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16. Juli 2017 Redaktion Sozialismus

Erdoğan und die AKP auf gefährlichem Kurs

Am 15. Juli 2016 putschten Teile des türkischen Militärs, seitdem gilt im Land der Ausnahmezustand. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat mit seiner AKP ein diktatorisches Regime durchgesetzt und sich dabei gebetsmühlenartig auf den Kampf gegen die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen bezogen, der hinter dem Coup stecken soll.

Am 16. April 2017 hat die Türkei abgestimmt und Erdoğans Verfassungsreferendum mit 51,4% der Stimmen angenommen. Die neue Verfassung fand bei AuslandtürkInnen mehr Gefallen als bei InlandtürkInnen. Erdoğan erhält voraussichtlich offiziell im November 2019 die Exekutivgewalt.

Der nationale Notstand wurde bereits zum dritten Mal verlängert. Der Präsident kann also weiterhin per Notstandsdekret regieren. Ende Mai 2017 wurde er nach entsprechender Verfassungsänderung wieder zum Vorsitzenden der Regierungspartei AKP gewählt. Die Regierung treibt mit Hochdruck den Umbau des politischen Systems voran.

Trotz der Repression setzt die türkische Opposition Kräfte frei. Parteien und Gruppen schließen sich zusammen. Je aggressiver und rigider die Regierung wird, desto entschlossener treten die KritikerInnen auf. Der »Marsch für Gerechtigkeit«, für den Oppositionschef Kemal Kılıçdaroğlu zu Fuß von Ankara nach Istanbul gegangen ist und Millionen mobilisiert hat, ist nur das herausragende Beispiel.

Fast täglich haben im vergangenen Jahr in irgendeiner türkischen Stadt Demonstrationen gegen die Regierung stattgefunden: Es waren MenschenrechtlerInnen, FrauenrechtlerInnen, GewerkschafterInnen, LehrerInnen, AkademikerInnen, StudentInnnen und auch Menschen, die von der massiven Entlassungswelle betroffen waren

Innerhalb eines Jahres sind über 50.000 Menschen in Haft genommen worden. Etwa 150.000 Staatsbedienstete haben ihre Arbeit verloren. Entlassen wurden Zehntausende gut ausgebildeter LehrerInnen und HochschullehrerInnen. Auch ihnen wirft man vor, Teil der Gülen-Bewegung zu sein, oder dass sie mit anderen »Terrororganisationen« sympathisierten. Viele WissenschafterInnen leben bereits im Exil. Von einer freien Presse kann in der Türkei keine Rede sein. Der »Welt«-Korrespondent Deniz Yücel wird seit über 150 Tagen ohne Anklage festgehalten.

Dutzende demokratisch gewählte VertreterInnen der prokurdischen HDP hat die Regierung im vergangenen Jahr abgesetzt, die Doppelspitze der Partei ist im Gefängnis. Das Militär wurde neu strukturiert, ebenso das Bildungswesen und die Justiz. Das Bildungsministerium hat verfügt, die Evolutionstheorie aus den Lehrplänen zu streichen und in allen Schulen eine Moschee oder einen Gebetsraum einzurichten. Mittlerweile gehen 1,3 Mio. SchülerInnen auf die religiösen Imam-Hatip-Schulen, die gegenüber den säkularen Schulen aufgewertet wurden – 2003 waren es noch 85.000 SchülerInnen. Auch die Zahl der Korankurse ist rapide gestiegen.

Als mittelbare Folgen des konterrevolutionären Staatsumbaus haben sich die Beziehungen der Türkei zu mehreren EU-Ländern, unter anderem zu Deutschland, massiv verschlechtert. Auch die Wirtschaft spürte die Auswirkungen: Im dritten Quartal 2016 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt zum ersten Mal seit der Finanzkrise 2007/08, alle drei großen Ratingagenturen stuften die Türkei auf Ramschniveau runter. Die Zahl der TouristInnen, die zu den wichtigsten Stützen der Wirtschaft gehören, ist im vergangenen Jahr um ein Drittel zurückgegangen. Die Direktinvestitionen – unverzichtbar für Wachstum, Beschäftigung und als Ausgleich für das Leistungsbilanzdefizit – schrumpften um 42%. Die seit langem angeschlagene türkische Lira verlor stark an Wert.

Im Jahr 2017 setzte eine Erholungsbewegung ein. Die Talfahrt der Lira ist gestoppt, gegenüber dem US-Dollar hat sie sogar aufgewertet. Im ersten Quartal hat die Wirtschaftsleistung (BIP) um 5% zugelegt. Der Außenhandel, der 2016 noch gesunken war, ist zweistellig gewachsen. Ähnlich stark nehmen die Direktinvestitionen zu, auch der Tourismus nimmt wieder zu.

