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4. Dezember 2014 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Zum ersten Mal vorgezogene Neuwahlen in Schweden

Etwas wirklich Neues ist geschehen

Mit den Worten »Es ist nichts mehr wie früher« trat der schwedische Ministerpräsident Kjell Stefan Löfven von den Sozialdemokraten nach dem Scheitern des Haushaltes seiner Regierungskoalition vor die Presse und kündigte Neuwahlen an. Die WählerInnen müssten zu der neuen politischen Landschaft Stellung nehmen.

Löfven zeigte sich schockiert von der Ankündigung der Rechtspopulisten von den Schwedendemokraten am Ende der Etat-Debatte: Sie würden versuchen, jede Regierung zu stürzen, die für eine Zunahme der Einwanderung eintrete oder den Grünen einen entscheidenden Einfluss auf die Einwanderungspolitik gewähre. Es war eine Drohung an alle Parteien – diese dürfte auch nach einer Neuwahl weiter gelten. Kein Land in Europa nimmt pro Einwohner mehr Einwanderer auf als Schweden. Außer den Schwedendemokraten befürworten alle Parteien diese Politik.

In der Tat ist etwas Neues geschehen: Die Zeiten relativ stabiler politischer Mehrheitsverhältnisse sind  vorbei. Auch das schwedische »Volksheim« ist nun von einem Erdbeben schwer beschädigt worden. Nachdem erst im September 2014 ein neues Parlament gewählt worden war, hat der Ministerpräsident für den März 2015 Neuwahlen angesetzt, weil die rot-grüne Minderheitsregierung, trotz Unterstützung durch die Linke, für ihren Etatentwurf im Parlament keine Mehrheit gefunden hat.

Die mit knapp 13% deutlich erstarkte rechtspopulistische Partei der Schwedendemokraten votierte bei der Abstimmung über den Etat für den Alternativentwurf der bürgerlichen Opposition, weil der Regierungsentwurf ihrer Forderung nach Verringerung der Einwanderung nicht Rechnung getragen habe.

Bei den Parlamentswahlen im September 2014 hatten die WählerInnern bei einer hohen Wahlbeteiligung von 83,3% eine bürgerliche Koalition unter Führung des Konservativen Fredrik Reinfeldt abgewählt. Obwohl die Sozialdemokraten ihr erklärtes Ziel von 35% klar verfehlten (31%; 2010: 30,7%), wurde Kjell Stefan Löfven beauftragt eine Regierung zu bilden.

Aber selbst unter Einschluss der Linkspartei wäre ein rot-grün-rote Koalition gemeinsam nur auf 158 der 349 Sitze gekommen, zu einer absoluten Mehrheit fehlten 17 Mandate. Reinfeldts Mitte-Rechts-Bündnis erreichte nurmehr 142 Sitze, die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, mit denen (bisher) keine der anderen Parteien zusammenarbeiten wollte, kamen auf 49 Mandate.

Auch die abgewählte Vier-Parteien-Regierung Reinfelds war eine Minderheitsregierung, die von den Grünen toleriert wurde. Diese wollten damit verhindern, dass die rechtspopulistischen Schwedendemokraten, die 2010 erstmals ins Parlament einzogen, die Ausländerpolitik negativ beeinflussen. Die einwanderungskritischen Schwedendemokraten um ihren Vorsitzenden Jimmie Åkesson konnten 2014 ihr Wahlergebnis von 2010 mit knapp 13% mehr als verdoppeln und wurde drittstärkste Kraft. Es war klar, dass sie ihre starke Position im Parlament nutzen würde, um die fortschrittliche Regierungskoalition in wichtigen Entscheidungen zu blockieren.

Die Entwicklung in Schweden steht exemplarisch für die Entwicklung in einem Großteil der ökonomisch und politisch wohlsituierten Gesellschaften Europas. Schwedens Wirtschaft ist 2013 um gut 1,5% gewachsen und hat sich im zweiten Halbjahr 2014 stärker belebt. Insgesamt wird 2014 mit einem Zuwachs des realen BIP um 2,5% gerechnet. 2015 soll die Wirtschaft dann weiter an Fahrt aufnehmen und um 3,0% wachsen.

Ein potenzielles Risiko stellt nach wie vor die hohe Verschuldung der Privathaushalte dar. Seit 1996 hat sich diese in Relation zum verfügbaren Einkommen mit einem Anstieg von 90% auf 170% nahezu verdoppelt. Im Jahresdurchschnitt wird mit einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 8,0% (2013) auf 7,6% im Jahr 2015 gerechnet.

Nach zwei Perioden bürgerlich-konservativer Regierungen war der Arbeitsmarkt ein wichtiges Thema der Septemberwahlen. Gemessen an ihren eigenen Zielen hatten die Bürgerlichen versagt: Im August 2014 waren 7,9% der 15- bis 74-Jährigen arbeitslos, was rund 1% mehr ist als 2006. Kein Wunder, dass sich die Bürgerlichen anhören mussten, dass ihre Regierung zu wenig gegen die Massenarbeitslosigkeit getan habe.

Deren Arbeitsmarktpolitik stand unter der Devise »Lohn statt Beiträge«. Der Hintergrund: 2006 war trotz Hochkonjunktur ein Fünftel der Bevölkerung von staatlichen Leistungen abhängig, über eine Million BürgerInnen standen außerhalb des Arbeitsmarkts. Für die 340.000 offiziellen und versteckten Arbeitslosen, die 460.000 Frühpensionierten, 177.000 Krankgeschriebenen und 94.000 Sozialhilfeempfänger prägte die Regierung den Begriff des »Außenseitertums«, das es um jeden Preis zu beseitigen gelte.

