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30. März 2018 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Hintergründe der Hartz IV-Debatte

Grundsicherung neu ausrichten – aber wie?

Foto: dpa

Führende SPD-Politiker wie der stellvertretende Bundesvorsitzende Ralf Stegner, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller, der Chef der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus Raed Saleh und auch Klaus Barthel, Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, verknüpfen die proklamierte Erneuerung der Partei mit einer Debatte über die Zukunft des Hartz IV-Systems.

Dieses sei für die Sozialdemokratie nach wie vor ein wunder Punkt. In der Partei gebe es eine Sehnsucht, über die Änderung oder Abschaffung des Systems zu diskutieren. Es dürfe dabei keine Denkverbote geben. Als der neue Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil auf einer Pressekonferenz den Rückgang der Arbeitslosenzahl im März um 88.000 auf 2,458 Mio. kommentieren will, geht es fast nur um die neue Hartz-IV-Debatte.

Der amtierende Parteivorsitzende und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) stellt dagegen klar: Eine Abschaffung von Hartz IV könne und werde es nicht geben. Für die SPD bleibe es beim Kernprinzip dieser Arbeitsmarktreform. »Auch Herr Müller und Herr Stegner stellen das Prinzip des Förderns und Forderns nicht infrage«.

Scholz will die Debatte in realpolitischen Bahnen halten: Es gehe darum, die Instrumente des Förderns um die Ausgestaltung eines sozialen Arbeitsmarkts zu ergänzen. Dies sei nötig, weil viele Menschen noch immer keinen Job auf dem regulären Arbeitsmarkt fänden. »Die Zahl der Bürger, die über lange Zeit arbeitslos sind, muss sich deutlich verringern«, forderte Scholz. Er werbe dafür, intensiv mit Gewerkschaften, Arbeitgebern und dem Koalitionspartner zu sprechen, um einen gesellschaftlichen Kompromiss für den ergänzenden Vorschlag zu erhalten.

Mit der Union sei vereinbart, vier Milliarden Euro in der laufenden Regierungsperiode für einen sozialen Arbeitsmarkt auszugeben. Im Koalitionsvertrag stehe auch, dass selbst genutztes Wohneigentum nicht mehr als Vermögen berücksichtigt werden soll, wenn entschieden wird, ob jemand Grundsicherung bekommt oder nicht.

Vor 15 Jahren wurde unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder unter tätiger Mitwirkung von Olaf Scholz die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt beschlossen. Daraus wurde im Volksmund Hartz IV. Der Regelsatz beträgt heute 416 Euro im Monat. Die Leistung wird von den Steuerzahler*innen finanziert.

Es geht in der Auseinandersetzung seit langem um drei Punkte:

  • Die Hartz-IV-Sätze sind zu niedrig, um damit eine Existenz auf eingeschränktem Niveau finanzieren zu können.
  • Es ist nicht gelungen mit den Förderinstrumenten von Hartz IV den ersten Arbeitsmarkt für die Langzeitarbeitslosen nachhaltig zu öffnen. Die Langzeitarbeitslosigkeit bleibt auch unter guten Konjunkturbedingungen hoch.
  • Die »Arbeitsmarktreform« ist missbraucht worden zur Lohnsenkung. Der Arbeitsmarkt ist gespalten, der Niedriglohnsektor hat massiv zugenommen.

Das Hartz IV-System hat eine beträchtliche Reichweite. In den vergangenen zehn Jahren haben insgesamt 18,2 Mio. Menschen Hartz-IV-Leistungen bezogen – 9,33 Mio. Männer und 8,97 Mio. Frauen, 5,47 Mio. davon waren unter 15 Jahre alt. Gezählt sind dabei die Menschen, die zwischen Januar 2007 und November 2017 mindestens kurzfristig einmal Hartz IV bekommen haben. Es haben auch viele in einer persönlichen Übergangszeit vorübergehend Grundsicherung bezogen, etwa weil sie keine Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung hatten.

