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Peter Wahl
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

6. November 2015 Joachim Bischoff / Björn Radke: Zwischen Flüchtlingsstrom und neoliberalen Strukturreformen

Griechenland im Schraubstock

Die seit Monaten anwachsenden Zahl von Schutzsuchenden, die über die Balkanroute nach Mittel- und Nordeuropa ziehen, sind für Griechenland eine besondere Herausforderung. Die neue Syriza-Regierung steht seit ihrem Amtsantritt aber nicht nur wegen der Flüchtlingsströme unter erheblichem Druck.

Sie muss bis Mitte November weitere Sparmaßnahmen und Privatisierungen durchsetzen, da die EU-Institutionen angedroht haben, die rund drei Mrd. Euro, die Griechenland im Oktober von den Gläubigern hätte bekommen sollen, aus dem im Juli durchgesetzten dritten Memorandum zurück zu halten, obwohl das Land darauf angewiesen ist.

Ministerpräsident Alexis Tsipras sieht sein Land durch die gleichzeitige Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge und die Sparauflagen der Geldgeber zunehmend überfordert. Griechenland habe eine Verantwortung übernommen, die seine Möglichkeiten übersteige. Die europäischen Geldgeber sollten gegenüber Athen deshalb die gleiche Solidarität zeigen, die Griechenland in der Flüchtlingsfrage praktiziere.

Griechenland ist das am stärksten von der Flüchtlingskrise betroffene EU-Land und braucht die Unterstützung Europas, wenn es angesichts dieser Belastungen nicht untergehen soll. Tsipras hatte bereits auf dem EU-Gipfel Mitte Oktober um Unterstützung gebeten. Seine Forderungen nach finanzieller Entlastung, vor allem der Inseln in der Ägäis, und der Entsendung von Grenzschützern konnte Tsipras jedoch nicht durchsetzen. Wenn Griechenland der EU bei der Steuerung der Flüchtlinge helfen soll, dann braucht es technische und finanzielle Hilfe, und einen merklichen Schuldenerlass. Dies würde insgesamt die Spielräume schaffen, die nötigen Reformen zwar langsamer, dafür aber konsequenter umzusetzen.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sicherte der griechischen Regierung Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu, stellte aber nichts Konkretes in Aussicht. Die deutsche Regierung will Griechenland wegen der Flüchtlingskrise keine Abkehr von seinem mit der Euro-Zone vereinbarten Reformkurs erlauben. »Wir können hier keinen Rabatt geben«, sagte ein Sprecher des deutschen Finanzministeriums. Die Reform-Vereinbarung enthalte bereits viele Möglichkeiten zur Flexibilität. Allerdings gebe es bei ihrer Umsetzung noch »erhebliche Lücken«, die geschlossen werden müssten.

Nach seiner Wiederwahl im September hatte Alexispräsident Tsipras erklärt, Griechenland habe wegen des Sparprogramms schwierige Zeiten vor sich. Um aus der Krise zu kommen, gebe es keine »magischen Lösungen«. Er versprach, die sozial Schwachen zu schützen. Die griechische Regierung ist u.a. nicht bereit, die Renten, die unter 1.000 Euro liegen, zu kürzen. Und weil viele WohnungsbesitzerInnen hoch überschuldet sind, erließ die Regierung Anfang des Jahres ein Gesetz, um Hauptwohnsitze vor der Zwangsvollstreckung zu schützen. Die Gläubiger wollen dieses Gesetz kassieren.

Es geht um faule Kredite im Immobiliensektor – und um eines der letzten Versprechen von Syriza an die Bevölkerung, das bisher den Sparforderungen nicht geopfert wurde. Der Ministerpräsident will durchsetzen, dass ImmobilienbesitzerInnen einer Zwangsräumung ihrer Häuser entgehen, auch wenn sie mit der Rückzahlung ihres Hypothekenkredites im Rückstand sind. »Der Erstwohnsitz muss geschützt werden«, sagte Tsipras immer wieder und fordert, dass Immobilien mit einem Wert bis zu 325.000 Euro nicht an die Banken fallen dürfen. Tausende GriechInnen fürchten um ihr Zuhause: Denn auf Druck der internationalen Geldgeber soll ein Gesetz gelockert werden, das bisher vor Zwangsräumung schützte. Von der Lockerung wären Schätzungen zufolge rund 300.000 Haushalte betroffen.

Ein weiterer Streitpunkt ist die Sanierung der Banken. Die vier größten Institute des Euro-Staates brauchen bis zu 14,4 Mrd. Euro an Kapital, um mit faulen Krediten und der Wirtschaftskrise klar zu kommen. Das ist deutlich weniger als die 25 Mrd. Euro, die von den europäischen Partnern als Puffer zur Rekapitalisierung der Banken vorgesehen waren. Trotzdem bestehen die Gläubiger beinhart auf die Erfüllung der den Griechen im Rahmen des Memorandums abverlangten Meilensteine. Sollten diese erfolgreich abgearbeitet sein, könnte die Überweisung erfolgen. Ein Datum gebe es aber dafür nicht.

