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Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Linksliberal oder dezidiert sozialistisch?
Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
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Heiner Dribbusch
STREIK
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ISBN 978-3-96488-121-2

6. Dezember 2015 Otto König / Richard Detje: Repression gegen Kurden, Linke und Journalisten

EU-Türkei: »Schmutziger Deal«

Der türkische Menschenrechtsanwalt Tahir Elci proklamierte im südostanatolischen Diyarbakir, »in diesem Gebiet, das Heimat so vieler Zivilisationen war, wollen wir keine Schüsse, keine Gewalt und keine Operationen« mehr. Mörder brachten ihn zum Schweigen.[1]

»Wir bezweifeln, dass dieser politische Mord je ganz aufgeklärt wird«, sagte Selahattin Demirtas, Co-Vorsitzender der »Demokratischen Partei der Völker« (HDP), bei der Begräbniszeremonie. Geriet doch der Jurist Elci[2] insbesondere wegen seines Engagements für Gerechtigkeit und Frieden ins Fadenkreuz. Zuletzt forderte die Staatsanwaltschaft fünf Jahre Haft für ihn, weil er erklärt hatte, die PKK sei keine Terrororganisation, sie genieße die Unterstützung der kurdischen Bevölkerung.

Nachdem der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) im Juni 2015 die absolute Mehrheit verloren hatten, wurden in Südostanatolien Hunderte kurdische Anwälte, Lokalpolitiker und Menschenrechtler verhaftet, Ziel von Angriffen des rechten Lagers und von Bombenanschlägen wie in Ankara. Der von der Regierung entfachte Krieg im Innern forderte in wenigen Wochen mehrere hundert Tote.

Erdoğan Strategie, die gesellschaftliche Polarisierung zuzuspitzen, ein Klima der Angst vor Terror und Bürgerkrieg zu erzeugen, um den »Fehler« – die Wahlniederlage der AKP – durch die Wahlwiederholung korrigieren zu lassen, ging auf. Nach ihrem Sieg ließ die Regierung keine zwei Tage verstreichen, bevor sie den Kampf gegen Kritiker und politische Gegner fortsetzte. Über kurdische Städte, in denen die Zustimmung für die HDP besonders hoch war, wie in Silvan und Nusaybin, wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Der Fernsehsender Med Nuce berichtete, wie Kampf- und Schützenpanzer in die Stadt Silvan einrückten und kommentierte: Die »Bilder von verwüsteten Straßenzügen und zerstörten Wohnhäusern erinnern eher an Kobané als an eine türkische Kleinstadt.« (Telepolis, 12.11.2015) In Diyarbakir wurde die rechtswidrig abgesetzte Bürgermeisterin Leyla Imret[3] unter dem Vorwurf verhaftet, sie habe die BürgerInnen ihrer Stadt Cizres zum bewaffneten Aufstand aufgefordert, da sie während der Kobané-Proteste im vergangenen Jahr in einem Interview mit VICE-News die Befürchtung geäußert hatte, die Eskalationspolitik Erdoğans könne zu einem Bürgerkrieg führen.

Das regierungskritische Magazin Nokta kommentierte den AKP-Wahlsieg und die Fortsetzung des Staatsterrors gegen Kurden, Linke und investigative Journalisten mit Erdoğans Bild auf der Titelseite und der Headline: »2. November, Montag: Der Beginn des türkischen Bürgerkriegs«. Tags darauf wurden Chefredakteur Cevheri Güven und Nachrichtenchef Murat Capan festgenommen und vor Gericht gestellt. Für beide forderte die Staatsanwaltschaft 20 Jahre Haft.

Grundrechte wie die Pressefreiheit sind in der Türkei schon seit längerem eingeschränkt. Doch im Jahr der Parlamentswahlen wurden regierungs-kritische Journalisten und Redakteure vermehrt als Terroristen gebrandmarkt und zu Staatsfeinden erklärt – verhaftet und angeklagt. So wurden unmittelbar vor der Wahl die Redaktionen von Bügün und Millet sowie der Fernsehsender der Koza Ipek Gruppe von der Polizei gestürmt. Mit dem Vorwurf, sie würden den regierungskritischen Prediger Fethuallah Gülen unterstützen, wurden sie unter staatliche Aufsicht gestellt. Der Großteil der Belegschaft wurde gefeuert.

Präsidenten-Berater Aydin Ünal drohte, man werde sich bei einem Wahlsieg die oppositionellen Tageszeitungen Hürriyet, Cumhuriyet, Sözcü und Zaman vorknöpfen. Prompt erließ das Gericht in Ankara aufgrund einer Anzeige aus dem Präsidentenpalast kurz nach der Wahl und vor dem EU-Türkei-Gipfel in Brüssel einen Haftbefehl gegen Chefredakteur Can Dündar sowie gegen Erdem Gül, Leiter der Hauptstadtredaktion von Cumhuriyet. Eine Woche zuvor waren sie von »Reporter ohne Grenzen« noch für ihren »unabhängigen und couragierten Journalismus« ausgezeichnet worden.