Im Februar 2018 bekamen laut Bundesagentur für Arbeit (BA) 5,95 Mio. Menschen Hartz IV. Davon waren 4,26 Mio. erwerbsfähig, rund zwei Drittel davon ohne arbeitslos zu sein, etwa weil sie einem Minijob oder einer Maßnahme zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nachgingen, Schule oder Hochschule besuchten oder weil sie wegen Krankheit arbeitsunfähig waren. Unterm Strich bekommt demnach fast jeder zehnte Haushalt in Deutschland Hartz IV. Im Schnitt machen die Leistungen der Grundsicherung dabei 954 Euro für eine sogenannte Bedarfsgemeinschaft aus.


Die strukturellen Mängel von Hartz IV

Die BA meldet jeden Monat Rekorde beim Abbau der Arbeitslosigkeit – die Beschäftigung steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt, alles wie gewohnt. So ist die Zahl der Arbeitslosen im März 2018 unter die Marke von 2,5 Mio. gefallen und damit auf den niedrigsten Stand in einem März seit der Wiedervereinigung. In diesem Monat wurden 2,458 Mio. Arbeitslose bei der Behörde registriert. Das waren 88.000 weniger als im Februar und 204.000 weniger als vor einem Jahr. »Die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt setzt sich auch im März fort«, erklärte BA-Chef Detlef Scheele. Die Arbeitslosenquote sank um 0,2 Prozentpunkte auf 5,5%.

Auch die Unterbeschäftigung, die zusätzlich Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit berücksichtigt, ist saisonbereinigt gegenüber dem Vormonat um 22.000 gesunken. Insgesamt belief sich die Unterbeschäftigung im März 2018 auf 3.441.000 Personen. Das waren 232.000 oder 6,3% weniger als vor einem Jahr.

Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sind weiter angestiegen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes hat sich die Zahl der Erwerbstätigen im Februar saisonbereinigt gegenüber dem Vormonat um 45.000 erhöht. Mit 44,32 Millionen Personen fiel sie im Vergleich zum Vorjahr um 618.000 höher aus. Der Anstieg beruht allein auf dem Zuwachs bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Diese hat nach der Hochrechnung der BA von Dezember auf Januar saisonbereinigt um 89.000 zugenommen. Insgesamt waren im Januar nach hochgerechneten Angaben 32,47 Mio. Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das waren 762.000 mehr als ein Jahr zuvor. Dabei dominiert allerdings die sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeit.

Oder anders ausgedrückt: Bei gleichbleibendem gesellschaftlichen Arbeitsvolumen gewinnen atypische Beschäftigungsverhältnisse an Gewicht. Es müssen sich mehrere Menschen die realexistierende Arbeit teilen.

Quelle: Aktuelle Sozialpolitik


Langzeitarbeitslosigkeit

Nachdem die Zahl der Langzeitarbeitslosen von 2011 bis 2015 auf hohem Niveau um die Millionenmarke stagnierte, gab es zuletzt einen spürbaren Rückgang. So waren im März 2018 insgesamt 845.000 Menschen als langzeitarbeitslos gemeldet, und damit 84.000 oder 9,0% weniger als im März 2017. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ging damit relativ gesehen sogar stärker zurück als die Zahl der Arbeitslosen insgesamt (minus 7,7%) im selben Zeitraum. Auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen lag mit 34,4% unter dem Wert des Vorjahres mit 34,9%.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Die Zahl der von Langzeitarbeitslosigkeit betroffenen BürgerInnen ist allerdings vor allem deshalb gesunken, weil weniger Arbeitslose so lange ohne Arbeit bleiben, dass sie die 12-Monats-Grenze überschreiten und zu Langzeitarbeitslosen werden. So wurden im zuletzt von der BA untersuchten 12-Monatszeitraum (Juli 2016 bis Juni 2017) »nur« 655.000 vormals Kurzzeitarbeitslose zu Langzeitarbeitslosen. Im Jahr 2015 gab es noch 736.000 solcher Neu-Eintritte in die Langzeitarbeitslosigkeit.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Laut BA ist dieser Rückgang der Zugänge vor allem die Folge einer verstärkten Förderung von Arbeitslosen, bevor sie langzeitarbeitslos werden. So nahmen im Zeitraum Juli 2016 bis Juni 2017 insgesamt 290.000 Kurzzeitarbeitslose mehr an Fördermaßnahmen teil als im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Die rückläufigen Übertritte in Langzeitarbeitslosigkeit führen zusammen mit den »natürlichen« Abgängen aus der Langzeitarbeitslosigkeit (z.B. Wechsel in die Altersrente) zu einem sinkenden Bestand an Langzeitarbeitslosen.

