1. August 2016 Bernhard Sander: Frankreichs Sicherheits»diskurs«
Im rechtsfreien Raum
Die bisherigen Überwachungsvorkehrungen in Frankreich sind keine Antworten auf die sogenannte Bedrohungslage. Einer der Attentäter von St. Etienne, du Rouvray, trug eine elektronische Fußfessel. 1.256 Überwachungskameras stehen in Nizza, seit Jahrzehnten von den Parteigängern Sarkozys verwaltet.
Durch 23.000 zusätzliche Ordnungskräfte will die Regierung nun solche Orte besser schützen. Die Mobilisierung einer »Nationalgarde« ehemaliger Angehöriger der Sicherheitsorgane und Freiwilliger öffnet wiederum dem Umfeld des Front National den Zugang zu den Sicherheitsorganen, ohne dass dahinter eine Strategie der Partei stände. Es gibt allein 50.000 Kirchen mit Publikumsverkehr, 1.000 von 2.500 islamische Kultstätten werden zurzeit von Sicherheitskräften gesichert. Welche absurden Personalaufblähungen bringt der Sicherheitsdiskurs noch hervor?
Minister Cazeneuve verklagt eine Polizistin der Stadtpolizei von Nizza, die behauptet hat, er habe Druck auf sie ausgeübt, den Bericht zu verändern. Jetzt werden Risse zwischen dem repressiven Staatsapparat (der FN hat dort große Sympathien) und den politisch Herrschenden sichtbar, aber auch zwischen der politischen Klasse und den Grundsätzen des bürgerlichen Rechtsstaats.
»Die Strategie, die die französische Politik verfolgt, stärkt den IS mehr, als dass sie ihn schwächt. Die Vernetzung von Polizei und Militär verhindert keine Attentate. Der Ausnahmezustand, dessen Verlängerung gerade beschlossen wurde, hat vor allem den Effekt eines sukzessiven Rückzugs des Rechtsstaats.« (Selim Nassib, Das verwundbare System, taz 27.7.2016)
Bis hinein in die regierungsnahen Reihen des medialen Apparates macht sich die Überzeugung breit, dass der Staatspräsident und sein Innenminister der »Bedrohungslage« nicht gewachsen sind. Die zeitweiligen Höhenflüge in den Umfragewerten nach den Attentaten im vergangenen Jahr bleiben aus.
Die rechtsbürgerlichen Republikaner sind heute bereit, den Rechtsstaat preiszugeben. Der Ex-Staatspräsident Nicolas Sarkozy äußerte, weil der Feind keine Tabus kenne, müsse Frankreich »unerbittlich« reagieren: »Juristische Spitzfindigkeiten, Vorsichtsmaßnahmen und zu kurz greifende Aktionen sind nicht länger hinnehmbar.«
Immer absurdere Straftatbestände werden erfunden und in Gesetzesinitiativen gegossen, um davon abzulenken, dass die bisherigen Repressionsmaßnahmen eben keine Antwort auf die soziale und kulturelle »Apartheid« der französischen Gesellschaft geben konnten. Die Republikaner verlangen:
- strafrechtliche Verfolgung für die Lektüre islamistischer Internetseiten;
- Schließung von islamistischen Moscheen und Ausweisung ausländischer Hassprediger;
- Hausarrest oder Präventivhaft für registrierte Gefährder;
- Sicherheitsverwahrung für zurückgekehrte Dschihadisten;
- keinen Straferlass für verurteilte Terroristen;
- neue Gefängnisse, Isolierung von radikalen Muslimen;
- Sicherheitsverwahrung für verurteilte Terroristen nach Verbüßung ihrer Strafe.
Die rechtsbürgerlichen Republikaner stehen in einem Wettlauf mit dem Front National, da ihre AnhängerInnen die Ressentiments und Werte in den Themen Innere Sicherheit und Islamfeindlichkeit teilen. Dementsprechend übertreffen sich die Kandidaten für die Vorwahlen im November, an denen sich auch Nicht-Mitglieder beteiligen können.
Bei den StimmbürgerInnen überwiegt die Abscheu vor einer Wiederholung einer Entscheidung zwischen Hollande und Sarkozy und eine starke Minderheit wünscht sich überhaupt keinen Kandidaten von 2012 mehr. Aber auch »neue Gesichter« wie Wirtschaftsminister Emanuel Macron (32%) oder der Bürgermeister von Bordeaux, Alain Juppé, auf der Rechten (43%) werden nicht wirklich als Kandidaten gewünscht, nur in den jeweils eigenen Reihen sind sie mehrheitsfähig. In der Beurteilung der wahlentscheidenden Wichtigkeit bestimmter politischer Themen gibt es kaum große Unterschiede zwischen den politischen Lagern. Die Innere Sicherheit und die Schaffung von Arbeitsplätzen liegen ganz vorn.
Eine andere Stimmung bestimmt aber mehr und mehr das Meinungsklima. Der Bürgermeister von Nimes (Republikaner) sprach nach den Attentaten vom 13. November von einem »Bürgerkrieg in Frankreich«. Lionel Luca, Parlamentsabgeordneter derselben Partei für das Departement Alpes-Maritimes ließ verlauten »Heute ist Paris Beirut! Das ist die Logik eines Landes auf dem Weg in die Libanisierung!« Vor allem in den schwierigen ländlichen Gebieten, wo das Landvolk große Sympathien für Front National hegt, redet man so.
Vor dem Ausschuss für Nationale Verteidigung der Nationalversammlung erklärte der Chef des Inlandsgeheimdienstes DGSI, Patrick Calvar, am 10. Mai: »Wir sind dabei Ressourcen abzustellen zur Beobachtung der Ultra-Rechten, die nur auf eine Konfrontation warten. Und diese Konfrontation wird es geben, denke ich. Noch ein oder zwei Attentate und sie wird kommen.« Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo war es zu 44 antimuslimischen Gewaltakten gekommen (monatlich werden weniger als fünf gezählt).
Kurz nach der Ermordung eines Polizisten und seiner Frau im Großraum Paris wurde ein Franzose beim Waffeneinkauf in der Ukraine verhaftet. In Korsika wurden muslimische Gebetsräume im Anschluss an eine Demonstration verwüstet und über 32% der Befragten haben dafür Verständnis. 18% der befragten 18- bis 30-jährigen sind unmittelbar nach dem Attentat von Nizza bereit, »sich für die Verteidigung der Bürger zu engagieren (Armee, Gendarmerie, operationelle Reserve)«, aber nur 8% sind bereit, sich politisch zu engagieren.
Am 24. Mai sagte Calvar vor demselben Ausschuss, dass er bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen zwischen der extremen Rechten und den Muslimen befürchte. »Sie werden eine Konfrontation zwischen der Ultrarechten und der muslimischen Gemeinde bekommen – wohlgemerkt, nicht mit den Islamisten, sondern mit der muslimischen Gemeinde«, sagte er. Die Radikalisierung der französischen Gesellschaft beunruhige ihn sehr. Sie lasse Zusammenstöße und Racheakte »unvermeidlich« erscheinen.
Umso abenteuerlicher erscheinen die scharfmacherischen Reden im bürgerlichen Lager auch, wenn man den Alarmismus eines um seinen Posten kämpfenden Geheimdienstgenerals nicht teilen mag. Der bewegende Appell des kommunistischen Bürgermeisters von St. Etienne-du-Rouvray wird kaum Gehör finden: »Lasst uns gemeinsam die letzten bleiben, die weinen, und seien wir die Letzten, die aufrecht stehen gegen die Barbarei und im Respekt für alle.«