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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
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376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

7. Dezember 2015 Hinrich Kuhls: Nachwahl zum britischen Unterhaus

Jim McMahon beerbt den Sozialisten Michael Meacher (†)

Jim McMahon und Michael Meacher (1939-2015)

In einer Nachwahl zum britischen Unterhaus am 3. Dezember hat die Labour Party ihren Parlamentssitz im Wahlkreis Oldham West und Royton verteidigen können. Wahlgewinner ist Jim McMahon, bisher Vorsteher von Rat und Stadtverwaltung in Oldham, mit 62% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 40%.

Mit einem Rückstand von 10.700 Stimmen landete der Bewerber der rechtsnationalen UK Independence Party (23%) wieder abgeschlagen auf dem zweiten Platz – von vielen britischen Medien unerwartet, hatten sie doch auf ein Kopf-Kopf-Rennen oder eine knappe Wahlentscheidung spekuliert. Den dritten Platz erreichte die Konservative Partei mit 9% der Stimmen.

Auch wenn bei Nachwahlen die Wahlbeteiligung gewöhnlich niedriger liegt als bei Gesamterneuerungswahlen, so ist die Tatsache, dass drei von fünf Wähler*innen der Wahlurne fern geblieben sind, wohl das markanteste Ergebnis dieser Wahl. Des Weiteren fällt auf, dass das UKIP-Ergebnis den landesweiten Trend bestätigt. Bei der Europawahl 2014 waren die Rechtspopulisten vor den Konservativen zweitstärkste Partei gewesen, bei der letzten Parlamentswahl erhielten sie mit 12.6% die drittmeisten Stimmen. Schließlich macht das Ergebnis deutlich, dass Labour im UK-Landesteil England den politischen Wechsel nur schaffen kann, wenn die Partei vor allem in ihren Hochburgen Wechselwähler von den Rechtspopulisten zurückgewinnen kann.

Diese erste Nachwahl zum britischen Unterhaus seit den Parlamentswahlen im Mai 2015 zeigt wie in einem Brennglas die aktuelle politische Lage in den Städten in Nord- und Mittelenglands sowie die Situation der Labour Party. Im Mai hatte Micheal Meacher wie immer seit 1970 den Wahlkreis für die Labour Party gewonnen, und zwar mit 55% der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 60%, womit er den UKIP-Bewerber (21%) mit mehr als 14.000 Stimmen Abstand auf den zweiten Platz verwies; der Kandidat der konservativen Partei hatte 19% erzielt. Die Nachwahl war notwendig geworden, weil der Parteiveteran und Sozialist Michael Meacher Ende Oktober im Alter von 75 Jahre verstorben war.


Oldham Metropolitan Borough

Der Wahlkreis Oldham West and Royton ist Teil der 200.000-Einwohner-Stadtregion Oldham im Nordosten der Metropolregion Manchester. Die Einwohnerzahl der Stadt Oldham wuchs während der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert schnell und stetig. Die Stadt war ein Zentrum der Baumwolle verarbeitenden Textilindustrie und blickt auf eine wechselvolle Geschichte der Arbeiterbewegung zurück.

Mit dem Niedergang der Textilindustrie schon ab Beginn des 20. Jahrhunderts setzte ein lang anhaltender Deindustrialisierungsprozess ein. Die Sozialstruktur der Innenstadtbezirke ist durch einen hohen Anteil der Arbeiterklasse, vor allem der working poor, geprägt, die Mittelklasse wohnt in den Außenbezirken.

Ein Drittel der Einwohner hat einen Migrationshintergrund; die meisten von ihnen sind aus Bangladesh, Pakistan und Indien zugewandert. Im letzten Zensus (2001) bezeichneten sich 25% der Einwohner als einer südasiatischen oder einer britisch-asiatischen ethnischen Gruppe zugehörig. So lag es nicht fern, dass der UKIP-Vorsitzende Nigel Farage die Wahlniederlage seiner Partei vorab mit dem verhöhnenden Satz »UKIP wird von nicht Leuten gewählt, die kein Englisch sprechen« kommentierte.