Um die Arbeitsanreize zu erhöhen, wurden die Einkommenssteuern zwischen 2007 und 2012 in fünf Schritten um insgesamt 85 Mrd. sKr. (rund 9,2 Mrd. Euro) gesenkt. Leute mit niedrigen und mittleren Einkommen profitierten überproportional davon. Zudem wurden die Arbeitgeberbeiträge für Jugendliche halbiert, die Arbeitnehmerbeiträge an die Arbeitslosenversicherung erhöht und Steuerreduktionen auf »haushaltnahe« Dienstleistungen wie Reinigung, Babysitting oder Gartenarbeiten eingeführt, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen und die Schaffung neuer Stellen zu erleichtern.

Die bürgerliche Regierungskoalition hat einen entschiedenen Deregulierungskurs verfolgt. Die Privatisierung des Schulsystems, der Verkauf der öffentlichen Verkehrsbetriebe in vielen Gemeinden und radikale Leistungskürzungen bei Krankenkassen und Arbeitslosenversicherung haben tiefe Gräben in der schwedischen Gesellschaft aufgerissen. Die soziale Ungleichheit hat so stark zugenommen wie in kaum einem anderen OECD-Land und nähert sich rasant den OECD-Durchschnittswerten.

Entwicklung der sozialen Ungleichheit in Schweden und in der OECD
Quelle: OECD

Dennoch hielt die bürgerliche Regierungskoalition an ihrem Motto »Arbeiten soll sich lohnen« fest, kürzte die Arbeitslosenhilfe und schuf stattdessen Anreize für Unternehmen, vor allem jugendliche Arbeitnehmer einzustellen. Dagegen wollten die von den Sozialdemokraten geführte Koalition 40.000 Trainee-Jobs, also Praktikumsplätze, schaffen, um die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 22% in den Griff zu bekommen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hatte der bürgerlichen Koalition dringend geraten, die Deregulierung auf dem Immobilienmarkt zurückzunehmen. Konkret sollte die 2010 eingeführte Belehnungsgrenze von 85% des Marktwertes auf 75% gesenkt und eine Amortisationspflicht eingeführt werden. Wegen fehlender Anreize haben 2013 nur 60% aller Hypothekarschuldner Abzahlungen geleistet. Zudem wäre eine Begrenzung des Schuldendienstes im Verhältnis zum Einkommen ratsam.

Derzeit muss ein Durchschnittshaushalt nur 4% des verfügbaren Einkommens für Zinszahlungen verwenden. Auch die Reduktion des Steuerabzugs sowie eine Reform der Immobiliensteuer könnten die Situation verbessern. Neben nachfrageseitigen Maßnahmen müsse auch das Angebot an Immobilien markant steigen, um der in den Städten akuten Wohnungsknappheit gegenzusteuern.

Die bürgerliche Koalition rückte im Wahlkampf schließlich das Thema Migration in den Mittelpunkt. Ministerpräsident Reinfeld argumentierte: Aufgrund der instabilen Situation in vielen Regionen der Welt stünde Schweden vor einer Flüchtlingswelle noch nie da gewesener Größe. Die Kosten für die Aufnahme dieser vielen Flüchtlinge seien so hoch, dass es in der kommenden Regierungsperiode weder Spielraum für Steuersenkungen noch für erhöhte Investitionen in anderen Bereichen als dem der Einwanderung gebe.

Dennoch hatte die bürgerlich-liberale Minderheitsregierung konsequent eine für europäische Verhältnisse großzügige Migrationspolitik verfolgt, teilweise mit Unterstützung der oppositionellen Grünen. Nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR nimmt Schweden von allen europäischen Ländern, gemessen an der Einwohnerzahl von 9,5 Mio., nach Malta die meisten Flüchtlinge auf (2013 insgesamt 115.000 Menschen).

Von allen acht im schwedischen Parlament vertretenen Parteien sind die Schwedendemokraten die einzige Partei, die die Zuwanderung begrenzen will. Die Wurzeln der 1988 gegründeten Schwedendemokraten liegen teilweise im rechtsextremen Milieu, weshalb ihr bis heute ein schwereres Erbe anhaftet als den Parteien in Dänemark und Norwegen, die aus neoliberalen Steuerprotestparteien entstanden.

Die dramatische Aufwertung der Einwanderungsthematik ermöglichte es der rechten Partei ihre politische Quarantäne zu verlassen. Seit 2010 waren sie im Parlament nur eine Randgruppe. Durch ihren Erfolg bei den Wahlen im September mit einem auf knapp 13% verdoppelten Stimmanteil fanden die Schwedendemokraten auch in der politischen Kommunikation eine größeren Resonanzboden. Obwohl alle anderen Parteien die Zusammenarbeit mit ihnen bisher verweigerten, wurden sie bei der entscheidenden Etat-Frage zum Zünglein an der Waage.

Die Rechtspopulisten haben im Wahlkampf eine radikale Begrenzung der Einwanderung propagiert, die ihrer Meinung nach Riesensummen verschlingt und auf Kosten der Wohlfahrtsleistungen geht. Die Partei verdankt ihren Vormarsch vormaligen WählerInnen der Konservativen, aber auch die Sozialdemokraten haben Stimmen an die Schwedendemokraten verloren.

Das Scheitern der rot-grünen Minderheitsregierung markiert eine Zäsur. Eine vorgezogene Wahl hat es in Schweden schon seit fast 60 Jahren nicht mehr gegeben. Ministerpräsident Löfven kündigte nach dem Scheitern seines Haushalts an, die wahlberechtigten BürgerInnen müssten zur neuen politischen Landschaft Stellung nehmen. Die WählerInnen stehen also vor der Frage, ob die großzügige Haltung gegenüber Flüchtlingen beibehalten werden soll.

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