Quelle: Bundesagentur für Arbeit

Die rückläufige Zahl der Langzeitarbeitslosen bedeutet allerdings keineswegs, dass sich ihre Chancen, eine Lohnarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden, verbessert hätten. Das Gegenteil ist der Fall: Fanden 2014 noch 199.000 Langzeitarbeitslose eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt oder wurden selbstständig, waren es zuletzt nur noch 178.000 (gleitende Jahressumme Juli 2016 bis Juni 2017).

Die Chancen, als Langzeitarbeitsloser eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu können, sind extrem gering und gleichbleibend schlecht. Die »Abgangsrate in Beschäftigung am 1. Arbeitsmarkt und Selbständigkeit« stagniert seit 2015 bei nur 1,6%. Mit anderen Worten: Von je 1.000 Langzeitarbeitslosen können im Folgemonat nur 16 eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und dadurch ihre Arbeitslosigkeit beenden. Zum Vergleich: Von je 1.000 Kurzzeitarbeitslosen können immerhin im Folgemonat 102 Personen in den ersten Arbeitsmarkt wechseln.


Wer ist von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen?

Im Jahresdurchschnitt 2016 waren 437.000 der (damals) insgesamt 993.000 Langzeitarbeitslosen zwischen einem und zwei Jahren und 199.000 zwischen zwei und drei Jahren arbeitslos. 120.000 waren zwischen drei und vier Jahren und 236.000 vier Jahre und länger auf der Suche nach einer Beschäftigung. Während die Zahlen im Vorjahresvergleich in allen anderen Dauerklassen zurückgegangen sind, ist die Zahl derer, die vier Jahre und länger arbeitslos sind, gestiegen. Bei den Menschen mit einer sehr langen Dauer der Arbeitslosigkeit ist somit eine Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit festzustellen.[1]

Das Risiko, von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen zu sein, ist nicht für alle Personengruppen gleich hoch. Im Jahresdurchschnitt 2016 waren von allen Arbeitslosen 37% langzeitarbeitslos. Frauen sind etwas stärker betroffen als Männer. Vor allem haben jedoch ältere Menschen und Geringqualifizierte ein deutlich erhöhtes Risiko, langzeitarbeitslos zu sein. Ein Fünfjahresvergleich (Juni 2012 bis Juni 2017) zeigt, dass einzelne Personengruppen vom allgemeinen Trend der sinkenden Langzeitarbeitslosigkeit regelrecht abgekoppelt sind. So ist die Zahl der älteren Langzeitarbeitslosen (55 Jahre und älter) nahezu konstant geblieben (2012: 258.000, 2017: 254.000) und die Zahl der Geringqualifizierten ist sogar von 506.000 auf 523.000 angestiegen.


Die Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit

Erstens ist Langzeitarbeitslosigkeit vor allem ein Folgeproblem der Massenarbeitslosigkeit. Nimmt man nicht die offizielle Arbeitslosenstatistik, sondern geht von der tatsächlichen Arbeitslosigkeit (bei der Bundesagentur für Arbeit ausgewiesen als »Unterbeschäftigung«) aus, sind 3,4 Mio. Menschen arbeitslos. Dem stehen nur 840.000 offene Stellen (Vakanzen) gegenüber. Aufgrund dieser Arbeitsplatzlücke gibt es in vielen Bereichen des Arbeitsmarkts weiterhin Selektionsprozesse, bei denen ein Teil der Arbeitsuchenden im Kampf um die Jobs immer wieder und auch auf Dauer unterliegt.

