Hajo Funke
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Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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11. August 2014 Redaktion Sozialismus: Hintergründe von Erdoğans Wahlerfolg

»Neue Ära« in der Türkei?

Recep Tayyip Erdoğan hat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht und ist damit der zwölfte und der erste vom Volk gewählte Präsident der Türkei. Nach Auszählung fast aller Stimmen lag er bei rund 52%. Der neue Präsident hat der Türkei einen Neuanfang versprochen.

Erdoğan will nach eigenem Bekunden eine »neue Ära« beginnen und den »Streit der Vergangenheit« beilegen. Er will Staatsoberhaupt aller 77 Mio. TürkInnen sein. Alle TürkInnen, ganz gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens, sollen gleichberechtigte BürgerInnen sein und die Konflikte der Vergangenheit der »alten Türkei« angehören.

Der Gemeinschaftskandidat der beiden größten Oppositionsparteien CHP und MHP, Ekmeleddin İhsanoğlu, erzielte rund 39%. Der Kandidat der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, kam auf knapp 10% Zustimmung. Beobachter führten das schlechte Abschneiden von İhsanoğlu vor allem auf die für türkische Verhältnisse geringe Wahlbeteiligung zurück. Sie lag bei um die 74%. Im Vergleich dazu: An der Kommunalwahl Ende März nahmen 89% der WählerInnen teil.

Aber Erdoğan hat sicher nicht nur davon profitiert. Es ist ihm gelungen, über die eigene Basis hinaus auch Stimmen im rechten Lager zu holen. Dazu dürften seine Ausfälle gegen Minderheiten wie die Armenier am Ende des Wahlkampfs beigetragen haben. Auch die betont nationalistischen Töne, die er in der letzten Woche vor der Wahl anschlug, sind in den rechten Kreisen wohl gut angekommen.

Bei einem kurzen Auftritt vor Anhängern in Istanbul äußerte sich Erdoğan zunächst nicht zu seinem Sieg. »Wir werden unserer Nation weiterhin dienen, um die Demokratie zu verbessern und dem Lösungsprozess zum Sieg zu verhelfen«, sagte er. »Lösungsprozess« ist in der Türkei das Codewort für den Friedensprozess mit den Kurden. Diese hatten mit Selahattin Demirtaş erstmals einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt, der sich durchaus ebenfalls als Sieger sehen kann. Die mehr als 10% der Stimmen sind mehr, als die Umfragen vorausgesagt hatten. Zwar verdankt er seinen Erfolg vor allem den kurdischen WählerInnen, es ist ihm aber auch gelungen, WählerInnen im nicht kurdischen linken und linksliberalen Spektrum anzusprechen.

Erstmals konnten sich auch die 2,8 Mio. im Ausland lebenden stimmberechtigten BürgerInnen der Türkei (davon 1,4 Mio. in Deutschland) an der Wahl beteiligen. Davon machten allerdings nur 8,3% Gebrauch. Sicherlich hat ein Teil Ferien in der Türkei gemacht und dort abgestimmt, was aber die äußerst schwache Wahlbeteiligung nur z.T. erklären kann. In Deutschland hat Erdoğan fast 70% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen können.


Neue Ära?

Die Ankündigung eines Neuanfanges stößt bei der in sich sehr widersprüchlichen türkischen Opposition und auch bei ausländischen Beobachtern auf Skepsis und Vorbehalte. Die von Erdoğan maßgebliche beeinflusste »Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung« (AKP) hat in den letzten Jahren einen »Modernisierungsprozess« verfolgt und sich in der Regel über Einwände und Proteste rigoros hinweg gesetzt. Vorwürfe und Ermittlungen wegen Clan-Wirtschaft und Korruption wurden mit massiven Regierungseingriffen in den Justizapparat unterbunden.

Außenpolitisch verfolgte die von der AKP dominierte politische Klasse einen Kurs der Durchsetzung einer Regionalmacht. Großvolumige Bauprojekte wurden gegen regionale Widerstände auch mit Einsatz repressiver Mittel durchgesetzt. Im Wahlkampf konnte von einem fairen Zugang zu den Massenmedien keine Rede sein. Vor dem Hintergrund des Auf- und Ausbaus einer Präsidialdemokratie mit dem langjährigen Ministerpräsident an der Spitze, gestützt auf ein breites Netzwerk von Clan-Abhängigkeiten und mit dem erklärten Ziel, eine kapitalistische Gesellschaft mit einer islamisch geprägten Zivilgesellschaft zu kombinieren, klingt die Erklärung, nun sollen rechtsstaatlich-demokratische Strukturen respektiert werden, wenig überzeugend.

Kritiker verweisen zudem darauf, dass die AKP eigentlich schon über ein Jahrzehnt lang ein neues Kapital in der Geschichte der Türkei geschrieben habe. Sie und ihr charismatischer Führer Erdoğan hätten große Verdienste, wenngleich auch her die Modernisierung mit der Entwicklung eines »Crowny-Kapitalismus« verknüpft ist.

In der Tat: Das Land sieht heute anders aus als vor dem Amtsantritt Erdoğan am 11. März 2003. Es ist hat sich wirtschaftlich stark entwickelt, die Verstädterung ist unübersehbar. Die Türkei ist ein entwickelter kapitalistischer Schwellenstaat und hat in der Zivilgesellschaft eine islamisch geprägte Kultur mehrheitsfähig gemacht. Auch der kurdische Bevölkerungsteil hat nach jahrzehntelanger Verfolgung in den letzten Jahren einige demokratische Rechte und eigenständige wirtschaftlich-kulturelle Entwicklungsspielräume erhalten. Der Prozess der »Befriedung« ist nicht abgeschlossen, aber die Kandidatur eines Kurden zum Präsidenten zeigt Fotschritte im Grad der »Normalisierung«.