Die Stadtkommune Oldham ist Gründungsmitglied des progressiven Kommunalverbands »Co-operative Councils Innovation Network«, dessen Mitglieder sich zum Ziel gesetzt haben, die Zusammenarbeit der Kommunalverwaltung mit den »communities«, also den Bürger*innen in ihren Stadtteilen und ihren zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, auf Basis einer kooperativen, den »Bürger in den Mittelpunkt stellenden« Politik weiterzuentwickeln. Die kooperative, die Selbstaktivität der Stadtbewohner*innen unterstützende Stadtpolitik ist jedoch enormen Schwierigkeiten ausgesetzt, seitdem die konservative Zentralregierung die Finanzzuweisungen an die Kommunen innerhalb weniger Jahre um mehr als ein Drittel gekürzt hat.

Damit werden auch die positiven Ansätze, mit der die Segregation entlang ethnischer communities in Oldham weiter reduziert werden soll, unterminiert. Die Austeritätspolitik der Konservativen, die inzwischen auch die Kommunen im wohlhabenden Londoner Speckgürtel vor schwierige Situation stellt, lässt in Städten wie Oldham trotz engagierter kommunalpolitischer Initiativen die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben nicht mehr zu.

Einige Kennziffern dieser mittleren Großstadt: Oldham zählt zur Gruppe der am stärksten benachteiligten Kommunen (Platz 280 bei insgesamt 326 Kommunen in England); 38% der Einwohner stehen finanziell unter Druck; 25% sind von Energiearmut bedroht; das für England typische Wohneigentum sinkt, stattdessen Anstieg des privaten hochpreisigen Mietwohnungsangebots um 33% innerhalb der letzten zehn Jahre; 116 Eigenheime wurden 2014 gebaut; 71% aller Wohnimmobilien haben nur einen niedrigen Standard und sind den beiden untersten Stufen der Gemeindesteuer zugeordnet.

27% der Kinder leben in Familien mit niedrigem Einkommen; 13% der Einwohner beziehen Sozialleistungen für Arbeitslose (nationaler Durchschnitt 9,8%); 22% der Einwohner haben einen qualifizierten Ausbildungsabschluss (degree level qualification) gegenüber 35% im nationalen Durchschnitt; gravierend ist die schlechte Ausstattung der Schulen: nur 36% der Sekundarstufenschüler*innen lernen in Schulen, die dem Leistungsstandard OSTFED entsprechen gegenüber 75% im gesamten Land. (Zahlen aus »The Oldham Plan. A framework for success 2015-2018«)


Michael Meacher (1939-2015)

Die Entwicklung, der sich vor allem Städte wie Oldham, aber auch das gesamte britische Gemeinwesen gegenübersehen, ließe sich so kommentieren: »In den letzten 40 Jahren war es Konsens, unerbittlich auf größere gesellschaftliche Gleichheit bei Einkommen und Vermögen zu drängen. Heute sind wir nicht nur Augenzeugen einer beispiellosen Konterrevolution, die die Wende gebracht hat, sondern wir sind auf dem Weg, die aus der Vorkriegszeit bekannte Polarisation zwischen extremem Reichtum und extremer Armut wieder herzustellen, schon sehr weit vorangekommen ist.«

So der Kommentar von Michael Meacher, allerdings nicht im Jahr 2015 geschrieben, sondern 1984 in einem Originalbeitrag für Sozialismus. Als damaliger Labour-Schattenminister für Sozialpolitik resümierte er damit die desaströse sozialpolitische Zerstörungsarbeit der ersten fünf Jahre der Thatcher-Regierung.

Im selben Jahr hatte er seinen Dissens zu Eric Hobsbawms Vorschlag eines Strategiewechsels von der »Labour-Alleinregierung« zur »Mitte-Links-Koalition« angemeldet. Das sei für linke Massenparteien in Westeuropa wie dem PCI eine Option, nicht jedoch für die institutionell eng mit der Gewerkschaftsbewegung stark verbundene Labour Party. Seine damalige Skizze einer programmatischen Neuausrichtung der Labour Party könnte Jeremy Corbyns Initiativen als dejá-vu erscheinen lassen, doch trifft es wohl eher zu, dass damit ein 30 Jahre währender Such- und Irrweg in Erinnerung gerufen wird, der bis zum Start eines noch volatilen Erneuerungsprozesses dieser sozialdemokratischen Partei ins Land gegangen ist.

