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29. Februar 2016 Hinrich Kuhls: Die Parlamentswahlen in Irland

Neue Harfenklänge im politischen Feld

Wenige Wochen vor dem Jahrestag des Osteraufstands von 1916, in dessen Folge nach dem Unabhängigkeitskrieg Irland 1922 als Freistaat die eingeschränkte Teil-Souveränität vom britischen Empire erreichte und damit den mehrhundertjährigen Kolonialstatus formal hinter sich lassen konnte, und knapp 20 Jahre nach Beilegung des jahrzehntelangen Bürgerkriegs im Norden der irischen Insel haben die Wählerinnen und Wähler der Republik Irland in einer nur auf den ersten Blick nicht außergewöhnlichen Parlamentswahl die Abgeordneten des Dáil Éireann neu bestimmt.

Die vor fünf Jahren ins Amt gewählte Koalitionsregierung aus Fine Gael (FG) und Labour Party (Lab) ist mit erheblichen Stimmenverlusten abgewählt worden. Die bisherigen Oppositionsparteien Fianna Fáil (FF) und Sinn Féin (SF) konnten deutliche Stimmengewinne verbuchen, desgleichen einige kleinere Parteien wie die Sozialdemokratische Partei (SD) und das Anti-Austeritäts-Bündnis AAA-PBP.

Vergrößert hat sich im Parlament der Block von unabhängigen, zumeist als Einzelbewerber angetretenen Parlamentariern, der – würde er als parteipolitische Formation agieren – viertstärkste Kraft im neuen Abgeordnetenhaus wäre. Die Wahlbeteiligung – in Irland leben 4,5 Mio. Menschen, von denen 3,2 Mio. wahlberechtigt sind – ist von 70% auf 65% gesunken, und das trotz vieler zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, mit denen in der abgelaufenen Legislaturperiode gegen die Austeritätspolitik protestiert worden ist.

Die vom Fine-Gael-Vorsitzenden Enda Kenny als Taoiseach (Premierminister) geleitete und jetzt abgewählte Koalitionsregierung hatte keine Korrekturen am Austeritätskurs der Vorgängerregierung vorgenommen. Jene Regierung, eine Koalition von Fianna Fáil und den Grünen, hatte mit Beginn der Großen Krise ab 2008 auf Druck der Troika mit voller Härte das Bailout-Programm durchgesetzt, und war daraufhin von den StimmbürgerInnen abgestraft worden: 2011 verlor Fianna Fáil mehr als die Hälfte der Stimmen, der Koalitionspartner Grüne Partei erhielt keinen einzigen Sitz.

Bei der aktuellen Wahl haben die Parteien folgende Stimmenanteile (1. Präferenzstimme) gewonnen: Die christlich-konservative Fine Gael 25,5% (2011: 36,1%); die rechtssozialdemokratische Labour Party 6,6% (19,5%); die »rechtsperonistisch«-korporatistische Fianna Fáil 24,4% (17,4%); die linksrepublikanische Sinn Féin 13,9% (10%); das Linksbündnis AAA-PBP (Anti Austerity Alliance – People Before Profit Party), in der sich zwei trotzkistische Tendenzen zusammengefunden haben, erhält 4%; die Sozialdemokraten 3%; die Grüne Partei 2,7% (1,8%) und die 2015 neu gegründete konservativ-wirtschaftsliberale Partei Renua 2,2%. Unabhängige und Einzelbewerber erreichten zusammen 17,8%.

Bei der Auflösung des letzten Dáil Éireann Anfang Februar hatten von den großen Parteien Fine Gael 67 Sitze, Labour Party 33, Fianna Fáil 21 und Sinn Féin 14 inne. Die Mitglieder des neuen Abgeordnetenhauses wurden in 40 Wahlbezirken gewählt, in denen, je nach Größe des Wahlbezirks, jeweils drei bis fünf WahlbewerberInnen nach dem Wahlsystem übertragbarer Präferenzstimmen gewählt worden sind. Diese 150 Sitze werden ergänzt durch 8 Bonussitze.

