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10. Januar 2018 Hinrich Kuhls: Zur Kabinettsumbildung in Großbritannien

Konservative Austeritätspolitik und die Brexit-Kosten

Zum politischen Jahresauftakt hat die britische Premierministerin May ihr Kabinett, wenn auch nicht ohne parteiinterne Querelen, auf einigen Positionen umgebildet. Die Schlüsselpositionen für die entscheidende Phase der Brexit-Verhandlungen verbleiben in den Händen der Befürworter eines harten Brexits.

Der Europäische Rat hatte auf seiner Tagung im Dezember das Zwischenergebnis der Verhandlungen zum EU-Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland gebilligt und grünes Licht für die zweite Phase der Verhandlungen gegeben. Das Zwischenergebnis steht unter einem Generalvorbehalt und die bisherigen drei Verhandlungskörbe – Austrittsrechnung, reziproke Anerkennung von Bürgerrechten, innerirische Grenze – sind längst nicht abschließend verhandelt. [1]

Die Verhandlungsstrategien beider Seiten widersprechen dem gemeinsam herausgestellten Ziel, die Außenhandelsbeziehungen auch nach dem EU-Austritt auf einer partnerschaftlichen Basis aufrecht zu erhalten. Die Direktive des Europäischen Rats, erst nach Klärung aller Austrittsmodalitäten über einen Außenhandelsvertrag zu sprechen, ist destruktiv, weil sich erst aus dem Inhalt des neuen Vertrags heraus einige Fragen klären lassen, die die EU-Verhandlungskommission vorab gelöst haben möchte. Als wichtigster Punkt zeichnet sich dabei der irisch-nordirisch-britische Markt ab, der sich im Rahmen der EU als politischer Union als Teil des europäischen Binnenmarkts stark ausgeweitet hat und dessen Integration massiv gefördert worden ist.

Die Verhandlungsführung der britischen Seite ist ebenfalls destruktiv. Obwohl die britische Regierung darauf pochte, von Anfang an zeitgleich über einen neuen Freihandelsvertrag zu verhandeln, hat sie ihre Leitlinien für diesen Vertrag nicht bekannt gemacht – weder im innenpolitischen Diskurs noch den EU-Verhandlungspartnern gegenüber.

Andererseits wird das Brexit-Votum rechtspopulistisch-nationalkonservativ als Auftrag zur Abschottung gegenüber der EU bei gleichzeitiger Stärkung der eigenen Position auf dem Weltmarkt interpretiert und umgesetzt. May stützt sich hier voll auf die Brexiteers in der Konservativen Partei und in ihrer Minderheitsregierung, die von der nationalistischen nordirischen DUP gestützt wird. Brexit heißt für die Mehrheit der Konservativen Austritt aus EU-Binnenmarkt und Zollunion.

Den Widerspruch von strikter Festlegung auf einen harten Brexit und Konzeptionslosigkeit in der Neugestaltung des innerbritischen Markts und der Außenhandelsbeziehungen hat die britische Regierung mit einer Politik der Mehrdeutigkeit zu überbrücken versucht. Diese Mehrdeutigkeit ist innenpolitisch und außenpolitisch destruktiv. Hält die Regierung an ihrem Kurs fest, die Brexit-Gesetzgebung autoritär ohne Ausweitung der Diskussion – mit Brexit-Gegnern, mit den Oppositionsparteien, mit den Institutionen der teilautonomen Gebietskörperschaften und mit den Wirtschaftsverbänden – umzusetzen, setzt sie die konstitutionelle Verfassung des Vereinigten Königreichs aufs Spiel.

Die wechselseitige Destruktivität hat für dieses Mal nicht zum Eklat geführt, da der Stolperstein der irisch-nordirischen Frage fürs erste mit einem – wiederum mehrdeutigen – Formelkompromiss aus dem Weg geräumt worden ist. Es soll keine harte Grenze auf der Insel Irland geben, keine neue regulatorische Barriere zwischen Nordirland und den anderen Landesteilen des Vereinigten Königreichs errichtet werden und es soll das Karfreitagsabkommen von 1998 in seiner Gesamtheit geschützt werden. [2]

Das Vereinigte Königreich hat nun die Aufgabe, »spezifische Lösungen« für die Lösung der irischen Grenzfrage zu finden, andernfalls – so die von May abgegebene Verpflichtungserklärung – werde es die »vollständige Angleichung« an die Binnenmarkt- und Zollunionsvorschriften in einer Vielzahl von Fragen beibehalten. Mit freundlicher Unterstützung des Kommissionspräsidenten Juncker hatte May diesen von der EU-Verhandlungskommission erzwungenen Formelkompromiss, der die Öffnung der nächsten Verhandlungsrunde ermöglichte, innenpolitisch als ihren Erfolg verkaufen können.