Zweitens verhindert das Missverhältnis zwischen den Qualifikationsanforderungen der offenen Stellen und den Qualifikationen der Langzeitarbeitslosen teilweise eine Integration in den Arbeitsmarkt. Knapp die Hälfte (46%) der Langzeitarbeitslosen hat eine abgeschlossene Berufsausbildung, gut die Hälfte (54%) verfügt hingegen über keine. Aber nur 20% der offenen Stellen am ersten Arbeitsmarkt sind auch für Personen ohne Berufsabschluss zugänglich. Dieses Missverhältnis zwischen geforderten und vorhandenen Qualifikationen verdeutlicht die dringende Notwendigkeit, die Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung und insbesondere der Bildungsmaßnahmen, die zu einem Abschluss führen, deutlich auszuweiten.

Drittens hängt das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit entscheidend von der Verfasstheit des regionalen Arbeitsmarktes ab. In Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit ist auch der Anteil der Langzeitarbeitslosen gering (und umgekehrt). In Regionen mit sehr schlechter Arbeitsmarktsituation haben selbst Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung ein doppelt so hohes Risiko, langzeitarbeitslos zu sein. Trotz Berufsabschluss gelingt es in Regionen mit schlechter Arbeitsmarktsituation Arbeitslosen deutlich seltener, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Ihre Chance auf Arbeit ist nahezu nur halb so groß (55%) wie die von Arbeitslosen ohne Berufsabschluss, die in Regionen mit sehr guter Arbeitsmarktsituation leben.

Diese immensen Unterschiede beim Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit können nicht nur mit Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik überwunden werden. Gefordert ist eine beschäftigungsorientierte Struktur- und Wirtschaftspolitik, um vergleichbare Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen und die Gefahr von Abwärtsspiralen in den strukturschwachen Regionen zu bannen. Darüber hinaus geht es um die Entwicklung eines sozialen Arbeitsmarkts, um nahezu chancenlosen Personengruppen eine Perspektive zu eröffnen und soziale Teilhabe über Erwerbsarbeit zu ermöglichen. In strukturschwachen Regionen hat eine solche öffentlich geförderte Beschäftigung aber auch die Funktion, die fehlenden Arbeitsplatzangebote zu kompensieren und Angebote der öffentlichen Daseinsvorsorge zu stärken.


Zwei-Klassen-Arbeitsförderung

Die Chancen von Langzeitarbeitslosen auf eine Integration in den Arbeitsmarkt sind äußerst gering und Geringqualifizierte sowie ältere Arbeitslose ab 55 Jahren haben ein erhöhtes Risiko, langzeitarbeitslos zu sein. Sie benötigen eine besondere Förderung. Nur 10% der Langzeitarbeitslosen werden im Rahmen der Arbeitslosenversicherung betreut, 90% befinden sich im Hartz IV-System. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Arbeitslosen ohne abgeschlossene Berufsausbildung: 85% werden von den Jobcentern betreut, 15% von den Arbeitsagenturen. Auch die Mehrheit der älteren Arbeitslosen (57%) befindet sich im Hartz-IV-System.

Quelle: DGB

Angesichts der Problemlagen und des Förderbedarfs sind wir aber mit der völlig absurden Situation konfrontiert, dass Hartz IV-BezieherInnen im Vergleich zum Versicherungssystem deutlich seltener gefördert werden. Zudem gibt es strukturelle Unterschiede bei den eingesetzten Maßnahmen: Im Hartz-IV-System stehen – zum Teil sehr kurze – Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung im Vordergrund. Maßnahmen der beruflichen Bildung hingegen sind sehr selten und solche, die zu einem Abschluss führen, werden fast gar nicht gefördert. Dabei ist alles, was berufliche Weiterbildung fördert deutlich effektiver und führt häufiger zu einer Integration in den Arbeitsmarkt.

