Der Versand des Mai-Heftes von Sozialismus.de an die Abonnent*innen erfolgt aufgrund des Tags der Arbeit am 1. Mai erst am Donnerstag, den 2. Mai. Wir bitten um Verständnis.

Rechtsextremismus:
Was ist das und was können wir dagegen tun?

Donnerstag, 2. Mai | Bamberg | 20:00 Uhr
Im Balthasar (Balthasargäßchen 1) stellt Thomas Bollwein, promovierter Soziologe und Aktivist, sein soeben erschienenes Buch vor und zur Diskussion.

Klaus Lederer:
Mit links die Welt retten

Montag, den 6. Mai | Hamburg | 18:00 Uhr
Barmbek-Basch, Wohldorfer Str. 30. Der ehemalige Kultursenator von Berlin (Die Linke) stellt auf Einladung des Eilbeker Kreis innerhalb der Linken Hamburg sein neues Buch vor, in dem er »Linkssein radikal neu« denkt. Und er wird über die Situation seiner Partei diskutieren.

Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
108 Seiten | EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-210-3

Michael Brie
Linksliberal oder dezidiert sozialistisch?
Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
Eine Flugschrift
126 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-215-8

Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
120 Seiten | EUR 12.00
ISBN 978-3-96488-211-0

Margareta Steinrücke/Beate Zimpelmann (Hrsg.)
Weniger Arbeiten, mehr Leben!
Die neue Aktualität von Arbeitszeitverkürzung
160 Seiten | EUR 16.80
ISBN 978-3-96488-196-0

Stephan Krüger
Der deutsche Kapitalismus 1950–2023
Inflation, Beschäftigung, Umverteilung, Profitraten, Finanzkrisen, Weltmarkt
232 Seiten | zahlreiche farbige Abbildungen | EUR 24.80
ISBN 978-3-96488-189-2

Frank Deppe
Zeitenwenden?
Der »neue« und der »alte« Kalte Krieg
176 Seiten | EUR 14.80
ISBN 978-3-96488-197-7

Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
ISBN 978-3-96488-203-5

Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

30. März 2024 Redaktion Sozialismus.de: Kommunalwahlen in der Türkei

Erdoğans »Eroberungskampf«

Am Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt. Die Bürger*innen wählen in 81 Provinzen neue Bürgermeister, Stadtverordnete und Landräte. Geprägt wird der Wahlkampf vor allem auch von wirtschaftlichen Themen.

Inflation und Währungsverfall machen das Leben immer teurer und ein Ende der Abwärtsspirale ist nicht in Sicht. Daher könnten die sozial schwachen und vor allem die Rentner*innen in der Türkei eine Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen einleiten.

Als die türkische Opposition vor fünf Jahren Präsident Recep Tayyip Erdoğan die vielleicht schwerste Niederlage seiner politischen Karriere zufügte, lag der Schlüssel des Erfolgs in ihrer Einheit: Die säkularen Kräfte und die größte kurdische Partei gingen bei den Kommunalwahlen im Jahr 2019 zusammen, was dazu führte, dass sie In fast allen Großstädten gewannen. Besonders bedeutsam war der Erfolg in Istanbul. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert gelang es in der Metropole am Bosporus, Erdoğans Partei für Entwicklung und Wohlstand (AKP) von der Macht zu verdrängen.

Hier hatte dessen Karriere begonnen, und man fragte sich, ob nun auch ihr Ende hier eingeläutet würde. Wer Istanbul regiere, regiere die Türkei, hatte er einst selbst gesagt. Die 16-Millionen-Metropole ist ein Abbild der Türkei mit all ihren Widersprüchen. Wem es gelingt, hier eine Mehrheit zu erreichen, so damals die These, schaffe es auch auf nationaler Ebene. Es kam bekanntlich anders. Obwohl sich erneut ein breites Bündnis von Regierungsgegnern bildete, unterlag deren Kandidat, Kemal Kılıçdaroğlu, bei den Präsidentschaftswahlen.

