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22. Juli 2015 Leo Panitch: Das Scheitern alternativer Wirtschaftspolitik in Europa

Ein Menetekel wird Wirklichkeit

Viele Jahrzehnte lang war bei der gesellschaftlichen und politischen Linken die Ansicht weit verbreitet, dass es sich bei dem europäischen Kapitalismus um eine prononcierte Variante des Kapitalismus handelt, die positiv dem anglo-amerikanischen Kapitalismus mit dessen stärkerer Orientierung auf den »freien Markt« gegenüber gestellt werden konnte.

Die Arbeiterbewegungen in Mittel- und Nordeuropa wurden in der Regel als die entscheidende Kraft dafür gesehen, dass das Engagement des Staats in der Wirtschaft größer war, dass es eine stärkere Kooperation des Kapitals mit den Gewerkschaften gab und dass der Sozialstaat und die Arbeitsmarktregelungen von mehr Gleichheit geprägt waren.

Die Herausbildung der Europäischen Union fügte dem Kapitalismus europäischer Prägung eine weitere attraktive Dimension hinzu, vor allem aus der Sicht von Internationalisten. In jeder Phase seiner Entwicklung galt als rückständig, beim europäischen »Projekt« nicht mit dabei zu sein oder ihm gar den Rücken zu kehren, und viele sahen in der aktiven Beteiligung an seinen Institutionen das entscheidende Terrain für das Engagement seitens der Linken.

Die extreme Austeritätspolitik europäischer Staaten seit 2009, die zu den hartnäckig fortbestehenden Nachwirkungen der ersten globalen Großen Krise des 21. Jahrhunderts beigetragen hat, hatte die Illusionen der Linken über Europa bereits weitgehend zerplatzen lassen. Mit dem dramatischen Ende der von Syriza verfolgten Strategie in Griechenland scheint nun das Schlusskapitel des Auflösungsprozesses linker Illusionen geschrieben worden zu sein.

Die ersten Vorzeichen für diese Entwicklung zeigten sich schon, als die europäische Linke nach einem Ausweg aus der globalen kapitalistischen Krise der 1970er Jahre suchte. So etwa beim programme commun, dem Gemeinsamen Regierungsprogramm,[1] zu dem sich in Frankreich die sozialistische und kommunistische Partei zusammengerauft hatten. Das programme commun stand quer zum Neoliberalismus, der in den Römischen Verträgen mit ihren Ambitionen für freien Handel und freie Kapitalströme in Europa implizit enthalten war.

Die Umsetzung der keynesianischen Wirtschaftspolitik des programme commun nach der Wahl François Mitterrands zum französischen Staatspräsidenten ab Mai 1981 führte zu einer massiven Kapitalflucht aus Frankreich angesichts der monetaristischen Wirtschaftspolitik in der BRD und in den USA. Es war dann der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt, der François Mitterrand zu seiner berühmt-berüchtigten Kehrtwende zwang, indem er ihm klar machte, dass er Kapitalverkehrskontrollen nur haben könne, wenn er sich vom Projekt Europa verabschieden würde. Die Wurzeln der willkürlichen Begrenzung des Haushaltsdefizits auf 3% im heutigen Europäischen Stabilitätspakt gehen zurück auf diese erste Schuldenbremse, die Mitterrands erster Regierung mit Ministerpräsident Mauroy in den frühen 1980er Jahren aufgezwungen wurde.


Ein gemeinsamer europäischer Markt?

Viele Mitglieder jener Strömung der britischen Labour Party, die sich seinerzeit um Tony Benn gruppierte, votierten beim Referendum über den Verbleib Großbritanniens im Gemeinsamen Markt Mitte 1975[2] für den Austritt. Aber nicht, weil sie etwa engstirnige britische Nationalisten waren, sondern weil ihnen klar geworden war, dass mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft 1973 ihrer Alternativen Wirtschaftsstrategie enge Grenzen gesetzt worden waren.[3] Die ablehnende Haltung gegenüber einem EG-Beitritt seitens der Linken in der schwedischen Arbeiterbewegung hatte denselben Hintergrund: Sie sahen ihre weitreichenden Vorschläge für einen Arbeitnehmerfonds in Gefahr.[4]

