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Den Krieg verlernen
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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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16. März 2016 Martine Aubry u.a.

Die Sackgasse verlassen

Martine Aubry, Ex-Arbeitsministerin der sozialistischen Partei und Initiatorin dieses Aufrufes.

Es gibt Momente, in denen Wahrheiten ans Tageslicht gebracht werden müssen, auch wenn sie unangenehm sind. Zuviel ist Zuviel! Über die seit 2012 praktizierte Politik gibt es genug Gründe der Unzufriedenheit – wir selbst und andere haben sie angemahnt. Seit einigen Monaten sind die Differenzen zu einer großen Beunruhigung geworden. Die Wut der Bevölkerung ist in vier aufeinanderfolgenden Wahlniederlagen gnadenlos zum Ausdruck gekommen.

Wenn es nicht gelingt, den Verfall zu stoppen, in den wir hineingeschliddert sind, zeichnet sich nicht nur das Scheitern der fünfjährigen Amtszeit des Staatspräsidenten ab, sondern zusätzlich eine Schwächung Frankreichs und ganz offensichtlich auch der französischen Linken. Wir ignorieren keineswegs die Erfolge der UN-Klima-Konferenz in Paris oder die Priorität, die dem Kampf gegen die Ungleichheiten in der Schule beigemessen wird, genauso wenig wie die Fortschritte in der Gesundheitsgesetzgebung.

Aber davon abgesehen – nur Rückschritte!


Die Linke hatte schon im Januar 2014 den Pakt mit dem Unternehmerverband ungläubig begleitet, der sich als Bauernfängerei herausstellte, unsere Warnungen wurden aber ignoriert, wir hätten uns gerne getäuscht. Leider musste selbst der Premierminister die vorhersehbare Realität zugeben: Von den versprochenen eine Million neuen Arbeitsplätzen wurden nur einige Zehntausend tatsächlich geschaffen. Zugegeben, die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen musste gefördert werden. Aber dafür hätte man die Hilfen auf jene konzentrieren müssen, die der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind, und sie an präzise Gegenleistungen binden müssen.
Die für nichts oder nur wenig mobilisierten 41 Mrd. Euro wären sehr nützlich gewesen: für die neue Ökonomie, für die Ökologie, für Bildung und Weiterbildung, für die Regionen, für die Beschäftigung von schwer Vermittelbaren, für die Kaufkraft, für private und öffentliche Investitionen und ihre Auftragsbücher. Zu jedem Zeitpunkt und auf vielfachen Wegen haben wir präzise Vorschläge gemacht, um Wachstum und Beschäftigung wieder anzukurbeln, und zwar im Rahmen eines neuen sozialen und ökologischen Modells und einer Neuausrichtung Europas. Treten wir dafür ein!

Dann wurde uns im Winter 2015 die desolate Debatte über den Entzug der Staatsangehörigkeit (nationalité) aufgedrängt. Trotzdem hat sich nach den Attentaten von Januar und November Frankreich im Umfeld des Staatspräsidenten stark und würdig gezeigt. Konfrontiert mit einer terroristischen Bedrohung auf einem bislang nicht gekannten Niveau, haben wir der Erklärung des Notstands und der Verstärkung der Polizeikräfte und der Nachrichtendienste zugestimmt. Der Staatspräsident hat in Versailles [1] den Entzug der Staatsangehörigkeit für Terroristen vorgeschlagen.

Schnell hat jeder von uns die Sackgasse begriffen: Diese für Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft reservierte Maßnahme widerspricht dem Gleichheitsgrundsatz, weil sie – angewendet auf Menschen mit einfacher Staatsangehörigkeit – diese staatenlos macht. Diese Debatte verletzt uns deshalb so sehr, weil sie den Kern unserer Konzeption der französischen Identität berührt. Für die Linke ist die französische Identität republikanisch, sie definiert sich als eine Gemeinschaft des Schicksals, nicht der Herkunft, die sich auf die Werte der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und religiösen Neutralität gründet.

Die von der Nationalversammlung beschlossene Erklärung wurde zwar von Schroffheiten bereinigt, ohne ihre Wirkungen zu beseitigen, mehr noch, sie macht aus dem Entzug der Staatsangehörigkeit einen Straftatbestand. Wenn diese Erklärung in die Hände einer künftigen Regierung mit unlauteren Absichten gerät, kann es nur bergab gehen. Der Gang nach Versailles unter solchen Bedingungen würde einen Riss produzieren – in der Linken, aber auch bei bestimmten Demokraten. Lasst uns den Riss vermeiden! Setzen wir an die Stelle des Entzugs der Staatsangehörigkeit die Strafe des Entzugs der Bürgerrechte (citoyenneté) oder des Entzugs der nationalen Würde (die gesetzlich definiert sein muss) und zwar für Terroristen jedweder Herkunft.

