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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

4. Juli 2011 Bernhard Sander: Schuldenbremsen unterminieren Institutionen

Mechanismen der Postdemokratie

Auf den verschiedenen Ebenen staatlichen Handelns sind mittlerweile Strukturen entwickelt worden, die dem direkten Zugriff der gewählten parlamentarischen Vertretungen entzogen sind. Die Krise der Repräsentanz beschreibt daher nicht nur einen Vertrauensentzug durch die WählerInnen, die sich vom politisch-parlamentarischen System nichts mehr erwarten, sondern es handelt sich um eine – wenn auch durch legale Entscheidungsprozesse zustande gekommene – Verselbständigung der politischen Gestaltung. Die Mechanismen ähneln sich in ihrer Funktionsweise und Strukturen.

Am ältesten ist dabei vermutlich die Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung, die im Grundgesetz Artikel 28 so beschrieben wird: »(2) Den Gemeinden muss das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Auch die Gemeindeverbände haben im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze das Recht der Selbstverwaltung. Die Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung; zu diesen Grundlagen gehört eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle. (3) Der Bund gewährleistet, dass die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundrechten und den Bestimmungen der Absätze 1 und 2 entspricht.«

Die verschiedenen Gemeindeordnungen der Bundesländer sahen von jeher für besondere Ausnahmefälle den Eingriff der nächst höheren Ebene vor. Als Beispiel soll Nordrhein-Westfalen dienen, wo vom Innenminister eingesetzte Beamte (Regierungspräsidenten) die Haushaltsaufsicht ausüben. Kann eine Gemeinde ihren Haushalt nicht ausgleichen, besteht eine Meldepflicht. Droht eine Überschuldung, sind die Haushalte zur Genehmigung vorzulegen.

Die entscheidende Neuerung für die Kommunen kam mit der Einführung der neuen doppelten Buchführung »Doppik«, die eine Gemeindeverwaltung als Unternehmen versteht, das eine Bilanz aufzustellen und zu führen hat. Droht die Überschuldung, sind also die Kassenkredite so hoch, dass sie die Vermögenswerte der Stadt aufgezehrt haben, dann beschränkt das Regierungspräsidium als Kommunalaufsicht die Ausgaben auf die so genannten Pflichtaufgaben, die durch Gesetze und Verordnungen dem Grunde und oder sogar der Höhe nach von der Verwaltung erbracht werden müssen. Alles andere – wie der Unterhalt von Schwimmbädern, Theater oder Bibliotheken, die in der Vergangenheit durch Entscheidungen der Stadtparlamente begründet wurden, oder Investitionen zum Erhalt dieser sozialen, kulturellen, sportlichen usw. Infrastrukturen – ist genehmigungspflichtig und kann vom Regierungspräsidium unterbunden werden.

Eine eigene Steuerhoheit haben die Kommunen nicht. Noch sind die unteren Gebietskörperschaften nicht offiziell in ihrer Kreditwürdigkeit und damit in ihren Zinskosten von Ratings erfasst. Eine Hintergrunddebatte bei einzelnen Rating-Agenturen dazu existiert gleichwohl.

Zwischen den Bundesländern ist mit der Einführung der so genannten Schuldenbremse im Grundgesetz ein vergleichbarer Mechanismus etabliert worden.[1] Die einzelnen Bundesländer folgen dem mit analogen Regelungen. Hier müssen die Länder-Finanzministerien Bericht erstatten über die Entwicklung der Verschuldung im Stabilitätsrat Bericht erstatten: »Nach dem Stabilitätsratsgesetz wird jährlich die Finanzlage von Bund und Ländern dargestellt und geprüft. Im Falle von drohenden Haushaltsnotlagen soll der Stabilitätsrat Sanierungsprogramme vereinbaren. Die Beschlüsse des Stabilitätsrates werden veröffentlicht. Der Stabilitätsrat hat sich am 28. April 2010 konstituiert. Dabei hat er sich eine Geschäftsordnung gegeben, Kennziffern und Schwellenwerte für die regelmäßige Haushaltsüberwachung und das methodische Vorgehen bei der Projektion der mittelfristigen Haushaltsentwicklung festgelegt. In seiner 2. Sitzung am 15. Oktober 2010 hat der Stabilitätsrat festgestellt, dass in den Ländern Berlin, Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein Anzeichen für eine drohende Haushaltsnotlage bestehen. Zur weiteren Prüfung hat der Stabilitätsrat einen Evaluationsausschuss eingesetzt. Am 23. Mai 2011 wurden diese vier Bundesländer vom Stabilitätsrat wegen drohender Haushaltsnotlage unter Aufsicht gestellt.« (Wikipedia)

Im Kern beschließt also die Mehrheit der Finanzminister an den Landesparlamenten vorbei, welche Ausgaben gekürzt werden müssen. Auch die Bundesländer verfügen nach der Aussetzung der Vermögenssteuer über keinerlei eigene wesentlichen Steuerquellen mehr.