Diejenigen, die später die Verabschiedung einer Sozialcharta in den Mittelpunkt der Wirtschafts- und Währungsunion rücken wollten, wurden im Laufe der Etablierung des Euro als gemeinsamer Währung durchweg enttäuscht. Die europäischen Linksparteien, die im Europäischen Parlament mit der Partei DIE LINKE an der Spitze das gesamte Spektrum links des Blocks der Sozialdemokratischen Parteien repräsentieren, legten oberste Priorität auf die Vollendung der Wirtschaftsunion durch eine politische Union, wodurch neben der Geldpolitik auch die Steuer- und Sozialpolitik vereinheitlicht worden wäre. Dies hätte, vor allem in den kleineren Ländern, effektiv eher weniger als mehr Spielraum für das Austarieren der Klassenkräfte eines jeden einzelnen Landes gelassen.

Es ist sehr bezeichnend, dass so viele Linke, die dem Neoliberalismus entgegengetreten sind – angefangen von jenen, die das Erbe des Keynesianismus hochhalten bis zu jenen, die die Tradition des revolutionären Internationalismus fortführen – jetzt einen Grexit unterstützen und mit voller Breitseite Syrizas Parteispitzen dafür kritisieren, nicht auf einen Grexit vorbereitet gewesen zu sein. Man fragt sich schon, was in deren Köpfen vorging, als sie Alexis Tsipras im letzten Jahr als dem Spitzenkandidaten der Europäischen Linken bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zujubelten.

In Gesprächen mit der Parteileitung und mit Aktivisten von Syriza haben wir deutlich zu machen versucht, dass nicht nur die Europäische Währungsunion, sondern auch die EU selbst den Neoliberalismus in ihrer DNA hat. Dennoch wurden wir immer wieder mit bohrenden Fragen konfrontiert, die weder Antarsya außerhalb der Partei noch die Linke Plattform innerhalb der Partei beantworten konnten.

Wie stark würde die Betonung der Perspektive eines Grexits das Wahlverhalten der griechischen Wählerinnen und Wähler negativ beeinflussen bei ihrem Votum für Syriza mit ihrem Wahlversprechen, eine Regierung zu bilden, um die wirtschaftlichen Grausamkeiten in Griechenland zu stoppen, ohne Europa zu verlassen? Und wie stark basierte das Unbehagen der Wähler gegenüber einem Grexit auf der Überlegung, dass Griechenland auf Grund des internationalen Kräfteverhältnisses wirtschaftlich und politisch isoliert würde oder gar in Abhängigkeit von Regierungen geraten würde, die noch unangenehmer als die europäischen wären. Zu diesen Fragen kam dann noch dazu die kulturelle, emotionale, ja psychologische Verbundenheit mit Europa – sowohl bei großen Teilen von Syriza und als auch bei ihrer politischen Basis.

Es war immer klar, dass ein auschlaggebender Teil der Syriza-Führung nie weiter gehen würde, als es die Europäer zulassen würden, und dass sie auch glaubten, dass ihre Wähler das von ihnen auch so erwarteten. Andere Teile der Partei, neben der Linken Plattform, hatten Vorbehalte gegen diese Position und waren offen für einen Plan B, hatten aber kapiert, dass die politischen Voraussetzungen dafür erst hätten geschaffen werden müssen.

Das erforderte nicht nur, ihre Anhänger von der Notwendigkeit zu überzeugen, sondern auch die Entwicklung von Fähigkeiten, sich an der wirtschaftlichen Umstellung und Umstrukturierung der Lebensweisen zu beteiligen, um den Grexit adäquat bewerkstelligen zu können. Das wäre nur möglich gewesen, wenn der Plan B publik gemacht worden wäre. Das hätte jedoch die Aussicht eines kurzfristigen Wahlsiegs Syrizas untergraben und damit die Möglichkeit verbaut, eine Regierung mit dem Ziel zu bilden, die wirtschaftlichen Grausamkeiten in Griechenland zu stoppen, ohne Europa zu verlassen.


Februar bis Juni: Eine scheintotes Land

Nicht nur die Partei, sondern auch die sozialen Bewegungen verharrten von Februar bis Juni in einem Zustand des Scheintods – alle warteten auf den Ausgang der Verhandlungen. Das war nicht von oben angeordnet. Ein Minister mit wichtigem Ressort äußerte mir privat gegenüber seine Enttäuschung darüber, dass die sozialen Bewegungen, von denen er erwartet hatte, sie würden ihm Feuer unterm Hintern machen, weitgehend inaktiv blieben.