Im neuen Dáil, der sich am 10. März konstituiert und in dem eine Partei oder Gruppierung für den Status einer anerkannten Fraktion 7 Sitze benötigt, verteilen sich diese 158 Sitze wie folgt: Fine Gael 46, Labour Party 6, Fianna Fáil 42, Sinn Féin 22, unabhängige Einzelbewerber 20, AAA-PBP 5, Sozialdemokraten 3, Grüne 2, Renua 0. (Auszählungsstand am 28.2., 23:00 Uhr, für 146 Sitze)

Die Parteien der bisherigen Koalitionsregierung haben also bei weitem die absolute Mehrheit von 79 Sitzen verfehlt, aber auch die bisherigen Oppositionsparteien bekommen aus eigener Kraft die für eine Regierungsbildung notwendige Mehrheit nicht zusammen. Eine große Koalition vom Wahlverlierer Fine Gael und Wahlgewinner Fiann Fáil wird vor allem aus der Partei des amtierenden Premierministers Kenny abgelehnt, weil dann der linksrepublikanischen Sinn Féin als drittstärkster Fraktion die Rolle als führender Oppositionspartei zufallen würde.

Viele der Abgeordneten des neuen Parlaments sind erstmals gewählt worden, unter anderem weil das an mehreren Punkten geänderte Wahlgesetz neu eine 30%-Quote enthält: Parteien, die weniger als 30% Frauen als Kandidatinnen aufstellen, erhalten keine Mittel aus der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung.


Abwahl der Austeritätspolitik

Das Ergebnis der Parlamentswahl in Irland bestätigt zwei Trends der politischen Entwicklung in Europa. In allen Ländern, die den Rettungsschirm der Troika in Anspruch nehmen mussten, und in denen seit Anfang 2015 die Parlamente neu gewählt worden sind, ist die Austeritätspolitik abgewählt worden. Und die politischen Kräfte, die einer Anti-Austeritätspolitik zum Durchbruch verhelfen wollen, agieren in den jeweiligen Parlamenten nur mit knappen Mehrheiten: In Griechenland versucht die von Syriza geführte Koalitionsregierung, den geringen Spielraum innerhalb der von den Institutionen (EU, EZB, IWF) vorgegebenen Sanierungspolitik zur Abschwächung aufgezwungenen Sozialabbaus auszuschöpfen; in Portugal konnten sich Linksparteien und Sozialisten auf eine gemeinsame politische Anstrengung verständigen; in Spanien ist die Austeritätspolitik des konservativen Partido Popular abgewählt worden, die Perspektive einer politischen Wende aber weiterhin unklar.

Es ist bemerkenswert, dass mit Irland jetzt auch im vierten Land der Ländergruppe, die zu Beginn der Großen Krise mit dem Kürzel PIGS zusammen gefasst worden war, der bisherige Kurs zur Krisenlösung zurückgewiesen worden ist. »Pigs in muck« war ein Artikel der Financial Times 2008 überschrieben, in dem die ökonomischen Probleme in Portugal, Irland, Spanien und Griechenland beschrieben und die wirtschaftspolitische Steuerung in diesen Ländern diskreditiert wurde. Ein Narrativ, das seitdem seitens der neoliberalen Kräfte in Politik und Journalistik verwendet wird, um die Wege zur Krisenlösung vor allem in den südeuropäischen Ländern zu kommentieren. Dass PIGS demnächst positiv für die Einleitung einer politischen Wende im Sinne einer progressiven, internationalen, gemeinschaftlichen Steuerung der Erneuerung Europas stehen könnte und damit ein neues Narrativ alternativer Entwicklung begründet wird, hat nach der Wahl in Irland einen Hauch an Wahrscheinlichkeit gewonnen.

Die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse in Irland schien im letzten Jahr zunächst auf eine Bestätigung des bisherigen Regierungskurses hinauszulaufen. Positive Nachrichten zur Wirtschaftsentwicklung deuteten darauf hin, dass die Koalitionsregierung eine gute Bilanz hätte vorlegen können und dafür auch belohnt worden wäre. Die anhaltenden sozialen Probleme des tiefen Eingriffs in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess mittels einer harten Austeritätspolitik wurden – vor allem von nicht-irischen Medien – nicht zur Kenntnis genommen. Umso überraschter gaben sich konservative professionelle Beobachter in ihren Vorabkommentaren, dass trotz stark verbesserter makroökonomischer Kennzahlen die politische Ernte nicht würde eingefahren können, während im linken Spektrum die unzureichende Repräsentanz der Protestbewegungen im politischen Feld beklagt wurde.


Der keltische Tiger: eine schnurrende Wirtschaft?

Die wirtschaftliche Entwicklung Irlands wird mit einer Achterbahnfahrt verglichen: nach Eintritt in die EG (1973 zusammen mit Dänemark und Großbritannien) zunächst der Weg vom Armenhaus Europas zum angeblich prosperierenden Boomland, was zu Vergleichen mit südostasiatischen Ländern anregte, die die Lücke zu den entwickelten OECD-Ländern im »tigerhaften Sprung« verkürzt hatten. Dann der freie Fall in der Immobilienspekulations- und Bankenkrise, nur aufgefangen durch die Bankenrettung zulasten des irischen Staatshaushalts im Rahmen des EU-Rettungsschirms; dann als Austeritäts-Musterschüler erneuter Aufstieg der Ökonomie, die »jetzt wieder wie ein Tiger schnurrt«.