Dabei müssten auch die internationalen Geldgeber die Erholung der griechischen Ökonomie in das Zentrum der Politik stellen, und die ist ohne sanierte Banken nicht zu haben. In ihrer Herbstprognose sagt die EU-Kommission dem Euro-Krisenland im kommenden Jahr noch einen Rückgang seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 1,3% voraus. Als Gründe nannte sie die fortwirkenden Effekte der in diesem Jahr nur knapp vermiedenen Staatspleite und die Probleme der Banken. 2015 erwartet die Kommission einen BIP-Rückgang um 1,4%. Licht am Ende des Tunnels sieht sie erst ab 2017, wenn das griechische BIP um 2,7% zulegen dürfte.

Damit wird immer deutlicher, wie tief die Wunden sind, die der monatelange Reform-Streit der griechischen Regierung mit der Euro-Zone in der Wirtschaft gerissen hat.[1] Erst im Jahresverlauf 2016 werde das Vertrauen von Verbrauchern und Investoren zurückkehren, erwartet die EU-Kommission. Mit der Umsetzung von Reformen werde das BIP-Wachstum dann 2017 an Fahrt gewinnen. Auch die Beschäftigungslage werde sich erst ab dann wieder verbessern: 2016 werde die Arbeitslosenquote noch bei 25,8% (2015: 25,7%) liegen und 2017 auf 24,4% fallen.

Das griechische Staatsdefizit sieht die EU-Kommission im kommenden Jahr bei 3,6% – nach 4,6% in diesem Jahr. Für 2017 sagt sie dem Land ein Defizit von 2,2% des BIP voraus. Das bereits seit 2010 vom Kapitalmarkt abgeschnittene Land wird bereits mit dem dritten Hilfspaket seiner Euro-Partner und des IWF vor der Staatspleite bewahrt. Im Gegenzug für weitere Hilfsgelder von 85 Mrd. Euro hatte die Regierung den Geldgebern erneut Strukturreformen zugesagt.

Neben der Sanierung der Ökonomie hat die griechische Regierung eine weitere, ähnlich große Herausforderung zu bewältigen: Seit Jahresanfang kamen 560.000 Flüchtlinge über das Meer in das Land. Mittlerweile machen Menschen aus Syrien einen großen Teil der Flüchtlinge aus, was auch zu einer Verlagerung der Fluchtrouten Richtung Osten führte. Die Menschen versuchen nun von der Westküste der Türkei auf eine der griechischen Inseln – in den meisten Fällen Lesbos – überzusetzen. Die allermeisten Bootsflüchtlinge kamen im Oktober an. An der türkischen Westküste warten noch immer Hunderttausende auf einen Platz in kleinen, oft völlig überfüllten Booten. Deshalb rechnet die griechische Polizei damit, dass auch in den kommenden Wochen täglich 7.000 Flüchtlinge Griechenland erreichen werden.

Die sich abzeichnende humane Katastrophe soll durch einen 17-Punkte-Plan der EU unterbunden werden. Es sollen insgesamt 100.000 Aufnahmeplätze für Flüchtlinge geschaffen werden. 50.000 davon sollen in Griechenland entstehen, davon 30.000 bis Ende des Jahres. Zusätzlich erhält Griechenland 5,9 Mio. Euro weitere Flüchtlingshilfe. Das Geld soll dem Land dabei helfen, die große Zahl der ankommenden Flüchtlinge auf den griechischen Inseln in der Ostägäis zu versorgen. Griechenland könne damit die geplanten Aufnahmezentren (Hotspots) einrichten. Die Summe solle auch die Kosten für den Transport von mindestens 60.000 AsylbewerberInnen zum griechischen Festland in einem Zeitraum von vier Monaten decken, teilte die EU-Kommission in Brüssel mit. Die Unterstützung sei strikt auf Personen begrenzt, die per Fingerabdruck registriert seien.

Während die Situation auf den griechischen Inseln, besonders auf Lesbos, zunehmend unerträglicher wird, wurden jetzt die ersten vier Familien aus Syrien und zwei aus dem Irak – insgesamt 30 Menschen – von Athen nach Brüssel ausgeflogen. Sie stellen den Beginn der Umverteilungsaktion dar, die im September von einigen EU-Ländern beschlossen worden war. Sie sieht die Umverteilung von knapp 160.000 Schutzsuchenden aus Italien und Griechenland nach Nord- und Westeuropa vor.

