17. Dezember 2014 Bernhard Sander
Generalstreik in Belgien
Zum zweiten Mal haben die drei großen Gewerkschaftsbünde erfolgreich zum Generalstreik aufgerufen. Dazwischen hatte es regionale Streiks gegeben. Die Gewerkschaftsbewegung ist zwischen einem an der sozialistisch-sozialdemokratischen Partei orientierten, einem christlichen und einem liberalen Flügel gespalten. Allein deshalb ist die massenhafte Beteiligung schon ein Erfolg.
Allerdings sind die Liberalen an der Regierung beteiligt, die sich im Koalitionsvertrag den Angriff auf die belgische Variante des rheinischen Kapitalismus vorgenommen hat. Die Koalition aus flämischen Separatisten und Christdemokraten und neoliberalen Hardlinern aus beiden Sprachgruppen hat beschlossen, das Rentenalter heraufzusetzen und die Kopplung der Lohnentwicklung an die Preissteigerung vorübergehend aufzuheben.
Noch bevor diese Vorhaben in Gesetzentwürfe umgesetzt worden sind, gingen vor allem die Beschäftigten der öffentlichen Dienste, aber auch die für Belgien wichtigen Hafenarbeiter auf die Straße. In Antwerpen, dem zweitgrößten Hafen Europas, richtet sich der Streik quasi direkt gegen den rechtspopulistischen N-VA-Bürgermeister und Schattenministerpräsidenten Bart De Wever. Er benutzt das auch hierzulande beliebte Argument »Die Gewerkschaften streiken das Land kaputt«.
Im November war es beim ersten Generalstreik zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen, weil offenbar auf politische Vorgaben hin Polizeireserven nicht eingesetzt wurden (Polizistengewerkschaften klagen deswegen). Ziel war es offensichtlich, den Protest zu desavouieren. Die Gewerkschaften blockierten die Zuwege zu den Industriegebieten. Wo gearbeitet wurde, waren es teilweise Schichten vom Vortag, die von ihren Unternehmen mit Zulagen usw. »motiviert« wurden, auf dem Betriebsgelände zu bleiben.
Hinter den Einschnitten, die mit der Agenda 2010 zu vergleichen sind, steht das Regime der EU-Kommission, die Belgien wie Italien und Frankreich wegen zu hoher Neuverschuldungsquoten ins Visier genommen hat. (vgl. dazu Bernhard Sander, »Schwedische« Regierung in Belgien auf deutschem Kurs) Insofern ist dieser Generalstreik ein politischer Streik, weil er sich gegen das »System Tietmeyer« richtet, das seit 1996 immer wieder zu Protesten in Europa geführt hat.
Damit sind aber auch schon die Defizite angesprochen. Fast in jedem Land, in dem es zu solchen Bewegungen kommt, fehlt der politische Ansprechpartner. Die Gewerkschaften sind mitnichten der »bewaffnete Arm« der Sozialisten, wie dies die liberale Parteivorsitzende formulierte. Zwar gibt es in Belgien eine Bürgerbewegung, die sich solidarisiert, ein Erstarken der populistisch geöffneten Partei der Arbeit (PTB+) und eine im Wahlkampf links gewendete Sozialdemokratie.
Aber daraus ist noch keine hegemoniefähige Konstellation entstanden, wie sie Syriza offenbar in Griechenland aus ehemaligen Sozialdemokraten, Basisinitiativen, alternativen Ökonomen und Kommunisten verschiedenster Herkunft formt. Zudem wäre es an der Zeit, diese Proteste gegen die Zerstörung der nationalen sozialstaatlichen Errungenschaften einmal wieder auf europäischer Ebene zu koordinieren.
Der dritte Mangel ist, dass in diesen Protesten keine Alternativen zur Sprache kommen. Allein Belgien hat in der Abwicklung der Dexia-Bank mit sieben Mrd. Euro fast so viel Geld zuschießen müssen, wie jetzt aus dem Haushalt gestrichen werden (11 Mrd. Euro). Die überbordenden Schulden zur Rettung der Bankensysteme haben die Finanzsysteme nicht stabiler gemacht, schränken aber den haushaltspolitischen Spielraum durch steigende Zinszahlungen ein. Die Realwirtschaft stagniert auch in Belgien, sodass die Produktivitätsfortschritte nicht durch Wachstum kompensiert und Arbeitsplätze vernichtet werden.
Belgien leidet zudem als Transitdrehscheibe an den Schwankungen des Welthandels und hat sich von der Großen Rezession 2008 noch nicht erholt. Vor allem aber fehlt die für notwendige Reformen wichtige soziale Ausgewogenheit, weil die vermögenden Klassen gänzlich von einem Beitrag zur Haushaltssanierung befreit bleiben.
Der Streiktag war gleichwohl einer der größten seit den 1980er Jahren und hat damit einen hohen symbolischen Wert.