Erdoğan hat den Weg der Türkei in die Europäische Union und das Land als anerkannten NATO-Partner durchgesetzt. Als »fortschrittlich« und »demokratisch« galten nicht mehr die laizistischen Kemalisten, sondern islamisch agierende Politiker, also eine politische Elite, die ihre Wurzeln im politischen Islam hat.

Der Anti-Kemalist ist mit seinem zunehmend selbstherrlichen und patriarchalischen Verständnis von Herrschaftsausübung in das Fahrwasser der Erben Atatürks geraten. Wie einst die Kemalisten versucht auch Erdoğan immer wieder, die Justiz für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Offenkundig ist es das Ziel der AKP-Führung, in der Türkei ein Präsidialregime zu etablieren, in dem die überlieferten rechtsstaatlichen Normen neu interpretiert werden.

Kritiker der Regierungspolitik werden in den letzten Jahren als Verschwörer angegriffen, die Interessen einer einzigen Partei mit jenen der ganzen Nation gleichgesetzt. Die Folge ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Der Staat wird – wie es in der Geschichte der Türkei fast immer der Fall war – über die individuellen Rechte der BürgerInnen gestellt.


Langjähriger Wirtschaftsaufschwung

Ein Jahr nach der schweren Finanzkrise von 2001 an die Regierung gewählt, setzte die AKP das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitete Reformprogramm rigoros um: Der Staatshaushalt wurde entschlackt, der Wechselkurs flexibilisiert, der Bankensektor auf solidere Grundlagen gestellt und die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt.

Die Wirtschaft steht heute auf einem weit tragfähigeren Fundament als zu Beginn der Regierungszeit der AKP. Seit 2002 hat das Bruttoinlandprodukt (BIP) um durchschnittlich über 5% pro Jahr zugelegt, bei einer gleichzeitigen Verdreifachung des Pro-Kopf-Einkommens auf 10.500 US-Dollar und einem beeindruckenden Aufschwung auch im anatolischen Hinterland.

Verbessert hat sich ferner die Geldwertstabilität: Kämpfte das Land noch vor zwölf Jahren mit Inflationsraten von um die 32%, betrug die Geldentwertung im Juli 2014 rund 9%. Ähnliches gilt für die Finanzpolitik: Das Defizit des Zentralstaats lag zwischen 2004 und 2013 im Durchschnitt bei 2,4% des BIP, während die Schulden unter 40% des BIP rutschten. Rund 70% der Schulden sind in türkischer Lira denominiert, was die Verletzlichkeit gegenüber Wechselkursschwankungen markant vermindert hat.

Allerdings zeigt die Wirtschaft inzwischen deutliche Bremsspuren. Nachdem 2013 bereits die ausländischen Direktinvestitionen um 4% auf 12,7 Mrd. US-Dollar zurückgegangen sind, ist auch das Wirtschaftswachstum auf Werte um die 3% geschrumpft. Zentraler Akkumulationstreiber der letzten Monate waren die öffentlichen Investitionen – vor allem Großprojekte, die kreditfinanziert werden müssen.

Eine Abschwächung des Akkumulationstempos ist nicht zu übersehen. Das gilt auch für den Automobilbereich, der im Januar 2014 im Vorjahresvergleich einen Rückgang der Fahrzeugverkäufe um 8% verbuchen musste. Das Verkaufsziel von 750.000 Fahrzeugen für das laufende Jahr ist von der Branche bereits nach unten korrigiert worden auf nunmehr 600.000 Einheiten.

Zwar ist der monatelange Sinkflug der türkischen Lira dank der kräftigen – indes allzu spät erfolgten – Zinserhöhung von Ende Januar zu einem vorläufigen Ende gekommen. Tatsache bleibt aber, dass der Außenwert der Währung noch immer rund 20% tiefer liegt als vor einem Jahr. Die Konsumenten haben also einen massiven Kaufkraftverlust erlitten und müssen vor allem bei Importprodukten deutlich tiefer in die Tasche greifen. Anfang Februar 2014 ist die Verwendung von Kreditkarten erschwert worden. Damit soll das rasante Wachstum der Kreditvergabe und der Privatschulden gebremst werden – die Maßnahmen zeigen erste Wirkungen.

Die Türkei wird künftig in hohem Maß auf den Zufluss ausländischen Kapitals angewiesen sein, um ihr Leistungsbilanzdefizit, das 2013 etwa 8% des BIP ausmachte, zu finanzieren. Zugleich geht in der Tat in dem Land eine längere Wachstumsperiode zu Ende. Die »neue Türkei«, die Erdoğan nun angekündigt hat, wird also so neu nicht sein können. Dass er jetzt in den Präsidentenpalast einzieht, dürfte vor allem als Katalysator zur Fortführung der bisherigen Politik wirken.

Ausschlaggebend für den Erfolg Erdoğans und seiner Partei war vor allem der soziale und wirtschaftliche Aufstieg, der auch bei den anatolischen Mittel- und Unterklassen angekommen ist. Zugleich sind mit dem Wahlsieg die negativen Symptome der Entwicklung bestenfalls in den Hintergrund gedrängt: Das hohe Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft gehört zum System und mit dem Wunsch nach einer neuen Ära ist die Fehlentwicklung nicht beseitigt.

Die Türkei und die regierende AKP werden nach über zehn Jahren an der Macht wegen der unzureichenden wirtschaftlichen Dynamik und der massiven Verteilungsauseinandersetzungen in eine komplizierte Phase sozialer und politischer Auseinandersetzungen eintreten.

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