In einer leider sich beschleunigenden Kette von Ereignissen gab es dann letzte Woche den Einschnitt mit den unsäglichen Aussagen von Premier Valls auf der Sicherheitskonferenz in München zur Flüchtlingsfrage. Die Freiheit der Redewendung zu beanspruchen darf nicht alles rechtfertigen. Nein, Angela Merkel ist nicht naiv, Herr Premierminister. Nein, sie hat keinen historischen Irrtum begangen. Nein, sie hat Europa nicht in eine gefährliche Lage gebracht, sie hat es gerettet. Sie hat es vor der Schande gerettet, unsere Grenzen für vor Verfolgung und Tod fliehenden Frauen, Männern und Kindern komplett zu schließen, und all die zu vergessen, die Tag für Tag im Mittelmeer ihr Leben lassen.
Nötig wäre, gegenüber jenen europäischen Ländern entschlossen aufzutreten, die sich mit Blick auf die Flüchtlinge jeglicher Solidarität und Verantwortung entledigen. Frankreich darf nicht dazu gehören. Wenn Frankreich sich auf seine Werte beruft – wie es in seiner Geschichte gezeigt hat, als es die Gegner der Diktaturen aufgenommen hat – ist es ein respektiertes, bewundertes und geliebtes Land. Das verpflichtet die Frauen und Männer, die es regieren. Frankreichs Mission ist nicht, Mauern hochzuziehen, sondern Brücken zu bauen. Ohne die Dimension der Probleme auch nur einen Augenblick zu leugnen, erwarten wir von Frankreich, dass es sich auf die Seite derer stellt, die handeln.

Und jetzt nimmt man sich das Arbeitsgesetzbuch vor. Von den Arbeiterbewegungen hat die Linke gelernt, dass Freiheit ohne Gleichheit nicht existieren kann. Es geht hier nicht um Tabus. Das Recht sperrt nicht ein, es befreit. Es befreit, indem es die Freiheit der Anderen an dem Punkt stoppt, wo die eigene Freiheit beginnt. Es befreit, indem es den Schwächsten die Rechte gibt, die die Beziehungen in den Unternehmen neu austarieren.

Weil dies ignoriert wurde, hat der Gesetzentwurf von Ministerin El Khomri [2] in der gesamten Linken nicht nur Enttäuschung, sondern auch Wut provoziert. Damit wird die gesamte Konstruktion der sozialen Beziehungen unseres Landes zu Fall gebracht, indem die Hierarchie der Normen auf den Kopf gestellt und der Einigung auf Unternehmensebene Vorrang gegeben wird, und dies in einem Land, in dem der gewerkschaftliche Organisationsgrad schwach ist und die Arbeitgeber Verhandlungen noch nie geliebt haben. Die Lohnabhängigen sind damit der permanenten Erpressung und die Unternehmen der Wettbewerbsverzerrung ausgesetzt, wo doch branchebezogene Vereinbarungen die Arbeitsbedingungen für die Unternehmen eines Wirtschaftszweigs vereinheitlichen.

Wem will man wie im Gesetzentwurf glauben machen, man könne die Beschäftigung ausweiten, indem man die Kündigungsmöglichkeiten verbessert, den Spielraum der Arbeitsgerichte über die Bewertung der ökonomischen Motive einschränkt, die Bewertung der ökonomischen Probleme eines multinationalen Konzerns auf die französischen Filialen begrenzt und die von den Arbeitsgerichten anerkannten Entschädigungen bei missbräuchlicher Entlassung auf ein sehr niedriges Niveau absenkt? Den Schutz der Lohnabhängigen vor Entlassung zu reduzieren führt unvermeidlich zu mehr Entlassungen!

Wer kann sich vorstellen, die Beschäftigungssituation in Frankreich zu verbessern, indem man die Möglichkeiten ausweitet, die Zuschläge für Überstunden zu streichen, die Arbeitszeit auf drei Jahre zu berechnen, das Entgelt in den Klein- und Mittelbetrieben zu pauschalisieren und die Branchenvereinbarung über Zuschläge zu umgehen? Wer will glauben machen, durch Ausdehnung der Arbeitszeit ließe sich die Arbeitslosigkeit verringern? Weniger Kaufkraft für die Lohnabhängigen, weniger Einstellung von Arbeitslosen bei Ausdehnung der Arbeitszeit: Will man dies in einem Land, das über mehr als 3,5 Mio. Arbeitslosen klagt und dessen Unternehmen unter zu dünnen Auftragsbüchern leiden? Dass die organisierte Unternehmerschaft solche Forderungen stellt, warum nicht (obwohl wir von den Unternehmen vor Ort anderes hören)? Aber dass sie zu Gesetzen der Republik werden, geht gar nicht. Nicht mit uns, nicht mit der Linken!

Sicherlich, wie jedes Regelwerk muss die Arbeitsgesetzgebung mit Blick auf die Veränderungen in der Welt weiterentwickelt werden, allerdings ohne ihre Schutzfunktion zu schwächen. Die Linke muss große Reformen auf die Tagesordnung setzen, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den sozialen Fortschritt der Lohnabhängigen fördern, wie z.B. die berufsbezogene Sozialversicherung [3]  – Reformen, durch die im 21. Jahrhundert jeder einen Neuanfang beginnen und sich während seines beruflichen Lebens weiterentwickeln kann, ohne den Pfad der Arbeitslosigkeit zu betreten.