Bei den jetzt stattfindenden Kommunalwahlen fällt die wichtigste Entscheidung erneut in Istanbul. Erdoğan will die Scharte von 2019 auswetzen und seine Heimatstadt zurückerobern. Deren Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu von der kemalistischen CHP ist einer der fähigsten Politiker der türkischen Opposition und Erdoğans gefährlichster Widersacher. Viele Regierungsgegner hatten gehofft, dass mit diesem als Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, der Sympathien über die säkulare Kernwählerschaft seiner Partei hinaus genießt, diese möglicherweise anders ausgegangen wären.

Imamoğlus direkter Herausforderer am Sonntag ist Murat Kurum von der AKP, ein farbloser Technokrat, der aus Sicht vieler als Strohmann von Präsident Erdoğan fungiert und im Wahlkampf eher durch Versprecher und ungelenke Tanzeinlagen auffiel. Nach Meinung des politischen Analysten Berk Esen steckt hinter der Nominierung des 47-jährigen ehemaligen Städtebauministers die Absicht Erdoğans, innerparteilich keinen ernst zu nehmenden Konkurrenten aufzubauen.

Sollte Imamoğlu die Wiederwahl gelingen, ist er die unangefochtene Führungsfigur der Opposition und der naheliegendste Kandidat für die Präsidentschaftswahl in vier Jahren. Das Resultat des Rennens ist unvorhersehbar, die Ausgangslage ist diesmal eine andere als 2019. Von parteiübergreifender Geschlossenheit sind die Regierungsgegner weit entfernt. Die nationalkonservative Iyi-Partei hat sich nach den verlorenen Präsidentschaftswahlen aus dem Bündnis zurückgezogen. Noch folgenreicher war die Abkehr der Kurden. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die nach zwei Umbenennungen wegen eines Verbotsverfahrens nun DEM-Partei heißt, hatte bei den letzten Urnengängen darauf verzichtet, Kandidaten außerhalb ihrer Stammlande im Südosten der Türkei aufzustellen. Stattdessen rief die drittstärkste Kraft des Landes ihre Unterstützer*innen auf, den jeweiligen Vertreter des Oppositionsbündnisses zu wählen.

Nun tritt die prokurdische Partei jedoch wieder mit eigenen Kandidat*innen an, auch in Istanbul. In den meisten Umfragen kommt die DEM dort auf etwa 6% – das könnte den Ausschlag geben, denn Imamoğlu liegt derzeit nur knapp vor dem Kandidaten der AKP. Allerdings lohne sich die Rolle als Mehrheitsbeschaffer nur, wenn sie mit politischem Einfluss belohnt werde, erklärte die Ko-Vorsitzende von DEM, Tülay Hatimoğulları Oruç. Ein weiterer Faktor war Empörung über das Verhalten der CHP bei der Präsidentschaftswahl.

Um sich für die zweite Wahlrunde die Unterstützung von rechts außen zu sichern, hatte Kılıçdaroğlu der rechtsextremen Zafer Partisi (Partei des Sieges) in einem Geheimprotokoll mehrere Ministerien zugesichert. Ein rotes Tuch für die Kurden. DEM müsse wieder die kurdischen Interessen in den Vordergrund stellen, anstatt auf einen Wechsel hinzuarbeiten, der am Ende nur kurdenfeindliche Kräfte an die Macht bringe, lautet deshalb eine Forderung. Zudem müsse der kurdische Friedensprozess nach den Wahlen belebt werden. Außerdem habe sich der Bürgermeister nach seinem Wahlsieg 2019 nicht mehr um die Kurden gekümmert, – so die DEM-Spitzenkandidatin Meral Danış Beştaş gegenüber dem Nachrichtenportal T24.

Präsident Erdoğan hat erkannt, dass diese Distanz von Vorteil für seine Kandidat*innen sein kann. Mit pauschalen Verunglimpfungen gegenüber Kurden, wie in früheren Wahlkämpfen, hält er sich auffallend zurück. Allerdings sind noch immer sind Hunderte prokurdischer Politiker*innen in Haft. Auch Imamoğlu geht auf die kurdische Minderheit zu und las während einer Wahlkampfveranstaltung ein paar Worte auf Kurdisch vor.