Terroranschläge, die Aushebelung des Rechtsstaats nach dem vereitelten Putschversuch vom Juli 2016, Zwangsenteignungen von Unternehmern und Erdoğans antiwestliche Ausfälle haben einen beträchtlichen Schaden verursacht, abgeschreckt werden ausländische Investoren. Aber auch eine Verschlechterung des ökonomischen Umfeldes ist festzustellen: Zum ersten Mal seit fünf Jahren liegt die Inflationsrate wieder auf über 10%. Die Konsumenten spüren die verminderte Kaufkraft.

Gleichwohl bleibt die türkische Ökonomie auf dem Weg der Erholung – trotz des gescheiterten Putsches vor einem Jahr, der Verhängung des Ausnahmezustands, der anhaltenden Repression und der Unsicherheit in der Wirtschaft. Die Erholung basiert darauf, dass die Regierung enorme Kredite in die Wirtschaft hineinpumpt. Erdoğan setzt eine Wirtschaftspolitik fort, die er nach dem Putschversuch begonnen hat, um die Ökonomie zu stabilisieren und seine Zustimmungsraten bei der Bevölkerung zu festigen. Er flutet die Wirtschaft mit Krediten, um kurzfristiges Wachstum zu erzeugen. Der Präsident weiß, dass er bei den geplanten Parlamentswahlen im November 2019 nur siegen kann, wenn die Wirtschaft floriert, denn sonst verliert er den Rückhalt in der Bevölkerung.

Das Wirtschaftswachstum im ersten Quartal 2017 ist vor allem auf die Stärke des privaten Konsums zurückzuführen. Dieser wiederum hat von temporären Steuerbegünstigungen profitiert, die noch bis zum Herbst andauern werden. Ebenfalls positiv hat sich ein Plan der Regierung ausgewirkt, der Kredite an mittelständische Unternehmen garantiert und bereits zu einer Erholung der Kreditvergabe beigetragen hat.

Stark hat sich auch die Exporttätigkeit gezeigt: Die schwache Lira und die Erholung der Exportmärkte in Europa sind die wichtigsten Faktoren für den Anstieg im ersten Quartal gewesen. Steuerbegünstigungen, Kreditgarantien und Exportnachfrage dürften die Wirtschaft bis in den Herbst hinein weiter beflügeln, sodass das Wachstum für das Gesamtjahr 2017 auf 3,9% steigen dürfte, nach nur 3% im vergangenen Jahr.

Der türkische Staat kann sich die aktuelle fiskalische Spritze und die Expansion der Kredite leisten, denn das Budgetdefizit und die öffentliche Verschuldung sind niedrig. Problematisch bleibt hingegen der Schub für die Inflationsentwicklung: Die starke Abwertung der Lira nach dem Putsch hat einen Anstieg der Inflationsrate ausgelöst. Diese hat zuletzt bei über 10% gelegen und damit weit oberhalb des mittelfristigen Zentralbankziels von 5%.

Die Machtzentralisierung um Präsident Erdoğan, latente soziale Spannungen und die gestiegenen politischen und geopolitischen Risiken haben im Sommer und Herbst vergangenen Jahres zu Herabstufungen bei den Rating-Agenturen geführt. Für die mittelfristigen Perspektiven der Türkei sind das hohe Leistungsbilanzdefizit und der hohe externe Finanzierungsbedarf deutliche Belastungs- und Risikofaktoren. Positiv ins Gewicht fällt hingegen der Zustand der Staatsfinanzen. Die öffentliche Verschuldung liegt bei rund 30% des BIP und das Haushaltsdefizit ist unter Kontrolle.

Problematisch sind hingegen die Rückwirkungen der Rolle als Regionalmacht des Nahen Ostens. Die Türkei hat sich nach anfänglichem Zögern hinter Katar gestellt und riskiert damit, ihre Nahost- bzw. Außenpolitik der letzten Jahre deutlich korrigieren zu müssen. Saudi-Arabien erklärte bereits mehrmals, dass es eine türkische Militärbasis auf dem Boden seines Nachbarstaates nicht hinnehmen werde, auch wenn die türkischen Truppen die politische Stabilität im Land garantieren sollten.

Weshalb die Türkei für mehr Sicherheit sorgen kann als die Amerikaner, die auch eine Militärbasis in Katar unterhalten, ist ein Rätsel. Die politischen Ambitionen Präsident Erdoğans sind eine Kombination von persönlichen und nationalstaatlichen Interessen sowie Beziehungen zu Katar, dem mittlerweile wichtigsten Verbündeten im Nahen Osten.