Und sprechen wir es aus, weil die Methode nicht mehr hinnehmbar ist: Man hantiert mit der Drohung des Artikels 49-3. [4] Und dann sollen die Abgeordneten, die das Gesetz ablehnen, ihr Misstrauen aussprechen? Das ist alles unsinnig. Ein ohne Parlament regiertes Frankreich ist schlecht regiert, dann ist die Demokratie betroffen. Geben wir in Respekt vor der Verfassung dem Parlament seine ganze Macht zurück. Die von einem Parlament zu beschließenden Gesetze sind besser und ihre Legitimität ist gestärkt.

Die Werte, der soziale Anspruch, die allgemeinen Menschenrechte, das Gleichgewicht der Macht: Was bleibt von des Idealen des Sozialismus, wenn man tagtäglich seine Prinzipien und Grundlagen aushöhlt? Wir übersehen nicht die aktuellen Schwierigkeiten, die ökonomische Krise, die Zunahme des Terrorismus, die Klimaerwärmung, die Wanderungsbewegungen, die Agrarkrise. Wir verkennen nicht die Schwierigkeiten der Machtausübung, das haben wir unter Beweis gestellt. Seit Jaurés akzeptieren wir die Distanz zwischen dem Ideal und der Realität.

Aber die Welt so zu nehmen, wie sie ist, bedeutet weder den Verzicht, sie zu verändern und sie beständig dem anzunähern, wie sie sein müsste, noch, sie immer weiter von jeder Idee der Gerechtigkeit zu entfernen. Genau das passiert aber zurzeit. Es reicht nicht, den sozialen Reformismus in Anspruch zu nehmen, nur um sich den Titel anzueignen. Seit zwei Jahren gibt es in zahlreichen Politikfeldern weder wirkliche Reformen noch wirkliche soziale Politik. Man findet dort Vorschläge aus dem gegnerischen Lager, die nichts Modernes haben und die ineffizient sind. Und weil man vom Schwur von Versailles spricht: Erinnern wir uns an den – wiederum schlecht umgesetzten – Schwur von Bourget, [5] der die Legitimität begründet, auf der seit 2012 die Macht ausgeübt wird.

Um aus der Sackgasse herauszukommen, brauchen wir wirkliche Reformen, die für ökonomischen, sozialen, ökologischen und demokratischen Fortschritt stehen. Sie müssen Träger von Emanzipation für jeden und des Zusammenlebens aller sein. Das ist der Weg, den wir wiederfinden müssen! Der Weg der Linken eben!

 

Der Aufruf mit dem Titel »Sortir der l’impasse« wurde von der früheren Arbeitsministerin der sozialistischen Partei, Martine Aubry, initiiert und am 24.2.2016 in der Tageszeitung Libération veröffentlicht (siehe: sortirdelimpasse.fr/2016/02/23/sdfggsdfg/ sowie: www.liberation.fr/france/2016/02/24/sortir-de-l-impasse_1435487, AdÜ). Die Übersetzung stammt von Horst Arenz.

[1] Am 16.11.2015 hielt Hollande als Reaktion auf die November-Attentate vor dem in Versailles zum Kongress versammelten Parlament eine Rede. Die Rede eröffnete er mit den Worten »Frankreich ist im Krieg«. (A.d.Ü)
[2] Der Gesetzentwurf sieht insbesondere die Lockerung der 35-Stunden-Woche und des Kündigungsschutzes sowie die Stärkung der Belegschaften zulasten der Gewerkschaften vor (A.d.Ü.: Siehe hierzu Bernhard Sander: Radikalumbau des Arbeitnehmerstatus, www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/radikalumbau-des-arbeitnehmerstatus/).

[3] franz. »sécurité sociale professionelle«. Diese u.a. von der CGT unterstützte Forderung zielt im Kern auf eine dauerhafte Absicherung der sozialen Rechte als Arbeitnehmer über die Phasen von Arbeitslosigkeit und Beschäftigungslosigkeit hinweg (A.d.Ü).
[4] Der Artikel der französischen Verfassung erlaubt der Regierung, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament unter der Bedingung in Kraft treten zu lassen, dass sie sich einem Misstrauensvotum stellt. Um das »loi Macron« durchzubringen, in dem es u.a. um längere Ladenöffnungszeiten und die Ausweitung von Sonntags- und Nachtarbeit ging, hatte Premier Macron zu diesem Mittel gegriffen, da angesichts des Widerstands des linken Flügels der Sozialisten eine Mehrheit fraglich war. (A.d.Ü)

[5] 2012 hielt Hollande in Le Bourget die erste und wichtigste Rede seines 
Wahlkampfes, die auf große Begeisterung stieß. Die darin angekündigten Reformen wurden allerdings durchweg nicht umgesetzt.

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