Tatsächlich liegen die politischen Kompetenzen der lokalen Verwaltungen wie hier in Istanbul mehr im Konkreten, beispielsweise Bauvorhaben im öffentlichen Verkehr wie Metros oder bezahlbarer Wohnbau. Es sind Themen, die die meisten Menschen in Istanbul umtreiben – egal, ob sie dem Lager von Imamoğlu oder von Erdoğan angehören.


Eine zerstrittene Opposition und ein Machtkampf innerhalb der CHP

Erdoğan will sich die Zerstrittenheit und das Postengerangel der Opposition zunutze machen und umwirbt eine Wählergruppe, die für seine Partei AKP normalerweise unerreichbar ist: Anhänger der Oppositionspartei CHP. Er sehe doch, wie die CHP-Wählerschaft an ihrer eigenen Partei verzweifle, sagte er auf einer Wahlkampfveranstaltung und empfahl ihr zur AKP zu wechseln: »Ihr habt eine Alternative.«

Viele Wähler*innen schimpfen über die Inflation von 65%, die trotz mehrerer Anhebungen des Mindestlohnes die Einkommen schrumpfen lässt. Selbst AKP-Anhänger*innen kritisieren das Versagen der Wirtschaftspolitik. Gleichwohl muss der 70-jährige Erdoğan keinen Denkzettel befürchten. Denn trotz dieser Kritikpunkte an der Politik des Präsidenten aus dessen eigenen Reihen geht die Opposition zerstritten in die Wahlen, kann nicht von der Unzufriedenheit der Wähler*innen profitieren, sondern stößt ihre Anhänger mit fragwürdigen Personalentscheidungen vor den Kopf. So hält sie in der Erdbebenprovinz Hatay an einem Bürgermeisterkandidaten fest, dem eine Mitschuld am Tod vieler Menschen bei der Katastrophe des vorigen Jahres gegeben wird.

Zudem tobt in der CHP ein Machtkampf zwischen seiner Reformfraktion und der alten Elite der Partei, was auch auf einen misslungenen Neubeginn nach der Niederlage im vorigen Jahr zurückzuführen ist. Kılıçdaroğlu klammerte sich an seinen Posten und wurde erst im Herbst entmachtet. »Anstatt rechtzeitig zurückzutreten und somit Imamoğlu zu stärken, blieb Kılıçdaroğlu im Amt, was Imamoğlus Position geschwächt hat«, sagt Hüseyin Cicek, Türkei-Experte an der Universität Wien. Kılıçdaroğlu sei erst von der Bildfläche verschwunden, »als der politische Schaden bereits tiefgreifend war«.

Zum Streit in der Opposition kommt Erdoğans Macht über die Medien. Der Staatsender TRT, theoretisch zur Neutralität verpflichtet, berichtete seit Jahresbeginn fast 50 Stunden lang über den Präsidenten, aber nur eine Dreiviertelstunde über Oppositionsführer Özgür Özel (CHP). Wahlen in der Türkei sind zwar größtenteils frei, aber fair sind sie wohl kaum. »Die meisten Leute schauen die meiste Zeit Medien, die der Regierungspartei nahestehen«, sagt Howard Eissenstat, der sich an der St.-Lawrence-Universität in den USA mit der Türkei befasst.


Armut wächst trotz Mindestlohn und Rentenanpassungen

Die Armut in der Türkei nimmt zu. Bisher wollte Präsident Erdoğan nichts Durchgreifendes dagegen unternehmen. Jetzt soll es mit »Gottes Erlaubnis« besser werden. In aktuellen Reden spricht er von einer starken Wirtschaft: »Unser Land wird zu den zehn stärksten Wirtschaftsmächten der Welt gehören«. Bislang sei die Wirtschaft in seiner Zeit um das Dreifache gewachsen und werde in der kommenden Periode um das Doppelte wachsen.

Die Realität sieht allerdings anders aus. Die offizielle Inflation liegt bei über 67% und die Türkische Lira (TL) befindet sich weiterhin im Abwärtstrend. Inzwischen kostet ein US-Dollar über 32 TL (vor einem Jahr noch bei 19 und vor fünf Jahren bei 5,63). Dadurch wird alles in dem Land teurer, die sogenannte Hunger- und Armutsschwelle müssen daher praktisch monatlich korrigiert werden.