Saudi-Arabien und seine Verbündeten wollen Katar für seine eigenwillige Außenpolitik bestrafen. Während des Arabischen Frühlings 2011 unterstützte das Emirat am Persischen Golf die Aufstände gegen die arabischen Diktatoren, wobei die Hilfe aus Doha in Ägypten, Tunesien oder Libyen oft Gruppierungen der islamistischen Muslimbruderschaft zugutekam. Die »revolutionäre Ideologie« der Muslimbrüder ist dem saudischen Königshaus indes ein Graus. Die USA wollen ihren Stützpunkt in Katar behalten, von dem aus sie zu ihren Missionen in Syrien und im Irak fliegen. Zudem möchten sie Doha zumindest de Jure in der internationalen Militärkoalition halten, die in Syrien und im Irak den Terror bekämpft.

Die Türkei will keineswegs einen weiteren Verbündeten verlieren, wie im Falle Ägyptens. Katar und die Türkei stimmten in diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Fragen in den letzten Jahren weitgehend überein. Während des Arabischen Frühlings unterstützten sie die Muslimbrüder, sie engagierten sich für gute Beziehungen mit dem Iran und forderten das Ende des Asad-Regimes in Syrien. Gleichzeitig führte diese Positionierung zu einem Konflikt mit Riad und Teheran.

Politische Umbrüche in der Region gefährden den Status quo und forderten bisher unzählige unschuldige Opfer. Die Nahostpolitik des neuen amerikanischen Präsidenten führt dazu, dass Katar mehr und mehr isoliert wird und die Rolle der Türkei als verbündeter Staat sowie als Regionalmacht infrage gestellt wird. Auch der harsche Ton Ankaras gegenüber Washington wird daran nichts ändern.

Die Türkei will in der Golf-Region keine weitere Spannung, die das politische Chaos im Nahen Osten verlängern. Ankara ist darum bemüht, die zwischen Katar und Saudi-Arabien ausgebrochene Krise beizulegen. Die Türkei will nicht, dass Muslime in der Region gegenseitig Krieg führen. Für Erdoğan zahle die Türkei bereits für die Ereignisse im Jemen, in Libyen, in Palästina und in Syrien einen hohen Preis.

Erdoğan sieht sein Land als geostrategisch optimal positionierten Brückenkopf, der die Energieproduzenten in Asien und Osteuropa mit den Konsumenten im Westen verbinde – ein Knotenpunkt auf der »Seidenstraße der Energie«. Will die Türkei zu einer bedeutenden Energiedrehscheibe aufsteigen, setzt dies nicht nur eine politische Annäherung an die Nachbarstaaten voraus. In ihrem jüngsten Länderbericht rät die Internationale Energieagentur (IEA) der Türkei zum Aufbau einer Handelsplattform für Erdgas und zum Ausbau der Lagerkapazität für Flüssiggas.

Der Putsch im Juli 2016, die darauffolgenden Notstandsmaßnahmen und die verschärfte Repression haben sowohl die wirtschaftlichen als auch die geopolitischen Risiken der Türkei erhöht. Die diktatorischen Reaktionen von Erdoğan haben gezeigt, dass er nicht daran denkt, die polarisierte Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Er respektiert die Gewaltenteilung nicht und übt öffentlich Druck auf viele Institutionen – wie auf die Zentralbank – aus und stelle deren Unabhängigkeit dadurch in Frage.

Das strukturell hohe Leistungsbilanzdefizit und dessen Finanzierung in Zeiten gestiegener Risikoaversion an den Kapitalmärkten sind seit Langem die Achillesferse der Türkei. Doch aktuell profitiert das Land noch von den moderaten Ölpreisen, der günstigen Lira und der wirtschaftlichen Erholung beim wichtigsten Handelspartner, der EU. Der Konfliktkurs mit den Mitgliedstaaten der EU und die höhere Unsicherheit im Nahen Osten könnten jedoch auf mittlere Sicht das Regime in Ankara in starke Turbulenzen stürzen.

Die AKP und Erdoğan stützen sich auf die Zustimmung einer knappen Bevölkerungsmehrheit, die den wirtschaftlich-sozialen Erfolgskurs der letzten Jahrzehnte vor Augen hat. Vielen TürkInnen geht es heute besser als vor der Regierungsübernahme 2002.

Ankaras Verhältnis zur EU ist zerrüttet. Die Tiraden Recep Tayyip Erdoğan können jederzeit in eine Trennung der beiden Partner umschlagen. Beinahe im Wochentakt droht der türkische Präsident damit, das Flüchtlingsabkommen über Bord zu werfen oder dem EU-Beitritts-Prozess, der ohnehin im Koma liegt, den Todesstoß zu geben. Die türkische Regierung unterstellt den Europäern, sie betrieben eine Hinhaltetaktik, will aber nicht wahrhaben, dass der Umbau in eine Diktatur islamischer Prägung das entscheidende Hindernis ist.

Ein Jahr nach dem Putsch und der Errichtung einer Diktatur ist es überfällig, dass Europa sich auf eine Türkei-Strategie verständigt. Es ist an der Zeit, deutlich zu machen, dass selbst eine Assoziation mit der gegenwärtigen Türkei keine politische Grundlage hat.

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