Auf europäischer Ebene sind analoge Verfahren in Gang gesetzt worden. »Wer auch immer die Macht hat in Athen, wird auf absehbare zeit nicht viel mehr tun können als die Sparvorgaben von Griechenlands Gesetzgebern in Gesetzes Form zu gießen und in die Praxis umzusetzen. Das ungeschriebene Motto der derzeitigen Regierungspolitik, das auch die möglichen Nachfolger begleiten wird, lautet: Weniger Demokratie wagen«, beschreibt die FAZ am 28.6.2011 nüchtern die Lage. Die Rentenkürzungen beschneiden soziale Eigentumsrechte, die verordneten Lohnhöhen hebeln die Tarifautonomie aus und der Abbau staatlicher Dienstleistungen sowie der erzwungene Notverkauf öffentlichen Eigentums machen parlamentarische Willensbildung zur Farce.

Institutionalisiert wird dieser Ausnahmezustand seit 2010 mit dem Europäischen Stabilisierungsmechanismus ESM, wenn Nationen ihre Schulden nicht mehr tilgen können und vom Kreditmarkt nicht mehr versorgt werden. Bis dahin galt noch die »Nicht-Beistandsklausel« aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. »Neben den Krediten des ESM sollen in Notsituationen zudem private Gläubiger an der Refinanzierung beteiligt werden können. Dafür findet eine Schuldentragfähigkeitsanalyse von Europäischer Kommission und IWF statt. Sofern diese zu dem Ergebnis kommt, dass die Schuldenlast des Landes nicht dauerhaft tragfähig ist, kommt es zu einem Restrukturierungsplan, bei dem ein Teil der Schulden nicht zurückgezahlt wird. Entsprechende Regelungen sollen ab 2013 in allen Staatsanleihen europäischer Staaten aufgenommen werden. Faktisch entspricht dies einer Staatsinsolvenzordnung.« (Wikipedia) Auch hier ersetzt also die Exekutive (EU-Kommission, IWF) sowohl bei der »Schuldentragfähigkeitsanalyse« als auch bei der Festlegung der »Restrukturierungsplanung« (vulgo: Kürzungen im Sozialstaatsgefüge) die nationalen Parlamente der betroffenen Staaten.

Die Schulden-Dynamik

Der Schlüssel ist die Haushaltsnotlage bzw. die drohende Überschuldung, sodass die Gefahr wächst, dass aus den laufenden Einnahmen die Zins-Ansprüche der Gläubiger nicht mehr bedient werden können. Zur Schuldenspirale kommt es aufgrund der verteilungspolitischen Ausblutung der Staatseinnahmen. Jede konjunkturell bedingte Steuermehreinnahme wird im neoliberalen Glaubensbekenntnis zum Anlass genommen, strukturelle Steuersenkungen gesetzlich zu fixieren. Kommt es dann zu Einnahmelücken infolge konjunktureller Schwankungen, werden Kürzungen bei den Ausgaben und Sozialsystemen durchgesetz. Im Ergebnis stiegen die Staatsschulden rasant an, da es politisch keine Regierungskoalition verkraftet hätte, die Ausgaben im selben Tempo und Ausmaß zu kürzen wie die Steuergeschenke verteilt wurden.

Früher konnte Johannes Rau sagen, dass die Schulden von heute die Steuereinnahmen von morgen sind. Demgegenüber vernebelt heute die These, dass die Staatsschulden von heute die künftigen Generationen belasten, die Gehirne und bildet eine der zentralen Achsen neoliberaler Politik und programmatischer Identität von CDU und FDP, aber auch der Grünen und Teilen der SPD. Hier wird der Staat als Privathaushalt begriffen, der unter Ratenzahlungen für Konsumgüter usw. ächzt. Dieses Bild ist falsch, da die Staatsschulden von heute als Investitionen bleibende Werte (Schwimmbäder, Jugendhäuser usw.) schaffen.