In der politischen Resolution, die im Sommer 2013 bei der Neugründung von Syriza verabschiedet worden war, heißt es, dass die Partei kein Fahrstuhl für die Erlangung von Staatsämtern ist, sondern ein Aktivierungstool für die »unterschiedlichen, mehrdimensionalen subversiven Basisbewegungen«, ohne die der Staat bei der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation nicht viel erreichen würde.

Dass es kaum spontane Aktivitäten dieser Bewegungen gab, mag einigen Regierungsmitgliedern zupass gekommen sein. Aber für viele war das beunruhigend. Daher blieben doch etliche befähigte Leitungsmitglieder von sich aus in der Parteileitung und wechselten nicht in Regierungsämter, um diese Aktivitäten voranzutreiben. Dass das nur unzureichend gelang, lag nicht nur daran, dass große Teile der Parteileitung an den Verhandlungen mit den Institutionen beteiligt waren, sondern auch am Mangel an Kapazitäten bei den Syriza-Aktivisten, kreative Pläne von unten zu entwickeln, auf die der Staat hätte reagieren müssen.

Von Beginn an drehten sich die Verhandlungen mit den Institutionen nur um die Bedingungen der neoliberalen Austerität. Die Härte dieser Bedingungen, die den Verhandlungsrahmen definierten, ergab sich schon allein aus der Natur der EU. Je länger sie sich hinzogen, desto mehr wurde der griechischen Wirtschaft die Luft abgeschnitten, und desto deutlicher wurde es, dass dies nur in einer politischen Krise enden konnte.

Die Klimax war erreicht, als die Regierung die fälligen IWF-Kredite im Juni nicht zurückzahlte und als ihr letztes Verhandlungsangebot, dass selbst harte Austeritätsmaßnahmen vorsah, um die Blockade der Verhandlungen zu durchbrechen, von den Institutionen zurückgewiesen wurde, und als die von der EZB zur Verfügung gestellte Mindestliquidität für die Banken eingefroren wurde. Das Referendum wurde auf den Weg gebracht, um den Nachweis zu liefern, dass die von Syriza geführte Regierung von den Bürgerinnen und Bürgern massiv unterstützt wird, und zwar sowohl bei ihrer Forderung, die Finanzmittel freizugeben, über die gemäß den Vereinbarungen der Vorgängerregierungen mit der Troika Griechenland hätte verfügen dürfen, als auch für ihren eigenen Verhandlungsrahmen einschließlich der Maßnahmen zur Haushaltsdisziplin und der Strukturreformen.

Die demobilisierten Bewegungen wurden in der Referendumskampagne wieder aktiv und in einer atemberaubenden Weise zeigte sich die starke Politisierung der griechischen Gesellschaft. Das OXI war vor allem bemerkenswert vor dem Hintergrund der von den Medien betriebenen Panikmache, der wirtschaftlichen Erpressung und der schwierigen Probleme auf Grund der Bankenschließungen und der Kapitalverkehrskontrollen, die der Regierung aufgezwungen worden waren.

Jedoch – und das hat Marx schon vor langer Zeit gezeigt – ist ein Referendum, in dem die Wähler ihre Unterstützung für Staatslenker zum Ausdruck bringen, kein sicherer Indikator für die Richtung der Politisierung. Die Alternative JA oder NEIN schränkt politische Vermittlungen stark ein. Was sich wirklich hinter der politischen Unterstützung verbirgt, bleibt notgedrungen unklar.

Aber wenn man von der Fragestellung des Referendums ausgeht, dann kann das überwältigende OXI nur als Billigung für Tsipras Argumentation interpretiert werden, dass sein letzter Verhandlungsvorschlag von den Institutionen abgelehnt worden war, weil darin – wenn auch nur geringfügig – die Belastungen durch die Austeritätspolitik auf die Klassen anders verteilt wurden.