Zeitgleich konnten die Gegner eines harten Brexits in der konservativen Parlamentsfraktion im Zusammenspiel mit allen Oppositionsparteien der Regierung aufzwingen, dass sie das Endergebnis der Austrittsverhandlungen im Oktober dem britischen Parlament zur Billigung vorlegen muss. Trotzdem verschaffte der vom Europäischen Rat gegönnte relative Erfolg der Premierministerin eine Atempause, aus der heraus sie jetzt ihr Kabinett umbilden konnte.

 

Brexit-Hardliner als Gewinner

Anlass der leicht chaotisch verlaufenen Umbildung war die Entlassung des Kabinettskoordinators und faktischen Vizepremierministers Damian Green wegen Falschaussage in einem Ermittlungsverfahren wegen Vorhaltens pornographischer Dateien auf seinem Dienst-PC vor einigen Jahren. Es war der dritte Abgang eines Kabinettmitglieds seit der vorgezogenen Neuwahl im Juni letzten Jahres. Bisher hatten schon der Verteidigungsminister wegen sexueller Belästigungen und die Entwicklungshilfeministerin wegen eigenwillig in Israel geführter politischer Gespräche zurücktreten müssen.

Die Umbildung brachte eine Reihe von Rochaden in den innenpolitisch ausgerichteten Ressorts. Ausgeschieden ist die bisherige Bildungsministerin, weil sie die von May fest geplante Reaktivierung und Ausweitung privater Sekundarschulen nicht mittragen wollte. Der Nordirlandminister hat aus gesundheitlichen Gründen seine Demission eingereicht, was den Versuch, die über einjährige Blockade der Regierungsneubildung in Nordirland zu überwinden, ein weiteres Mal verzögern dürfte.

Zugleich hat May als Parteivorsitzende das politische Führungspersonal der Konservativen Partei fast vollständig ausgetauscht. Der bisherige Chairman (faktisch Generalsekretär mit Kabinettsrang) wurde durch Brandon Lewis ersetzt, der zuletzt im Innenministerium für Polizei, Europol und Feuerwehrwesen zuständig war. Neu ernannt wurden ebenfalls der Stellvertreter sowie neun der dreizehn Abteilungsleiter (vice chairmen).
Mit der Neuformierung der Spitze des Parteiapparats setzt May darauf, zukünftig Ereignisse wie ihre desaströse Wahlkampagne im letzten Frühsommer und die Negativwerbung des Tory-Parteitags im Oktober vermeiden zu können. Nach wie vor weigert sich die Parteispitze aber, ihre aktuelle Mitgliederzahl bekannt zu geben, die sich seit 2013 (letzte verfügbare Zahl) von 149.000 auf jetzt ca. 75.000 halbiert haben soll.

Auf dem ersten Blick scheint das empfindliche Brexit-Gleichgewicht im Kabinett weitgehend unverändert beibehalten worden zu sein und damit auch die Pattsituation zwischen Nein- und Ja-sagern zur Zollunion-Ausstiegsvariante im entscheidenden Kabinettsausschuss. Da aber alle außenpolitischen Ressorts unverändert von Brexit-Hardlinern geleitet werden, ist durch die personellen Veränderungen in Regierung und Parteileitung insgesamt das Gewicht derjenigen Minister gestärkt worden, die einen harten Brexit verfolgen: Johnson (Außen), Fox (Außenhandel), Davis (Brexit), Williamson (Verteidigung) und Gove (Umwelt und Landwirtschaft).

Die antieuropäische Ausrichtung der Außenpolitik wird durch die neu geschaffen Position eines Staatssekretärs im Brexit-Ministerium akzentuiert, dessen Aufgabe faktisch darin besteht, Vorkehrungen zu treffen für den Fall, dass das Vereinigte Königreich ohne Austrittsvertrag die EU verlässt und seinen Außenhandel nach WTO-Richtlinien, also aus einer durch neue und höhere Zollmauern geschützten Souveränität heraus neu organisieren muss.