»Unser politisches Programm« – so Michael Meacher 1984 – »muss weitaus besser vorbereitet werden. Wir müssen breiter und systematischer auf die Fähigkeiten, das Wissen und Erfahrungen der Spezialisten in unserer Bewegung zurückgreifen: bei der detaillierten Ausarbeitung einer nicht-nuklearen Verteidigungsstrategie, einer wirksamen Strategie gegen Armut und Verelendung, einer Energie- und Ökologiepolitik, bei der Neufassung der Auflagen für das Finanzkapital.

Bezüglich unserer politischen Prioritäten haben wir uns im Wahlkampf zu stark auf die atomare Bewaffnung, die Europäische Gemeinschaft und die alternative Wirtschaftspolitik konzentriert – als hätten wir die innerparteilichen Auseinandersetzungen in den Wahlkampf hinein verlängert, anstatt uns voll anderen strategischen Fragen zuzuwenden, wo sozialistische Politik in Konfrontation zum Thatcherismus steht.

Hierzu gehört vor allem die Kampagne zur Verteidigung des Sozialstaats, für Arbeiterdemokratie und Genossenschaften, um den Einfluss der Arbeiter zu stärken, für eine knallharte Verpflichtung zur Neuverteilung von Einkommen und Reichtum, für einen entschiedenen Angriff auf die Klassenprivilegien und für Einsatztruppen gegen Unterbezahlung und Armut.«

Fünf Jahre später musste Michael in einem Interview mit Sozialismus konstatieren, dass es vor allem die Schwäche der Linken war, dass die Thatcheristen ihre neoliberale Vision der Auflösung der Gesellschaft weiterhin erfolgreich hatten umsetzen können. Auf die Frage, wie er sich eine Politik der Umgestaltung vorstelle, antwortete er: »Wenn der Markt nicht mehr funktioniert, war die traditionelle Antwort der Labour Party, dass man privates in öffentliches verwandeln müsse. Umfassende Verstaatlichung fordert aber heute kaum jemand mehr. Nur, was ist unsere Alternative jetzt? Die Thatcheristen haben einen Großteil des Staatseigentums privatisiert. Wie verhalten wir uns dazu? Diese Fragen sind in der Partei derzeit nicht geklärt.«

Wie erwähnt ist das 1984 und 1989 ausgesprochen worden, doch trifft es auch 2015 auf die um Erneuerung ringende Labour Party zu. Denn die Spaltung der Gesellschaft wurde durch New Labour während ihrer 13jährigen Regierungszeit nicht zurückgeschraubt, mit ihrer Politik des »Dritten Wegs« setzte sie das neoliberale Projekt der Konservativen mit anderen Akzenten fort.

Michaels Kompass für diese Zeit: »Meines Erachtens ist die Konzentration auf die Eigentumsfrage auch verkürzt. Worum es geht, ist Verfügungsgewalt. Sozialismus bedeutet nach meinem Verständnis Demokratisierung und möglichst breite Verteilung von Macht und Einfluss in Wirtschaft und Gesellschaft, damit die Leute über ihr Leben selbst bestimmen können. Wir sollten verstärkt in diese Richtung denken.«

Dieser Kompass ermöglichte es ihm, als linker Flügelmann der Regierung Blair immerhin sechs Jahre lang anzugehören und dennoch an seinen sozialistischen Zielsetzungen festzuhalten. Andere nannten es sozialistischen Pragmatismus: Als Umweltminister zeichnete er für einige wegweisende Neuregelungen verantwortlich und hatte eine tragende Rolle bei den Verhandlungen für das Kyoto-Protokoll.

Schon von 1974 bis 1979 hatte er den Kabinetten Harold Wilsons und Jim Callaghans angehört, und zwar als parlamentarischer Staatssekretär, zunächst zuständig für Industrie im von Tony Benn geleiteten Technologie- und Innovationsministerium, dann zuständig für Gesundheit und Soziales. Fast während der gesamten Oppositionszeit (von 1983 bis 1997) gehörte er dem Fraktionsvorstand der Labour Party an. 1983 hatte er – erfolglos, weil für die damalige Parteikonferenz zu links – für den stellvertretenden Parteivorsitz kandidiert.