Die Diskriminierung der langzeitarbeitslosen Bürger*innen zeigt sich auch in der Höhe des Förderbetrags. Nach Berechnungen des Deutschen Landkreistags haben die Jobcenter für jeden einzelnen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher nur ein Fünftel der Finanzmittel zur Verfügung, die den Agenturen für »ihre« Arbeitslosen zur Verfügung stehen.[2] Unter dem Strich setzten die durch Sozialbeiträge finanzierten Arbeitsagenturen mit 787.000 Arbeitslosen 2016 insgesamt 2,83 Mrd. Euro für Fördermaßnahmen ein. Das sind 3.593 Euro für jeden Arbeitslosen. Die Jobcenter, deren Förderbudget das Bundessozialministerium aus Steuern finanziert, konnten hingegen 2,96 Mrd. Euro für Fördermaßnahmen einsetzen – wobei sie aber für 4,3 Mio. erwerbsfähige Hartz-IV-Bezieher zuständig sind. Der Betrag entspricht nur 688 Euro pro Person.


Strukturreformen

Statt Hartz IV generell in Frage zu stellen, müsste in der politischen Debatte darüber gestritten werden, wie die Bedingungen für die Bürger*innen verbessert werden können, die ihren Lebensunterhalt nur unzureichend oder gar nicht über den Verkauf ihrer Arbeitskraft refinanzieren können. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil befürwortet zu Recht eine Überarbeitung von Hartz IV: »Wenn wir den Sozialstaat der Zukunft gestalten wollen, reichen Konzepte, die über 15 Jahre alt sind, nicht mehr aus.« Dabei ginge es um folgende Maßnahmen:

1. Die Regelsätze müssen erhöht werden

Von Hartz IV zu leben, ist für viele ein Kraftakt. Die Sozialverbände fordern zu Recht: Die Regelsätze sollten höher angesetzt werden. »Die Leistungen in der Altersgrundsicherung, bei Hartz IV oder im Asylbewerberleistungsgesetz sind ganz einfach zu gering bemessen und schützen nicht vor Armut.« Die Regelsätze müssten sich am tatsächlichen Bedarf orientieren und ein Mindestmaß an sozialer Teilhabe garantieren. Politisches Wegducken darf es bei einer so zentralen Frage wie der des Existenzminimums nicht geben.

Die EUROSTAT-Daten zu »Einkommen und Lebensbedingungen« zeigen: Sozialleistungen (Renten und andere Sozialleistungen) mindern selbstverständlich die »Armutsgefährdung« (Armut) – gemessen an »60% des medianen Äquivalenzeinkommens nach Sozialleistungen« einer alleinstehenden Person in Höhe von 1.063,75 Euro pro Monat in der Bundesrepublik Deutschland – von 43,4% (35,3 Mio. Menschen) vor Sozialleistungen und vor Renten auf 25,3% (20,6 Mio. Menschen) vor Sozialleistungen (ohne Renten) und 16,5% (13,4 Mio. Menschen) nach Sozialleistungen und Renten. Aber eine »aktive Armutsbekämpfung« durch Sozialleistungen und Renten, die 13,4 Mio. Menschen als »armutsgefährdet« (arm) hinnimmt, ist als »Antwort unserer Solidargemeinschaft auf Armut« (BIAJ, 26. März 2018) nicht akzeptabel.

2. Erforderlich ist eine bürgernahe Verwaltungspraxis

Zu der Veränderung der Regelsätze gehört auch eine grundlegende Reform der Beantragung und Bewilligung dieser Sozialleistung. Besonders anstößig sind dabei die Sanktionen, deren Ausmaß immer noch gewaltig ist.

Quelle: Aktuelle Sozialpolitik


3. Die Förderung muss neu ausgerichtet werden

Die 58.000 Mitarbeiter*innen in den Jobcentern sollten sich überwiegend auf intensive Betreuung und Qualifizierungsmaßnahmen konzentrieren können. Mehr als die Hälfte ist heute damit beschäftigt, Leistungen auszurechnen und Bescheide zu erstellen. Das geht zu Lasten der intensiven Betreuung und der Vermittlungstätigkeit. Neben Entbürokratisierung in der Leistungsbewilligung geht es auch um mehr Geld für Betreuung. Seit 2013 schichteten die Jobcenter immer größere Summen in den Verwaltungshaushalt um. Zuletzt gaben sie dafür 62% ihres Jahresetats von rund acht Mrd. Euro aus, für die aktive Arbeitsmarktförderung nur noch 38%.