Diesen Posten erhält Suella Fernandes, bisher Vorsitzende der European Research Group, des politisch-theoretischen und organisatorischen Zentrums der Brexit-Hardliner unter den konservativen Abgeordneten. Ihre Positionsbestimmung zu Beginn der Brexit-Verhandlungen lautete: »Der Abschluss eines Handelsabkommens wäre dann vorteilhaft, wenn es nicht nur die EU, sondern auch das Vereinigte Königreich begünstigt. Um dies zu gewährleisten, ist es notwendig, eine Auffangregelung für den Fall vorzubereiten, dass die EU darüber nicht verhandeln will. Glücklicherweise gibt es das bereits – nach den WTO-Regeln müsste uns die EU den Status der Meistbegünstigten zuerkennen. Mit dieser Rückzugsposition, die weitaus vorteilhafter ist als die EU/EWR-Mitgliedschaft, kann unsere Premierministerin aus einer Position der Stärke heraus verhandeln.« (Brexit Central, 16.1.2017)

Ob hingegen Mays Versuch, die Gegner eines harten Brexits durch Zuteilung einiger weniger Staatssekretärsposten in die Kabinetts- und Fraktionsdisziplin einzubinden, erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten. In Kürze werden von ihr Erklärungen erwartet, mit welchem Konzept die britische Regierung in die Verhandlungen über eine Übergangsphase und einen Neuvertrag eintreten wird. Die Rede wird mit einiger Spannung erwartet, da die anhaltende Vagheit die Nervosität in der Auseinandersetzung über die Perspektiven der Wirtschaft und die Kosten des Brexits verstärkt.

 

Unterschätzte Brexit-Kosten

Die destruktive Mehrdeutigkeit der Brexit-Politik der britischen Regierung ist auf die zentralen Parolen zurückzuführen, mit denen die Brexit-Befürworter für das Verlassen der EU gekämpft hatten: Die Rückgewinnung der Kontrolle über Handel, Grenzen und Justiz würde einhergehen mit einer schnellen ökonomischen Kräftigung eines Global-Britanniens, und vor allem mit der Freisetzung von enormen Finanzmitteln. Statt in den EU-Haushalt einzahlen zu müssen, könnte die langjährige Austeritätspolitik überwunden werden.

Unvergessen ist der rote Bus mit dem Slogan, den Johnson, Farrage und Gove propagierten, und der die entscheidende Wende in der Referendumskampagne zugunsten der Rechtspopulisten und Nationalisten brachte: »Pro Woche 350 Millionen Pfund mehr für das Nationale Gesundheitssystem statt für die EU-Bürokratie«. Das Überleben der konservativen Regierung hängt von zwei Fragen ab: Findet sie weiterhin ausreichend gesellschaftliche und parlamentarische Unterstützung für ihre Austeritätspolitik? Gelingt es ihr – und den überwiegend antieuropäisch ausgerichteten Massenmedien –  die Aufklärung der Täuschungen und offensichtlichen Lügen über eine neue Prosperität aufgrund des EU-Austritts weiter hinauszuzögern?

Im vergangenen Jahr verlangsamte sich das britische Wirtschaftswachstum, während sich die Weltwirtschaft erholte. Dies deutet darauf hin, dass das Brexit-Votum im Juni 2016 den depressiven Effekt gehabt hat, der in einigen Analysen erwartet worden war. Dieser negative Effekt wird sich voraussichtlich 2018 und darüber hinaus fortsetzen. Die britische Regierung steht vor der Aufgabe, die direkten Kosten zu minimieren. Aber der finanzielle Schaden ist vorprogrammiert. Außerdem ist der Brexit nicht die einzige Gefahr für die ökonomische Entwicklung.

Eine Analyse der Financial Times [3] ergab, dass die britische Wertschöpfung jetzt um etwa 0,9% niedriger ist, als wenn das Land für den Verbleib in der EU gestimmt hätte. Pro Woche gehen so etwa 350 Mio. Pfund verloren, also jene Summe, die die Brexit-Befürworter nach dem Austritt dem Nationalen Gesundheitsdienst hatten zukommen lassen wollen. Diese Einschränkung der Wirtschaftsleistung impliziert auch eine kumulierte Verringerung der Steuereinnahmen um etwa neun Mrd. Pfund. Der Rückgang wird sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Die britische Regierung hat auch eine Abschlusszahlung von mindestens 45 Mrd. Euro zusagen müssen, um die zweite Verhandlungsrunde eröffnen zu können. Die Vorstellung, dass durch den Brexit dem Staatshaushalt mehr Finanzmittel zufließen würden, hat sich schon jetzt als Fata Morgana erwiesen.