Sein politisches Testament hinterlässt er mit seinem letzten Buch über den »Staat, den wir brauchen. Stellschrauben für die Erneuerung Britanniens.« In seinem letzten Blogbeitrag setzte er sich mit dem zweifelhaften Bemühen des Schatzkanzlers Osborne auseinander, sich als härtester konservativer Austeritätspolitiker aller Zeiten frühzeitig die Nachfolge Camerons im Amt des Premierministers sichern zu wollen.

Um das Mandat im Wahlkreis Oldham West hatte sich Michael Meacher 1968 zum ersten Mal beworben, konnte sich aber zunächst nicht durchsetzen. 1970 hatte er dann den Wahlkreis für Labour zurückgeholt und ihn seitdem ununterbrochen verteidigt. Er hatte also auf eine 45jährige parlamentarische Laufbahn zurückblicken können.


Die Parliamentary Labour Party

Der Parteivorsitzende Corbyn sieht im Wahlerfolg von Meachers 35jährigen Nachfolger Jim McMahon eine Bestätigung seines Erneuerungskurses. Tatsächlich hatten die scharfen politischen und medialen Auseinandersetzungen um Corbyns bisherige Arbeit als Partei- und Fraktionsvorsitzender und um seine Position in der Frage des Luftkriegs in Syrien keinen Einfluss auf das Wahlergebnis.

Andererseits meinten aber seine Kontrahenten innerhalb des Schattenkabinetts, den neuen Kollegen forsch für ihre Linie vereinnahmen zu können, weil er als junger und erfolgreicher Kommunalpolitiker sich nicht gescheut hatte, wegen der drastischen Kürzungen der staatlichen Zuweisungen an die Kommunalhaushalte neue Wege der Zusammenarbeit seiner Lokalbehörde mit der örtlichen Unternehmerschaft zu suchen. Wer das aber mit dem Ziel auf den Weg gebracht hat, nicht nur die Lebensbedingungen in seinem Gemeinwesen auf einem Mindeststandard abzusichern, sondern Integration und Abbau sozialer Ungleichheiten voranzubringen, dem wird man einen gewissen Pragmatismus nicht abstreiten können.

Dieser Pragmatismus muss nicht nur in sozialdemokratischen Parteien nicht immer sozialistisch konnotiert sein. Dass eine Reorganisation der Zusammenarbeit von Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft in den Kommunen sehr wohl der Verteidigung des Sozialstaats dienen kann, ist ein Zusammenhang, der sich wohl nicht allen alten Granden New Labours erschließen wird. Mit seiner umfassenden kommunalpolitischen Erfahrung ist Jim McMahon mit Sicherheit ein Gewinn für die gesamte Labour-Parlamentsfraktion.

Quellen, Artikel und Websites
Labour win Oldham West and Royton by-election with majority of 10,722, Manchester Evening News, 4.12.2015
Oldham Council: Website der Stadtbehörde.
Oldham Partnership: Website; The Oldham Plan. A framework for success 2015-2018.
Co-operative Councils Innovation Network: Website des Kommunalverbands.
Michael Meachers Wahlkreis-Website und seine letzten Beiträge auf seinen Blog.
Michael Meacher: Arm und Reich. In: Sozialismus 6-1984, S. 19-21.
Michael Meacher: Dissens zu Eric Hobsbawms Beitrag »Neosozialismus in Britannien?« In: Sozialismus 1-1984, S. 57-58.
Michael Meacher: Thatchers Erfolg ist die Schwäche der Linken! Michael Meacher über die Politik der Labour Party im Interview mit Richard Detje und Ulrich Meditsch. In: Sozialismus 5-1989, S. 62-64.
Michael Meacher: The State We Need. Keys to the Renaissance of Britain. London 2013: Biteback Publishing.
Chris Mullin on Michael Meacher: He never lost his radical streak or his infectious good humour, Zuschrift an den Guardian vom 23.10.2015.
Julia Langdon: Michael Meacher obituary, The Guardian vom 21.10.2015.
Jim McMahon: Leader of the Oldham Metropolitan Council, sein Blog und die Website seiner politischen Aktivitäten.

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