Das wiederholte Versprechen seitens Syriza, dass dies nicht zu einem Bruch mit der Eurozone führen würde, und die Bekanntgabe neuer detaillierter Zusagen seitens der Regierung, weitere Sektoren der griechischen Wirtschaft zu öffnen, um den EU-Forderungen von Handelsfreiheit und Wettbewerbsfähigkeit nachzukommen, zielten deutlich darauf ab, die massive Propaganda zu durchbrechen und die verbreiteten Bedenken zu entkräften, dass beim Referendum auch die Mitgliedschaft in der EU zur Abstimmung gestellt sei.

Nach der massiven Niederlage des JA-Lagers und dem Rücktritt des Oppositionsführers Samaras unterstützten dann die Parteien der Mitte zusammen mit Syriza den Verhandlungsrahmen, den die Institutionen zuvor abgelehnt hatten, und verbanden das mit einer Unterstützung der Position von Syriza. Das hieß, dass sie jetzt alle – nachdem das 2. Hilfsprogramm ausgelaufen war – die Bindung der restriktiven Finanzpolitik und der Strukturreformen an eine substanzielle Schuldenrestrukturierung und an einen Fonds für Investitionen als Verhandlungsgrundlage für ein neues über drei Jahre laufendes Programms unterstützten. Die Verhandlungen hierüber waren zuvor erst für den Herbst vorgesehen gewesen, was für Syriza den ganzen Sommer lang die Gefahr einer politischen Krise bedeutet hätte.

Die Hoffnung, dass das Verhandlungsziel hätte durchgesetzt werden können, verstärkte sich durch Hinweise, dass die US-Regierung sowohl auf den IWF als auch auf die Regierung Merkel Druck ausübte. Die Hoffnung wurde auch genährt durch Signale vom IWF, dass für das neue Drei-Jahres-Abkommen eine signifikante Schuldenrestrukturierung von Bedeutung sei. Andererseits wurde mit Wolfgang Schäubles Entscheidung, einen Grexit zu erzwingen zu versuchen, ein weiteres Mal deutlich, was schon immer die Hauptbedingung Deutschlands für die Gemeinschaftswährung war: Die EZB hat wie die Bundesbank zu handeln, und der Euro muss die deutschen Exporte auf Basis derselben Geldwertstabilität erleichtern wie in Zeiten der D-Mark.

Die Europäische Wirtschaftsunion war aber immer auch die materielle Grundlage für die NATO in Europa und für die besondere Sicherheitszusammenarbeit zwischen den kapitalistischen Staaten Europas und dem amerikanischen Empire. Die ungelöste Problematik, das oligarchisch-kapitalistische Russland in dieses System stabil einzubinden, ist der Hintergrund für die EU-Erweiterung bis an die Grenzen Russlands. Eine Schlüsselfrage während der Verhandlungen war in der Tat, welche Behörde der US-Regierung die Koordinierung im Umgang mit dem griechischen Problem übernehmen würde – das US-Finanzministerium oder die CIA. In äußerster Alarmbereitschaft waren beide, die Auseinandersetzung wurde zwischen ihnen mit höchstem Einsatz geführt.

Der Verhandlungsrahmen, den Alexis Tsipras und der neu ernannte Finanzminister Euclid Tsakalotos[5] zu den Verhandlungen am zweiten Juli-Wochenende in der Tasche hatten und der vom griechischen Parlament gebilligt worden war, unterschied sich nicht allzu sehr von dem Vorreferendums-Vorschlag vom 23. Juni, der von den Institution zurückgewiesen worden war. Sie schöpften Mut aus der Tatsache, dass die Verhandlungen nun über ein neues, auf drei Jahre angelegtes Abkommen geführt werden sollten und dass es nicht mehr wie beim 2. Hilfsprogramm um die tröpfchenweise Zuteilung von Finanzmitteln gehen sollte, womit sie von Februar bis Juni stranguliert worden waren. Bei den europäischen Gesprächspartnern zeigte sich jetzt ein Riss in der Frage, ob man Tsipras entgegenkommen sollte oder nicht.