Die Schulden der einen sind zudem immer die Reichtumsansprüche der Gläubiger. Der Staat hätte – bei entsprechenden Mehrheiten auf Bundesebene – jederzeit die Möglichkeit, die Basis seiner Einkünfte zu verbreitern, was Lohnabhängige bzw. Soziallohn-Beziehende mit ihrem Haushaltseinkommen nicht können. Solange in der Steuerpolitik keine Umverteilung bewerkstelligt werden kann, muss der Staat also auf die Verschuldung zurückgreifen, um an die nötigen Mittel zu gelangen.

Die Schuldenbremse geht darüber noch hinaus, weil sie mit Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben sicherstellt, dass die Ansprüche der Kreditgeber auch bei struktureller Wachstumsschwäche bedient werden können. Mit den institutionalisierten Regelungen zur Finanzaufsicht wird sichergestellt, dass die jeweilige nach- bzw. untergeordnete Körperschaft die Erträge abwirft, die sich die Kreditgeber vertraglich gesichert haben – also die Wirtschaftskraft und die soziale und politische Duldsamkeit der Bevölkerung nicht übersteigt. Entwickeln sich die Zuwachsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) so, dass die Zinsen bedient werden können, müssen dann die Ratings, d.h. die Kreditwürdigkeit abgesenkt werden, um über höhere BIP- bzw. Haushaltsanteile für die Zinsen die sinkenden Wachstumsraten auszugleichen? Und ab wann geht dieser Prozess in einen Abzug an der Substanz der Wirtschaftsleistung über?

Fatale Konsequenzen im politischen System

Auch wenn der Neoliberalismus als hegemoniales System abgewirtschaftet hat und nur noch Hardliner daran glauben, dass »privat vor Staat« usw. tragfähige Konstruktionen darstellen, so ist das eiserne Gerüst des Finanzmarkt getriebenen Staatswesens, wie es oben als Kommunalaufsicht, Stabilitätsrat und EFSM beschrieben wurde, noch in Funktion und läuft erst in den kommenden Jahren zu wahrer Größe auf.

Ideologisch verbrämt wird das als Kampf gegen die Kleinstaaterei mithilfe von Föderalismus-Kommissionen, dem positiven Wert eines geeinten Europas (also weniger Nationalstaat, mit den entsprechenden Gegenreaktionen z.B. in der CSU aktuell). Im Resultat kann das Volk wählen, wen es will, die gesetzlich fixierten Mechanismen und Gremien entscheiden ohne parlamentarische Abstimmung.

Diese schwere Beschädigung der demokratischen Institutionen ist mehr als die Verlagerung von Meinungsäußerung in Ethikkommissionen, die der Bundespräsident kürzlich monierte. Sie ist auch schwerwiegender als das Schreiben von Gesetzentwürfen durch Anwaltskanzleien, die anschließend Unternehmen bei der Auslegung dieser Gesetze beraten.

In der Folge ziehen sich diejenigen Wahlberechtigten aus dem politischen System zurück, die glauben, nichts von ihm zu erwarten zu haben. Da die Beteiligung der vermögenden Schichten und derjenigen, die sich an ihnen orientieren, jedoch gleich bleibt, verstärkt sich das relative Gewicht dieser Interessen und damit eine Eigendynamik im oben beschriebenen Sinne.

Der strategische Ansatz, den Druck der leistungslosen Ansprüche von Kapitalgebern auf die Staatsfinanzen zu senken, in dem die Staatsverschuldung in eine geordnete Insolvenz überführt wird, ist derzeit nicht mehrheitsfähig. Ebenso wenig ist eine Beteiligung der Vermögensbesitzer über Steuern in Aussicht, die das Geld aus dem Casino zurückzieht und gleichzeitig die Schulden abbauen helfen könnte.

[1] Artikel 109a: »Zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf,
1. die fortlaufende Überwachung der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern durch ein gemeinsames Gremium (Stabilitätsrat),
2. die Voraussetzungen und das Verfahren zur Feststellung einer drohenden Haushaltsnotlage,
3. die Grundsätze zur Aufstellung und Durchführung von Sanierungsprogrammen zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen.
Die Beschlüsse des Stabilitätsrats und die zugrunde liegenden Beratungsunterlagen sind zu veröffentlichen. Vorschrift eingefügt durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 91c, 91d, 104b, 109, 109a, 115, 143d) vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2248) m.W.v. 1.8.2009.«

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