Die Liste der Vorwürfe gegen die Journalisten ist so absurd wie lang: Sie sollen eine kriminelle Vereinigung gebildet, Geheimnisse verraten, die Sicherheit des Staates gefährdet, Verbrechen gegen die Regierung begangen, politische und militärische Spionage betrieben sowie die Justiz beeinflusst haben. Tatsächlich hatte Cumhuriyet im Frühjahr über einen Skandal berichtet, bei dem aufgedeckt wurde, dass Lastwagen vollgeladen mit Waffen mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes MIT nach Syrien unterwegs waren.

Auf dem Pressefreiheitsindex der Journalistenvereinigung »Reporter ohne Grenzen« liegt die Türkei auf Platz 149 von 180 Ländern. Auch die EU-Kommission stellte der Türkei in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht ein schlechtes Zeugnis in Sachen »Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte« aus. Der vor der Wahl zurückgehaltene Bericht verweist auf »laufende und neue Strafprozesse gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer Sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medienfirmen sowie das Vorgehen der Behörden bei der Beschränkung der Medienfreiheit« (DW, 10.11.2015). Wenige Tage nach Veröffentlichung des Berichts verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg die türkische Regierung, mit ihrer mehr als zweijährigen YouTube-Blockade gegen das »Recht zum Empfang und zur Verbreitung von Informationen« verstoßen zu haben.[4]

Die im Hochsicherheitsgefängnis Silivri westlich von Istanbul einsitzenden Cumhuriyet -Journalisten Can Dündar und Erdem Gül schrieben vor Beginn des zweiten EU-Türkei-Gipfels in Brüssel Bundeskanzlerin Angela Merkel einen offenen Brief und forderten von ihr und den anderen EU-Spitzenpolitikern ein klares Bekenntnis zur Presse- und Meinungsfreiheit. »Respektvoll« baten sie im Namen aller in der Türkei verhafteten Journalisten um Solidarität. Doch ihnen war wohl schon beim Formulieren des Textes klar, dass die europäischen Regierungschefs sich durch ihr Schicksal nicht vom »schmutzigen Deal« (Pro Asyl) mit Erdogan abhalten lassen. Die Türkei verpflichtete sich, Flüchtlinge an der Einreise in die EU zu hindern, und erhält im Gegenzug Finanzhilfen in Höhe von 3 Mrd. Euro sowie eine Beschleunigung der Verhandlungen über einen EU-Beitritt und über visafreie Reisen.

Die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini, beeilte sich zu erklären, das Geld sei »nicht für die Türkei bestimmt, sondern zur besseren Versorgung von syrischen Flüchtlingen« im Land. Der Preis, den Europa für diesen Pakt zahlt, ist hoch. Getrieben von den Rechtspopulisten in ihren Ländern belohnen die europäischen Staats- und Regierungschefs eine Politik, die mit Menschenrechtsstandards nicht vereinbar ist.

[1] Forensische Untersuchungen ergaben, dass Tahir Elci aus größerer Entfernung durch einen Schuss in den Nacken getötet wurde. Dies deutet auf einen Scharfschützen und nicht auf einen zufälligen Querschläger hin. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrikulu, sein Vorgänger als Vorsitzender der Anwaltskammer, erinnerte in der Parlamentsdebatte daran, dass Nackenschüsse ein Erkennungszeichen des Geheimdienstes der Militärpolizei Jitem bei der Ermordung kurdischer Oppositioneller in den1990er Jahren waren.
[2] Tahir Elci, Mitglied im Menschenrechtsverein IHD, setzte sich für die Aufklärung der mehr als 17.000 unaufgeklärten Morde in den 1990er Jahren ein. Er vertrat viele Opfer vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – zuletzt die beiden britischen VICE-Reporter, die Ende August in Diyarbakir verhaftet wurden (Telepolis, 28,11.2015).
[3] Leyla Imret, Tochter eines PKK-Kämpfers, der bei einem Zusammenstoß mit türkischen Sicherheitskräften 1992 vor ihren Augen getötet wurde, wuchs in Osterholz-Scharmbeck in der Nähe von Bremen auf. 2013 kehrte sie in die Türkei zurück. Ein Jahr später wurde sie in Cisre zur Bürgermeisterin gewählt. Das Innenministerium enthob die 28-Jährige HDP-Politkerin im September 2015 während einer neuntägigen Ausgangssperre über Cizre ihres Amtes.
[4] Von Mai 2008 bis Oktober 2010 hatte ein Gericht in Ankara den Zugang zu dem Online-Videoportal YouTube blockiert. Anlass waren rund ein Dutzend Videos, die als Beleidigung des Gründervaters der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, gewertet worden waren. Im März 2014 ließ die AKP-Regierung zeitweise auch Twitter und abermals YouTube sperren, weil über beide Dienste Tonbandaufnahmen mit Korruptionsvorwürfen gegen Erdoğan und seinen innersten Machtzirkel verbreitet wurden (Zeit online, 1.12.2015).

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