Aber die bitteren Verhandlungen während des Wochenendes bis zum frühen Montagmorgen drehten sich vor allem darum, ob Schäuble den Grexit forcieren würde. Es ging nicht mehr um die Frage, ob Tsipras vielleicht bessere Bedingungen bekommen würde, sondern die Spaltung der Gesprächspartner lag darin, ob man Schäubles Vorschlag, die Griechen rauszuekeln, unterstützen oder ablehnen sollte.[6]

Die Spaltung konnte nur überbrückt werden durch Demütigungen und durch eine grobe Sprache, die den Duft der Strukturanpassungsprogramme der 1980er Jahre versprühte – mit all ihren Maßnahmen zur Beaufsichtigung durch imperialistische Buchprüfer, nur eben noch dadurch multipliziert, dass sie in den europäischen Regulierungsmechanismus eingezwängt sind.

Im Hinblick auf die tatsächliche Härte der Budgetbeschränkungen, auf den Umfang der Strukturreformen und auf die Öffnung des griechischen Markt fürs Auslandskapital sind die Unterschiede zum Vorreferendums-Vorschlag nicht einmal so gravierend, und selbst Syrizas rote Linie beim Arbeits- und Tarifrecht wurde nicht überschritten. Aber die Konditionen für einen möglichen Schuldenerlass und für eventuelle Mittel für den Fonds für öffentliche Investitionen während der dreijährigen Laufzeit des Abkommens sind alptraumhaft hart.


Bruch mit dem Kapitalismus?

Meine erste Korrespondenz hatte ich abgeschlossen, als die Verhandlungen gerade begonnen hatten. Aber sie endete mit folgender Bemerkung: Wenn Tsipras in den Verhandlungen die Auflagen akzeptieren muss, die er dann am Montag in der Frühe unterzeichnet hat, dann würde das für die gesamte Linke bedeuten, von neuem einen schmerzlich-schonungslosen Blick zu werfen auf die Möglichkeiten und die Implikationen eines Bruchs mit dem Kapitalismus beim »schwächsten Kettenglied«.

Lenin hat nicht wissen können, dass die Revolution in Deutschland scheitern würde, als er diese stehende Redewendung prägte. Aber diejenigen, die sich auf sein revolutionäres Erbe berufen und die Parteiführung von Syriza so lauthals verdammen, dass sie an besagtem Wochenende nicht den Bruch gewählt haben, müssten eigentlich wissen, dass weder in Deutschland noch in Mittel- oder Nordeuropa in absehbarer Zeit für solch einen Bruch eine Aussicht besteht.

Diejenigen von uns, die sich mit den Genossinnen und Genossen von Syriza schon vor den Wahlen im Jahr 2012 über Vorbereitungen für solch einen Bruch beraten hatten, hatten nie in Abrede stellen können, dass die Isolation, in der sie geraten würden, die Gefahr mit sich bringen würde für noch weitaus größere ökonomische Leiden – und zwar für keinen kurzen Zeitraum – als jene, denen die Griechinnen und Griechen schon unterworfen waren.[7]

Wir konnten nie leugnen, dass schon allein die Rede von einer Verstaatlichung der Banken und ihrer Reorganisierung im Rahmen einer neuen Währung, ganz abgesehen vom Stillstand des Wirtschaftslebens während der Übergangszeit, neue Schwarzmärkten aufblühen lassen würde, angeheizt durch die unvermeidliche Rationierung vieler Güter, die ebenfalls bei einem Grexit erforderlich wäre.

In einer Gesellschaft, die bereits von einer sehr großen Schattenwirtschaft geprägt ist, und in einem Staat, in dem der Klientelismus tief verwurzelt ist, würde ein Grexit die Korruption auf eine Höhe katapultieren, die selbst Griechenland bisher noch nicht gekannt hatte. Und außerdem: Hätten die mehr als 400 Solidaritätsnetzwerke, die im Zuge der Krise entstanden sind, trotz ihrer vielen Vorschläge und ihres großen Einfallsreichtums wirklich schnell genug weiter entwickelt werden können und hätte man auf sie bei der Veränderung von Produktions- und Konsummustern schon jetzt so weit setzen können, dass die beschriebenen negativen Entwicklungen durch sie auf einer ausreichend großen Skala hätten ausgeglichen werden können?

Die Frustration, die Niedergeschlagenheit und die Wut der Menschen, die voller Stolz und Entschlossenheit OXI gestimmt haben, sind in Athen heute spürbar. Es besteht die reale Gefahr, dass die Partei sich spaltet und dass ein Teil der Parteiführung die Partei hinter sich lässt und – erinnern wir uns an Ramsay Macdonalds Labour-Regierung in Großbritannien im Jahr 1931 – mit den bürgerlichen Eliten eine Regierung der nationalen Einheit bildet.