Die mehr als 400 Jobcenter in Deutschland haben im vergangenen Jahr 5,1 Mrd. Euro an Bundesmitteln für ihre Personal- und Verwaltungskosten ausgegeben. Das waren 764 Mio. Euro mehr, als dafür im Bundeshaushalt eigentlich vorgesehen waren. Der zusätzliche Bedarf wurde von den Jobcentern dadurch gedeckt, dass sie weniger Geld für die Förderung von Langzeitarbeitslosen ausgaben.

4. Sozialer Arbeitsmarkt als neues Kapitel

Union und SPD haben im Koalitionsvertrag festgelegt, den Jobcentern in der laufenden Wahlperiode vier Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Langzeitarbeitslose können dann mit Lohnkostenzuschüssen in der freien Wirtschaft, bei Wohlfahrtsverbänden oder gemeinnützig für Kommunen arbeiten. Das Geld soll in einen sozialen Arbeitsmarkt für 150.000 besonders schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose fließen. Neben kommunalen, gemeinnützigen Arbeitsfeldern, sollen auch Unternehmen über vier bis fünf Jahre Lohnkostenzuschüsse bis zur Höhe von 75 bis 80% des Arbeitslohns erhalten können. In kleinem Maßstab kann der soziale Arbeitsmarkt ein Auffangbecken für all diejenigen sein, die keinerlei Aussicht haben, reguläre Arbeit zu finden. Doch damit sind solche Maßnahmen allenfalls eine Ergänzung zum bestehenden Hartz-IV-System – und keinesfalls ein Ersatz.

5. Erhöhung des Mindestlohns

Rund 1,16 Millionen haben zuletzt zusätzlich zu ihrer beruflichen Tätigkeit Hartz IV-Leistungen erhalten. Sie haben einen Job und haben dennoch Anspruch darauf. Warum? Weil das Einkommen so niedrig ist. Von diesen 1,16 Mio. wiederum waren 1,07 Mio. abhängig beschäftigt – und davon wiederum mehr als die Hälfte sozialversicherungspflichtig beschäftigt: 586.000 in Teilzeit, 191.000 in Vollzeit. Wer Hartz IV für Aufstocker*innen abschaffen will, der muss auch den politischen Mut haben, einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 12 Euro pro Stunde durchzusetzen.


Fazit

Existenzsicherung in einer kapitalistischen Gesellschaft kann einmal durch die strukturelle Erhöhung der Möglichkeiten von Individuen erfolgen, auf dem Arbeitsmarkt ein angemessenes Einkommen zu erzielen. Andererseits sind die Einkommen am unteren Ende der Verteilung so zu gestalten, dass sie nicht zu weit von dem abweichen, was gesellschaftlich normal ist. Einkommensarmut zu verhindern, ist zwar eine notwendige, aber allein keine hinreichende Maßnahme. Zur Vermeidung von Armut bedarf es weiterer Maßnahmen, u.a. Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wohnen.

[1] Bestimmte Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit führen dazu, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit neu beginnt. Dadurch unterschätzt die offiziell ausgewiesene Zahl der Langzeitarbeitslosen das Problem einer lang andauernden Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt. Ergänzend zur Zahl der Langzeitarbeitslosen muss deshalb auch die Zahl der Hartz-IV-Langzeitbezieher betrachtet werden. Als Langzeitbezieher*in gilt, wer in den letzten 24 Monaten mindestens 21 Monate Hartz-IV-Leistungen bezogen hat. Dabei zeigt sich, das Ausmaß des Langzeitbezugs deutlich größer ist als das Ausmaß der Langzeitarbeitslosigkeit. So ist die Quote der Langzeitbezieher*innen drei Mal höher als die Quote der Langzeitarbeitslosen – jeweils bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen. Nimmt man eine Dauer von vier Jahren zum Maßstab, dann ist die Quote der Langzeitbezieher sogar acht Mal höher.
[2] Grundlage der Berechnung sind Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, die der Landkreistag für die direkte Vergleichbarkeit um einige Ausgabenpositionen bereinigt hat, die aus gesetzlichen Gründen nur bei den Arbeitsagenturen anfallen – sonst wäre das Gefälle noch größer.

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