Die Große Krise ab 2007 hatte in Irland in der Tat zum seinerzeit tiefsten Einbruch einer westlichen Ökonomie außerhalb Kriegszeiten geführt. Das Bruttosozialprodukt war um 12% geschrumpft. Ein harter Sparkurs wurde auferlegt – mit Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen im Umfang von 20% der irischen Wirtschaftsleistung. Innerhalb von sechs Jahren waren die Staatsausgaben um 30 Mrd. Euro gekürzt worden. Waren die Kürzungen der Staatsausgaben 2009-10 noch darauf ausgelegt, alle Einkommensschichten zu »gleichen Teilen« zu belasten, so waren die Haushalte 2012 bis 2015 bewusst regressiv und verschoben die Sekundärverteilung gravierend zu Lasten der unteren Einkommensschichten. Vor allem die Einkommensungleichheit ist enorm gestiegen. Die Wahlversprechen der irischen Labour Party waren schon nach wenigen Wochen der Regierungsbeteiligung vergessen.

Bei den nominell hohen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts von 4,5% (2015) muss berücksichtigt werden, dass die wirtschaftliche Erholung von einem sehr niedrigen Punkt aus erfolgt. Das Vorkrisenniveau der Wirtschaftsleistung ist erst 2014/2015 wieder erreicht worden. Die Arbeitslosenquote liegt bei rund 9%, die Beschäftigungsquote, vor allem die der Frauen, ist nach wie vor niedrig. Zudem sind die strukturellen Probleme der irischen Wirtschaft bei weitem nicht gelöst. Die Wettbewerbsfähigkeit wird nach wie vor mit im internationalen Vergleich niedrigen Unternehmenssteuern gesichert; die Einnahmeseite des Staatshaushalts ist in den letzten Jahren durch Steuererhöhungen erweitert worden, die die verfügbaren Haushaltseinkommen einschränken.


Der keltische Drache: Erosion des sozialen Zusammenhangs?

Seit Beginn der Großen Krise hat nicht nur ein großer Teil der EU-Arbeitsmigranten des Land wieder verlassen, sondern auch 250.000 irische StaatsbürgerInnen sind dauerhaft emigriert – eine Migrationsquote, die jene der südeuropäischen Länder in den letzten Jahren übertrifft und der Grund für die relativ geringe Arbeitslosenquote ist. Die Wohnsituation hat sich dramatisch verschlechtert. Der soziale Wohnungsbau ist um 90% zurückgefahren worden, Irland zählt in Europa zu den Ländern mit der höchsten Obdachlosigkeit.

Die Sozialkürzungen haben besonders die junge Generation getroffen. Während die Mindestrente bei € 230 belassen wurde, wurde die Sozialhilfe für Erwachsene um 8% von € 204 auf € 188 gekürzt und für Unter-25jährige um mehr als die Hälfte von € 204 auf € 100 geschrumpft. Das Kindergeld in Höhe von € 166 wurde 2010 zunächst auf € 130 und dann 2013 auf € 109 pro Monat verringert. Familien mit Kindern und nur einem Elternteil, die auf Unterstützungszahlungen angewiesen sind, sind in Irland besonders stark unter die Armutsgrenze gedrückt worden.

Armut und Ungleichheit stiegen enorm, erreichten aber nicht das Ausmaß, das in Irland in den 1970er Jahren überwog. Die irischen Sozialtransfers konnten trotz der Kürzungen die schlimmsten Auswirkungen der steigenden Arbeitslosigkeit und sinkender Einkommen auffangen. 53% der Lohnabhängigen, deren Arbeitseinkommen unter der Armutsgrenze lag, konnten 2004 diese Schwelle mithilfe zusätzlicher Sozialtransfers zumindest ein wenig überschreiten. 2013 trugen die Sozialtransfers dazu bei, dass 71% der gering Verdienenden mit Sozialleistungen über die Schwelle der Armutsquote kamen. Hintergrund: Das durchschnittlich verfügbare Jahreseinkommen von zwischen 2008 und 2011 von € 24.308 auf € 21.440 gesunken. Insgesamt ist 2011 ein Viertel der Bevölkerung von Armut betroffen (2008: 13,8%), und bei den Alleinerziehenden und deren Kinder sind es 63% (2014).