Andererseits, würde Tsipras heute zum Grexit aufrufen, könnte es am Ende eine kleine Mehrheit der Bevölkerung sein, die positiv darauf reagieren würde. Zumindest gäbe es, wie mir ein gut informierter Politikwissenschaftler, der von Anfang an bei Synaspismos und Syriza mit dabei war, gerade versicherte, eine Million Menschen, die jetzt Tsipras Namen auf dem Syntagmaplatz skandieren würden. Zumindest das steht der immerhin nicht unbegründeten Besorgnis entgegen, die faschistische Partei Goldene Morgenröte könne der Nutznießer dieses Endspiels sein, wenn sein Ausgang denn der Grexit wäre.

Es gibt noch Hoffnung, dass die Einheit von Syriza irgendwie gewahrt werden kann, dass keine Regierung der nationalen Einheit gebildet wird, und dass ein ganz anderer Plan B jetzt noch auf den Weg gebracht werden kann, entweder im Rahmen des neuen Abkommens, oder selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass Tsipras der Ablehnung des Abkommens durch das Zentralkomitee folgen sollte.

Die Hoffnung beruht auf Tsipras konsequentem, die unterschiedliche Lage der Klassen berücksichtigenden Diskurs, den er auch bei seiner Rückkehr nach Athen beibehielt, als er versprach, die Oligarchen würden die Hauptlast zu tragen haben. Aber das würde einschließen, so viele Ressourcen von Staat und Partei wie möglich auf die Planung und den Aufbau ökonomischer und gesellschaftlicher Alternativen zu orientieren – und auf die notwendigen Transformationen im Staatsapparat, die notwendig sind, um diese Alternativen zu unterstützen.

Einige mögen sich noch an Visionen berauschen, welche Hilfestellung Russland oder China oder andere kapitalistische Länder, die sich nicht vollständig in den Fängen der amerikanischen und europäischen Agenten des kapitalistischen Empire befinden, der von Syriza geführten Regierung leisten könnten, wenn sie zum Grexit gezwungen wäre. Es wäre aber besser, wenn Möchtegern-Revolutionäre, die zum Bruch mit dem Kapitalismus beim schwächsten Kettenglied rufen, ihre Fähigkeiten zur Geltung bringen würden, um zumindest dort, wo sie zu Hause sind, das Gleichgewicht der Kräfte zu verschieben.

Leo Panitch ist Mitherausgeber des Jahrbuchs der internationalen Linken Socialist Register und Distinguished Research Professor an der York University in Toronto, Kanada. Letzte Buchveröffentlichung (mit Sam Gindin): The Making of Global Capitalism: The Political Economy of American Empire (Verso). Zurzeit hält er sich in Athen auf. Vgl. auch seine frühere Korrespondenz aus Athen auf diesen Seiten. Diese weitere, hier leicht gekürzte Korrespondenz erschien unter dem Titel The Denouement zuerst am 15. Juli 2015 als E-Bulletin No. 1143 auf der Website von socialist project. Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Hinrich Kuhls.