Gerade Geringverdiener*innen haben es besonders schwer. Wer den Mindestlohn von 17.000 TL (487 Euro) bekommt, kann jetzt nicht einmal eine vierköpfige Familie ausgewogen ernähren, so die Konföderationen der Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, »Birlesik Kamu-is Konfederasyonu«. »Die Hungergrenze, die wegen des seit vier Jahren ununterbrochenen Anstiegs der Lebensmittelpreise in der Türkei rapide ansteigt, während sie weltweit im Allgemeinen sinkt, überstieg im März zum ersten Mal mit 20.098 TL die 20.000er-Grenze. Gleichzeitig stieg die Armutsschwelle auf 57.280 TL. Allein im März stieg die Hungerschwelle um 5,9% und die Armutsschwelle um 11%«, teilte der Gewerkschaftsverband mit.

Die sogenannte Hungerschwelle beschreibt die Minimumausgaben für Lebensmittel einer vierköpfigen Familie, wenn sie sich ausgewogen ernähren will. Die Armutsschwelle hingegen beschreibt die Minimalausgaben einer vierköpfigen Familie. Dazu zählen neben Lebensmittelkosten auch Miete, Energie und auch Transportkosten. Der Gewerkschaftsverband DISK hat auch die Lage der rund 16 Mio. türkischen Rentner*innen berechnet, die besonders unter den steigenden Preisen leiden. Demnach liegt die Durchschnittsrente in der Türkei bei einem Sechstel der Renten in den zentraleuropäischen Ländern. Lag die Durchschnittsrente in der Türkei 2002 rund 22% über dem Mindestlohn, lag sie 2023 rund 26% darunter.

Erdoğan ist sich der prekären Lage der Rentner*innen bewusst. Erst kürzlich wurde die Mindestrente von 7.500 TL auf 10.000 TL (circa 286 Euro) angehoben: »Wir haben die Renten um bis zu 50% angehoben. Um die Probleme der Rentner zu lindern, haben wir ihnen einmalig 5.000 TL gegeben«. Allerdings musste er zugleich einräumen, dass ihnen diese 5.000 TL (143 Euro) aufgrund der hohen Inflation nicht viel bringe. Mit »Gottes Erlaubnis« werde er aber die Inflation bald kontrollieren können.

Die Stimmen der Rentner*innen sind bei der Kommunalwahl 2024 entscheidend. Der Vorsitzende der Regierungspartei AKP in Merzifon, Abdullah Sahin, warnte daher die Wähler*innen, ihre Stimmen der Opposition zu geben und dadurch komplett ohne Geld dazustehen. »Wenn sich die politische Stabilität verschlechtert, wenn unsere Regierung einen Schritt zurück macht, kann es sein, dass die Gehälter der Rentner und Beamten nicht gezahlt werden können.«

Auch Erdoğan ist sich bewusst, dass die Lage der Rentner*innen katastrophal ist. »Alles, was wir dem Rentner geben, verschwindet wie in einer Grube ohne Boden«, sagte er in einer Wahlkampfrede in Aksaray. Der Vorsitzende der Oppositionspartei CHP Özel konterte auf X: »Du bist derjenige, der die Grube gegraben und die Rentner hineingeworfen hat! Die 16 Millionen Rentner, die du verachtest, werden dir am 31. März ihre Antwort geben. Hab keinen Zweifel darüber.«


Beschwichtigung mit Durchhalteparolen und die diplomatische Karte

Doch alle eingesetzten Gelder reichen nicht einmal aus, um die offizielle Inflation von 67% auszugleichen. Erdoğan versucht es daher mit Durchhalteparolen: »Wir hoffen, dass die Inflation ab der zweiten Jahreshälfte zurückgehen wird. Wir haben Vorbereitungen getroffen, um die Haushaltsmöglichkeiten zu erweitern. Wir glauben, dass wir ab dem nächsten Jahr damit beginnen werden, die Kaufkraft unserer Arbeitnehmer und Rentner über das bisherige Niveau hinaus zu steigern. Solange wir unsere Geschlossenheit bewahren. Solange wir nicht zulassen, dass sich jemand zwischen uns stellt. Der Rest ist nur eine Frage der Zeit und der Planung.«