Bisher wurden nach Angaben der EU-Kommission aber nur 86 Flüchtlinge umverteilt. »Es dürfte eigentlich kein Problem sein, unter 570 Millionen Einwohnern in der EU diese Menschen verteilen zu können«, sagte EU-Parlamentspräsident Schulz. Er bedankte sich bei den GriechInnen, die den Flüchtlingen trotz einer der schlimmsten Finanzkrisen ihrer Geschichte helfen würden. Angesichts der katastrophalen Zustände auf den griechischen Inseln, sind dieser Dank und die ersten Verteilaktionen eher Symbolakte ohne ernsthafte Anzeichen wirklicher effektiver Maßnahmen, die das Elend wirksam bekämpfen.

Allein am ersten November-Wochenende wurden 1.400 Flüchtlinge aus den Gewässern der Ägäis gerettet. Zuvor erreichten Tausende MigrantInnen an Bord von Schlauch- und Plastikbooten die griechischen Inseln. Der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, sagte in einem Interview, dass der Insel Grabstätten für die verstorbenen Flüchtlinge ausgingen. Er hoffe darauf, dass ein an den örtlichen Friedhof angrenzendes Feld bald genutzt werden könne, um neue Gräber auszuheben. Er verlangt, dass Fähren die Flüchtlinge direkt und sicher aus der Türkei nach Griechenland bringen sollen, um sie vor dem Ertrinken zu bewahren. Solange die EU nicht Druck auf die Türkei ausübe, den Zustrom zu kontrollieren, bleibe keine andere Möglichkeit, als die Menschen zur Registrierung mit Fähren nach Lesbos zu bringen. Die Leichenhallen der Insel seien voll mit Opfern. »Wir müssen dieses Verbrechen beenden«, sagte Galinos.

Schon werden in der Öffentlichkeit Überlegungen lanciert, den etwa zehn Kilometer langen Zaun an der türkisch-griechischen Grenze niederzureißen. Bislang lehnt die Regierung eine Grenzöffnung ab. Dies würde zu einer dramatischen Erhöhung der Flüchtlingszahlen in Richtung Westeuropa über die Balkanroute führen. In der griechischen Hafenstadt Piräus sind innerhalb von 24 Stunden knapp 8.700 Flüchtlinge und Migranten von den Ägäis-Inseln angekommen.

Wenn die im Sommer vor allem in Deutschland praktizierte zivilgesellschaftliche »Willkommenskultur« in eine von der politischen Klasse forcierte Abschottungsunkultur mündet, wird es nicht ausbleiben, dass in der Folge Österreich und danach die Balkanländer nachziehen und den Prozess des Abschottens weiter nach Süden verlegen. Dann bahnt sich in Griechenland als südlichstem Land des Schengenraums aufgrund der dort sich stauenden Schutzsuchenden eine humane Katastrophe bisher nicht gekannten Ausmaßes an.

Nach einer Umfrage der Zeitung To Vima sehen 74% der GriechInnen die wachsende Zahl der Neuankömmlinge mit »Besorgnis«, gut 20% empfinden sogar »Ärger« angesichts großen Zahl der Schutzsuchenden. 58% erklären immerhin, sie hätten grundsätzlich eine positive Haltung zu den Flüchtlingen. Jede/r zweite GriechIn ist dafür, dass sie in staatlich subventionierten Wohnungen untergebracht werden sollen.

Bei einer weiteren Zuspitzung drohen in Europa und auch in Deutschland Entwicklungen, »die niemand wolle«. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnt daher zu Recht vor einem Umschlag politischer Spannungen in militärischen Auseinandersetzungen, wenn Deutschland die Grenze zu Österreich für Flüchtlinge schließen sollte. Mit Blick auf die Erfahrungen mit dem ungarischen Zaunbau an der Grenze zu Serbien sagte sie: »Es wird zu Verwerfungen kommen.« Es gebe heute auf dem westlichen Balkan zum Teil schon wieder solche Spannungen, dass sie jüngst um eine Konferenz zur Balkanroute gebeten habe. »Denn ich will nicht, dass dort wieder ... militärische Auseinandersetzungen notwendig werden«, die sie mit ihrer bisherigen Politik gerade verhindern wollte.

Während es der EU ein dringendes Anliegen und drei Mrd. Euro wert ist, mit der Türkei zu einem Abkommen zu gelangen, damit diese die Flüchtlinge von einem Übertritt nach Europa abhält, zögern die EU-Mitgliedsstaaten und auch die Bundesrepublik, zügig die Mittel der UN-Hilfsorganisationen z.B. für ihre Arbeit in den Flüchtlingscamps rund um Syrien um einen zweistelligen Milliardenbetrag aufzustocken und blockieren gleichzeitig die Freigabe der so dringend benötigten Tranchen von über zwei Mrd. Euro aus dem Hilfsprogramm für Griechenland.

[1] Siehe hierzu auch unsere ausführliche Analyse in der Flugschrift Isch over? Griechenland und die Eurozone. Syrizas Kampf gegen die neoliberale Hegemonie.

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