Bisher sind bis März 2019 im Haushalt 3,7 Mrd. Pfund an Brexit-Kosten vorgesehen. Schatzkanzler Hammond, der offen für den Verbleib in der Zollunion wirbt, weigerte sich bisher, höhere Beträge für den Fall eines harten oder ungeordneten Brexits zurückzustellen. Stattdessen will er – durch den Aufschub der Schuldenbremse um mehrere Jahre – ein Polster von 20 bis 30 Mrd. Pfund aufbauen, um zum Zeitpunkt des tatsächlichen EU-Austritts einem weiteren Abschwung mit Investitionsanreizen begegnen zu können. Dieses Polster wird er nicht zur Verfügung haben – wegen des sich schon jetzt abzeichnenden geringeren Steueraufkommens und wegen der tatsächlich erforderlichen Ausgaben zur Sicherstellung des Außenhandels (neue Regulierungsbehörden, neue IT-Programme für die Erfassung von Zöllen, ausgedehnte neue Zollabfertigungsanlagen in den Häfen etc.).

 

Zombie-Ökonomie

Der Internationale Währungsfonds hat in seinem Jahresbericht für Großbritannien den Rückgang der Wertschöpfung, die starke Abwertung des Pfund Sterling, den schnellen Anstieg der Verbraucherpreise, die anhaltende Einschränkung der Realeinkommen und die Abschwächung der Binnennachfrage vor allem seitens der privaten Haushalte herausgestellt. Das Wachstum der Unternehmensinvestitionen fiel aufgrund der gestiegenen Unsicherheit geringer aus, als es angesichts des starken globalen Wachstums und der hohen Kapazitätsauslastung zu erwarten gewesen wäre.

Die Unsicherheit wird anhalten. Der IWF geht für 2018 von einem BIP-Wachstum von rund 1,5% aus. Damit dürfte das Vereinigte Königreich in der G7 hinter Japan und Italien das Schlusslicht sein. Dass die Nettozuwanderung aus der EU ihren historisch niedrigsten Stand erreicht hat, stützt die Prognose, da es vor allem die überwiegend jungen MigrantInnen sind, die überproportional zum Anstieg des Bruttoinlandsprodukts und des BIP pro Kopf beitragen.

Die langfristigen Strukturveränderungen des vom Finanzkapital dominierten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und die politische Einbindung öffentlicher Infrastrukturen in die Finanzmärkte (Reprivatisierung; ÖPPs) haben in Britannien einen Punkt erreicht, an dem die Aufrechterhaltung einer reibungslosen öffentlichen Versorgung zunehmend in Frage gestellt ist.
Die seit 2010 von den Tories verschärfte Austeritätspolitik hat vor allem auf dem Wohnungsmarkt, bei der Gesundheitsversorgung und beim Personen- und Güterverkehr zu massiven Einschränkungen geführt. In allen drei Bereichen haben die Konservativen seit längerer Zeit keine Gestaltungskompetenz mehr. Die erneute Verstaatlichung der Eisenbahnen, die Reorganisation des Wohnungsmarkts und eine veränderte Finanzierung des Gesundheitssystems – Kernpunkte der Programmatik der Labour Party – werden von einer breiten Mehrheit der WählerInnen getragen.

 

Krise des Wohnungsmarkts

Den Zusammenhang von Mangel an bezahlbaren Wohnraum und Austeritätspolitik hat jüngst der Finanzanalyst Chris Watling skizziert. [4] Aus seiner Analyse des seit Ende des Bretton-Woods-Systems (1973) bestehenden Regulationssystems der internationalen Finanzmärkte zieht er den Schluss: Der modus operandi des gegenwärtigen Systems ist der Hauptgrund, dass in vielen entwickelten Volkswirtschaften eine populistische und die Gesellschaft spaltende Politik vorherrscht. »Dieses System erklärt insbesondere die Kluft zwischen den ›Besitzenden‹ und den ›Habenichtsen‹, und es ist der Grund dafür, dass wir einen ›Schulden-Superzyklus‹, eine nachfolgende Finanzkrise und zehn Jahre Austerität erlebt haben.« Die finanzielle Deregulierung in den 1980er Jahren mit den anschließenden drei Runden der Bankenregulierung (Basel I bis III) hat den größten globalen Schuldenaufbau ermöglicht, der jemals in der Geschichte verzeichnet wurde.