Und Erdoğan spielt die diplomatische Karte aus: Die Türkei unterhält enge Beziehungen zur Ukraine und zu Russland. Bei einem Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bot er an, einen Friedensgipfel zwischen den beiden Ländern auszurichten: »Wir haben von Anfang an so viel wie möglich dazu beigetragen, den Krieg durch Verhandlungen zu beenden.«

Selenskyj, der in der Türkei Werften besuchte, in denen Korvetten für die ukrainische Marine gebaut werden, erwähnte in einem Tweet auf X, dass Vereinbarungen über gemeinsame Verteidigungsprojekte mit der türkischen Regierung und Unternehmen getroffen wurden. Man habe sich auch darauf geeinigt, den Handel zu vereinfachen und Hindernisse für die Wirtschaft zu beseitigen. Erdoğan ergänzte, auch über die Stabilität des Schwarzmeer-Schifffahrtskorridors sei gesprochen worden und er habe die Unterstützung der Türkei für die »territoriale Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit« der Ukraine bekräftigt. Allerdings will Selenskyj weiterhin keine direkten Friedensgespräche mit Russland, denn die Initiative dazu müsse bei dem Land liegen, das überfallen wurde.


Aufruf zum »Eroberungskampf«

Für die Kommunalwahlen in der Türkei hat Erdoğan zum »Eroberungskampf aufgerufen. In Istanbul versammelten sich Anhänger*innen teilweise mit roten Bändern und dem Namen ihres Präsidenten um den Kopf oder hüllten sich in Fahnen mit seinem Gesicht. Denn für den Staatschef und seine AK-Partei geht es bei den Kommunalwahlen, bei der rund 61 Mio. Menschen berechtigt sind, landesweit Bürgermeister und Kommunalparlamente zu wählen, um einen Sieg über die großen Bastionen der Opposition (neben Istanbul auch die Hauptstadt Ankara, und die Millionenstadt Izmir an der Westküste der Türkei) im Land.

Für Erdoğan ist die 16-Millionen-Metropole Istanbul der Ort, an dem er seinen politischen Aufstieg erlebte. 1994 wurde er dort zum Bürgermeister gewählt, bevor er 2003 Ministerpräsident des Landes und 2014 Staatspräsident wurde. Istanbul ist aber auch Schauplatz der größten Niederlage seiner politischen Karriere. Gemeinsam mit Ankara und Izmir ging Istanbul 2019 nach mehr als 25 Jahren unter Regierung der AKP und ihrer islamisch-konservativen Vorgänger an die Partei CHP. Die AKP annullierte die Wahl – bei der Wiederholung gewann die Opposition mit noch größerem Abstand.

Sollte Istanbul zurück an die AKP gehen, droht laut Beobachter*innen für das ganze Land ein weiteres Abgleiten in den Autoritarismus. Der Politikanalyst Murat Yetkin erwartet, dass einem Sieg Kurums unweigerlich die Schwächung der Kontrollmechanismen in der Exekutive folgen würde – »und eine weitere Kandidatur Erdoğans«. Dieser könnte sich dadurch beflügelt fühlen und Grenzen austesten – z.B. die einer Verfassungsänderung und sich damit eine erneute Amtszeit sichern, die die derzeitige Verfassung verbietet.

Ausgemacht ist ein Sieg in der Metropole aber noch nicht. Neben der schlechten Wirtschaftslage im Land besteht ein weiteres Risiko im Aufstieg der islamistischen Yeniden Refah Partei, die der AKP-Stimmen abgraben könnte. Umfragen sagen ein knappes Rennen zwischen Imamoğlu und Kurum voraus. Sollte Imamoğlu verlieren droht ihm insgesamt ein Politikverbot. Der 53-Jährige war 2022 wegen Beleidigung verurteilt worden – sollte das Urteil rechtskräftig werden, darf er kein politisches Amt mehr ausüben. Wohl auch deshalb hatte Erdoğan vor einigen Wochen angekündigt, dass bei einem erneuten Sieg Imamoğlus diese Wahlen seine letzten seien – laut Beobachtern ein weiterer der Versuch, die Anhänger*innen seiner AKP-Partei emotional zu gewinnen und zum »Eroberungskampf« zu motivieren.

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