[1] Das Gemeinsame Regierungsprogramm war ein Reformprogramm, das im Juni 1972 von PS, PCF und dem Mouvement des Radicaux de gauche (MRG) vereinbart worden war. Nach der Wahl François Mitterands zum französischen Staatspräsidenten im Mai 1981 wurde es zunächst zur Richtschnur französischen Regierungshandelns. Die Koalition von PS und PCF zerbrach 1984. Siehe auch u.a.: Parti Communiste Français/Parti Socialiste Unifié (1972): Gemeinsames Regierungsprogramm der Französischen Kommunistischen Partei und der Sozialistischen Partei vom 27. Juni 1972. Frankfurt a. M. 1972: Verlag Marxistische Blätter; Chevènement, Jean-Pierre/Charzat, Michel/Toutain, Ghislaine: CERES – Strategie für den Sozialismus. Aus dem Französischen von Alex Demirović. Hamburg, Berlin 1977: VSA: Verlag (Reihe Positionen der Sozialisten, 1); Autorenkollektiv: Sozialismus à la française: Der Anfang vom Ende. Zum Bruch der Linksunion in Frankreich. In: Sozialismus Heft 9-1984 (September, Jg. 10, Nr. 60), S. 14–25.
[2] Die im Mai 1974 ins Amt gewählte Labour-Regierung mit Ministerpräsident Harold Wilson erreichte in Nachverhandlungen (der Beitritt des UK zur EG erfolgte 1973) eine Reduzierung der Beitrittszahlungen. In diesem Zusammenhang fand am 5. Juni 1975 ein Referendum über den Verbleib in der EU statt. Für den Verbleib stimmten 67,2 %, dagegen 32,8%.
[3] Zur Alternative Economic Strategy und zur politischen Strategie der Labour-Linken siehe u.a. Aaronovitch, Sam: The Road from Thatcherism. The Alternative Economic Strategy. London 1981: Lawrence & Wishart.; Benn, Tony/Hobsbawm, Eric: Tony Benn – an interview with Eric Hobsbawm. In: Martin Jacques und Francis Mulhern (eds.): The Forward March of Labour Halted? London: Verso in association with Marxism Today, S. 75–99 (auf Deutsch erschienen als: Benn, Tony/Hobsbawm, Eric (1980): »Unsere Politik muss viel radikaler sein, sonst sind wir am Ende«. Das Erbe der Labour Party. Tony Benn im Gespräch mit Eric Hobsbawm [15. Juli 1980]. In: Sozialismus Heft 6-1980 (November, 6. Jg., Nr. 32), S. 1-11; Benn, Tony (1989): Labour und die sozialistische Bewegung. Diskussion mit Tony Benn (Interview Richard Detje und Ulrich Meditsch). In: Sozialismus Heft 4-1989 (April, 15. Jh., Nr. 111), S. 34–37. Aus der Labour Party kam auch der Impuls für ein europäisches Projekt alternativer Wirtschaftspolitik: Forum for International Political and Social Economy (IPSE): Out of Crisis. A Project for European Recovery. Edited by Stuart Holland. Nottingham 1983: Spokesman. Vgl. hierzu die aktuelle Intervention von Stuart Holland als Mitautor: Varoufakis, Yanis/Holland, Stuart/Galbraith, James K.: A Modest Proposal for Resolving the Eurozone Crisis. Version 4.0, July 2013 (deutsche Fassung: Varoufakis, Yanis/Holland, Stuart/Galbraith, James K.: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. München 2015: Kunstmann.
[4] Vgl. hierzu zusammenfassend Sjöberg, Stefan: Kollektivfonds als eine Strategie für die Wirtschaftsdemokratie. Lehren aus der Geschichte der schwedischen »Arbeitnehmerfonds« für die Zukunft. In: Sozialismus Heft 5-2004 (Mai, 31. Jg., Nr. 277), S. 27-36.
[5] Zur Analyse der Krisensituation und Antikrisenpolitik in Griechenland bis Ende 2012 vgl. Tsakalotos, Euclid/Laskos, Christos (2012): Crucible of Resistance. Greece, the Eurozone and the World Economic Crisis. London 2013: Pluto Press. [Print und E-Book].
[6] Vgl. hierzu den Beitrag von Joachim Bischoff und Björn Radke: Schäuble und die Strategie des Grexit vom 18.7. 2015 auf dieser Website. Außerdem zu den Bedingungen der Fortsetzung des Syriza-Projekts: Bischoff, Joachim/Radke: Kann das Syriza-Projekt für Griechenland fortgeführt werden? In: Sozialismus Heft 7/8-2015 (Juli-August, 42. Jg., Nr. 398), S. 18-25.
[7] Zur Diskussion eines Grexits im Jahre 2012 siehe zum Beispiel Laskos, Christos/Milios, John/Tsakalotos, Euclid: Communist Dilemmas over the Greek Euro-Crisis: To Exit or Not to Exit? Beitrag vom 22. Februar 2012 auf dem Blog The Trim. [pdf-Version] Die deutsche Übersetzung von Ralf Kliche wurde in zwei Teilen publiziert als: Laskos, Christos/Milios, John/Tsakalotos, Euclid: Austreten oder nicht? Über kommunistische Dilemmata in der Euro-Krise. In: express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit. Teil 1 in Heft 4-2012 und Teil 2 in Heft 5-2012.

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