Dass nicht der Mangel an Wohnraum (der sehr wohl in einigen Bereichen auch zu konstatieren sei), sondern die Struktur der Kreditvergabe der Hauptgrund für die die hohen Hauspreise ist, illustriert Watling am Beispiel Britanniens. 1980 waren die Hypothekarkredite bei den Geschäftsbanken im Vereinigten Königreich – hier auch wegen des damaligen hohen kommunalen Wohnungsbestands – und in anderen entwickelten Ländern praktisch gleich Null. Heute machen Hypothekenschulden zwischen 40 und 75% der Kreditbücher der meisten westlichen Bankensysteme aus. Die kontinuierliche Reduktion der Risikogewichtung für Hypotheken durch Basel I bis III hat zusammen mit dem gegenwärtigen Geldsystem das rasche Wachstum der Hypothekenschulden begünstigt.

Gegenwärtig liegt in Großbritannien bei den wichtigsten Geschäftsbanken die Risikogewichtung für Hypothekarschulden bei etwa 13%. Dagegen verblieb die Risikogewichtung für Unternehmenskredite unverändert bei 100%. Faktisch müssen Banken also etwa achtmal so viel Zinsen für einen Firmenkredit verlangen, um die gleiche Kapitalrendite zu erzielen.

»Dieser verzerrte Anreiz, Hypothekarkredite (in unproduktive Vermögenswerte) zu fördern, anstatt Kredite an den Unternehmenssektor (in potenziell produktive Vermögenswerte) zu vergeben, ist einer der Gründe für die schlechten Produktivitätsergebnisse in den entwickelten Volkswirtschaften. Noch wichtiger ist, dass die Reaktion der Politik auf die Verschuldungskrise das Produktionspotenzial dieser Volkswirtschaften weiter untergraben hat, da die ungebundene Geldschöpfung die schumpeterianischen Kräfte der kreativen Zerstörung verhindert.«

Die britische Regierung verschärft diese Entwicklung ein weiteres Mal, indem sie im neuen Haushaltsgesetz im Bereich Wohnungswesen Finanzmittel nicht als Zuschüsse für den Wohnungsbau in kommunaler und genossenschaftlicher Hand bereitstellt, sondern die Grunderwerbsteuer für Ersterwerber privaten Wohnungseigentums erlässt oder reduziert, was die Aufnahme von Hypotheken erleichtert.

Der erste Medienauftritt der Premierministerin im neuen Jahr galt dem Posieren mit einer jungen Ersterwerberin (»first buyer«). Was als folkloristische Werbemaßnahme zur Rückgewinnung junger WählerInnen gedacht war, entpuppt sich so als Sinnbild für den jahrzehntelangen Niedergang der industriellen Basis Britanniens. Das Fanal für diese Strukturdefizite war die Brandkatastrophe im Grenfell Tower im letzten Sommer. Immerhin darf der für das Wohnungswesen zuständige Kommualverwaltungsminister Sajid Javid, der auf eine lange Karriere im internationalen Bankengeschäft zurückblicken kann, jetzt an seinem Amtssitz zusätzlich das Firmenschild »Minister für Wohnungsbau« anbringen.

 

Wiederkehrende Krisen in Infrastrukturbereichen

Der Nationale Gesundheitsdienst wird auch in diesem Winter wieder von einer Krise geschüttelt. Die Premierministerin hatte getönt, wegen zusätzlicher Finanzmittel in Höhe von 700 Mio. Pfund wäre der NHS in diesem Jahr besonders gut vorbereitet gewesen, um die Behandlungsengpässe zu vermeiden. Zwischenzeitlich hat sie sich bei den PatientInnen wegen der anhaltenden Missstände entschuldigt.

