen Gebilde im Nahen und Mittleren Osten;
  • faire Lastenteilung innerhalb der EU bei der Bewältigung der Migrationsproblematik; bei nicht-solidarischem Verhalten einzelner EU-Mitglieder schrittweiser Abbau von Subventionen, soweit sie die Einzahlungen dieser Mitglieder übersteigen, und Umleitung der Mittel in die Lastenverteilung;
  • Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes zur Steuerung einer zirkulären Migration in Deutschland und dann auch in der gesamten EU, da, abgesehen von den gegenwärtigen Fluchtbewegungen, eine Befriedung von Konfliktregionen und deren wirtschaftliche Stabilisierung/Entwicklung zwar Migrationsbewegungen beschränken, aber keineswegs automatisch beenden;
  • Abschottung und Mauerbau sind nicht nur inhuman, perspektivlos und gegen die längerfristigen Interessen der Bevölkerungen in den entwickelten Ländern gerichtet, sondern auch politisch enorm gefährlich. Solche Lösungsstrategien befördern die Kriegsgefahr.


[1] Die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft gilt als eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen im Nahen Osten. Deren Vorstellungen von einem politischen Islam werden vor allem von Saudi-Arabien als Konkurrenzmodell zum wahabitischen Islam, der in Saudi-Arabien Staatsreligion ist, und als Bedrohung des dort existierenden monarchistischen Herrschaftsmodells gesehen. Im Zuge des Arabischen Frühlings kam die Muslimbruderschaft 2012 im Rahmen von erstmals in Ägypten durchgeführten demokratischen Wahlen an die Macht. Präsident Mohammed Mursi wurde nach einem Jahr durch einen Militärputsch gestürzt.
[2] Hierzu ausführlich: Steinfeld, Friedrich (2016), Religiöser und politischer Fundamentalismus im Aufwind. Die Sehnsucht nach Identität, insbesondere S. 126-171.
[3] Evi Simeoni, Evi, Frauensport in Saudi-Arabien, Fortschritt im Schneckentempo, in: FAZ vom 18.7.2017.

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