Der NHS ist seit Jahren unterfinanziert, seine 1,8 Mio. Beschäftigten sind seit Jahren einer Einkommensbremse in Höhe von 1% pro Jahr unterworfen. Alle Expertenanalysen weisen einen zusätzlichen Finanzbedarf von mindestens fünf Mrd. Pfund pro Jahr nach. Rechtliche Träger des NHS sind überwiegend lokale und regionale öffentliche Stiftungen, die die Staatsgelder verteilen. Über einhundert NHS-Stiftungen sind in Private Finance Initiatives (PFI, vergleichbar öffentlichen-rechtlichen Partnerschaften) transferiert worden. An den PFI sind überwiegend Fonds und Geschäftsbanken beteiligt. Ein erheblicher Teil des zusätzlichen Finanzbedarfs für das NHS muss für die Bedienung der privaten Einlagen und Kredite aufgewandt werden. Bei einigen Krankenhäusern machen diese Aufwendungen 20% des Gesamtbudgets aus. [5]

Die Empathie für die PatientInnen, die vor allem in den Notfall- und Unfallabteilungen unter den Mängeln leiden, ist in der Tory-Regierung nicht gänzlich verschwunden. Nachdem Staatssekretär Philip Dunne im Parlament erklärte, man solle die Situation nicht überdramatisieren und notfalls könnten PatientInnen auch sitzen statt liegen, wurde er im Zuge der Kabinettsumbildung umgehend entlassen.

Bei den landesweit 27 privaten Eisenbahngesellschaften spielt sich zum Jahreswechsel das folgende Ritual ab: An den beiden Weihnachtsfeiertagen wird der Bahnverkehr im gesamten Königreich komplett eingestellt. Am Neujahrstag folgt dann eine kräftige Erhöhung der Fahrpreise, die bereits seit Jahren europaweit mit Abstand die höchsten sind. In diesem Jahr werden die Beschwerden über die Fahrpreiserhöhung von 3,4% von einer Debatte über die Zweckmäßigkeit des britischen Bahnfranchising-Systems begleitet.

Die konservative Regierung hatte im November dem Ansinnen des Lizenznehmers der attraktiven Ostküstenverbindung von London nach Schottland zugestimmt, die Lizenz drei Jahre vor Ablauf zurückzugeben, da die Gesellschafter kein Kapital nachschießen wollten, sondern stattdessen den Bankrott androhten. Bei geringeren »Gewinnabführungen« wäre die Verbindung profitabel zu betreiben. Das Bailout der Bahninvestoren bedeutet, dass die Regierung auf die Zahlung von 2 Mrd. Pfund verzichtet, die somit nicht mehr für den Unterhalt des staatlichen Streckennetzes zur Verfügung stehen. Das Konsortium ist ausdrücklich nicht von weiteren Bewerbungsverfahren für Bahnlizenzen ausgeschlossen worden. Verkehrsminister Grayling nahm zu diesem Vorgang auf einer Dienstreise in Qatar Stellung. Seinen Posten hat er bei der Regierungsumbildung behalten.

 

Anhaltender Rückhalt für eine Zombie-Regierung?

Mays erstes Regierungsjahr war davon geprägt, dass ihr Versuch, in der Austeritätspolitik einen Kurswechsel einzuleiten, gescheitert ist. Gegenüber den Verfechtern einer Fortsetzung der harten Austerität um Schatzkanzler Hammond hatte sie eine Aktivierung der Industriepolitik und Ansätze zur Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur nicht durchsetzen können. Die Zerstörung der öffentlichen Einrichtungen schreitet weiter voran.

Ihr zweites Regierungsjahr steht jetzt eindeutig im Zeichen der Durchsetzung des harten Brexits. Mit der Umbildung des Kabinetts sind die Befürworter dieser Option des EU-Austritts gestärkt worden. Ökonomisch werden die nicht vermeidbaren Restriktionen der Reproduktion der gesamten Gesellschaft ignoriert, politisch wird das Geschäft der Rechtspopulisten vorangetrieben. Eine Zombie-Regierung stellt sich die Aufgabe, eine Zombie-Ökonomie mit Hilfe einer totgeweihten Brexit-Ökonomie zu retten. Es bleibt die Frage, ob und wann es einer sich revitalisierenden britischen Gesellschaft gelingt, den Zombies zur Ruhe zu verhelfen.



[1] vgl. Hinrich Kuhls: Brexit-Verhandlungen, Phase zwei. In: Sozialismus 1/2018, S. 10–14.
[2] Auf die komplizierte Situation in Nordirland wird in einem Beitrag im Februarheft von Sozialismus näher eingegangen.
[3] Chris Giles: The real price of Brexit begins to emerge. In: Financial Times, 19.12.2017, S. 11.
[4] Chris Watling: Zombie companies stalk a broken monetary system. In: Financial Times, 27.12.2017, S. 24
[5] Vgl. Kerry-Anne Mendoza: Austerity. The Demolition of the Welfare State and the Rise of the Zombie Economy. Oxford 2016: New Internationalist, S. 21-41

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