Wenn vor wenigen Jahren in einer Untersuchung zu Irlands Beschäftigungsmodell und dem »merkwürdigen« Überleben des Sozialstaats der Schluss gezogen wurde, dass der Staat in der Lage gewesen ist, die Bürgerinnen und Bürger vor den Wechselfällen des Marktes weitgehend zu schützen, dann muss sich während der letzten fünf Jahre eine gravierende Wende in den Strukturen des Sozialstaats vollzogen haben, deren Zusammenhänge weiter zu untersuchen wären.


Der keltische Phönix: eine selbstaktive Zivilgesellschaft?

In den ersten Jahren der verschärften Austeritätspolitik blieben größere Protestbewegungen oder Streiks aus. Es wurde der Eindruck vermittelt, dass die junge Generation nicht nur eine »verlorene Generation« sei, sondern von früheren Generationen einen spezifischen »Stoismus« übernommen hätte. Jedoch setzte in vielen Bereichen bald eine »aktive Verteidigung« gegen weiteren Sozialabbau ein, wobei sich kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen zusammenfanden, um Kürzungen abzumildern oder zu verhindern. Drei Beispiele aus der letzten Legislaturperiode:

  • Mit der Kampagne »Sieben ist zu jung« gelang es, beabsichtigte Unterstützungskürzungen für Ein-Eltern-Familien einzuschränken. Bestimmte Leistungen sollten Alleinerziehende ab 2012 nur noch dann für Kinder über sieben Jahre erhalten, wenn sie dem Arbeitsmarkt voll zu Verfügung stehen. Zuvor war die Altersgrenze schon von 18 Jahre auf 14 Jahre herabgesetzt worden. Mit der Kampagne wurde erreicht, dass Alleinerziehende, deren jüngstes Kind unter 14 ist, auch dann Anspruch auf Leistungen haben, wenn sie nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen können.
  • Die Regierung Kenny beabsichtigte, ab 2012 die Mindestaltersgrenze für den Bezug von Leistungen bei Behinderung von 16 auf 18 Jahre anzuheben und insgesamt für jüngere Behinderte bis zum Alter von 24 Jahren drastisch zu kürzen, und zwar um bis zu € 4.576 pro Jahr. Das hätte 12.000 Personen bzw. 12% aller Behinderten betroffen. Die Interessenorganisationen der Behinderten verhinderten dieses Ansinnen, indem sie medienwirksam eine politische Debatte über die Missachtung der UN-Behindertenrechtskonvention in die Öffentlichkeit tragen konnten.
  • Mit der Kampagne »Keine Kürzungen des Kindergelds« gelang es, die 2012 vom Labour-Sozialminister angeschobene Initiative, das schon zuvor gekürzte Kindergeld zu besteuern und nach Bedürftigkeit zu staffeln, zu unterbinden. In diesen und anderen Aktionen im Rahmen einer disparaten »Strategie symbiotischer Transformationen« haben die Agierenden nicht nur Erfolge bei der Verteidigung bzw. Verbesserung ihrer sozialen Position erreicht, sondern in sozialer Selbstermächtigung die Akteure des politischen Felds herausgefordert.

Das übergreifende Narrativ dieser sozialen Widerstandsaktionen bleibt »Schutz der Schwachen«. Der teilweise Erfolg wird erreicht, indem die Schutzbedürftigkeit zum öffentlichen Thema gemacht wird. Eine Wende hin zu einer Gesellschaftsbeschreibung, in dem die Tücken des neoliberalen Gesellschaftsmodells der kapitalistischen Gesellschaften in den Fokus geraten, ist in Irland der »Right2Water«-Initiative gelungen.

Die Protestbewegung richtete und richtet sich gegen eine veränderte und erhöhte Belastung von Haushalten mit Wassergebühren. Wurde die Wasserversorgung und -entsorgung bisher durch eine Kombination von allgemeinen Steuern und Gebühren finanziert, so wird seit 2015 allein der Einzelverbrauch berechnet, und zwar entweder € 3,70 pro Kubikmeter bei Installation eines Wasserzählers oder, wenn die Installation des Zählers verweigert wird, pauschal mit € 160 für den Einpersonenhaushalt oder mit € 260 für den Mehrpersonenhaushalt.

Aus der anfänglichen Grassroot-Bewegung in den Kommunen entstand eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, die dann auch aus den Gewerkschaften heraus und von linken politischen Parteien unterstützt worden ist. Ende 2014 demonstrierten 100.000 Menschen gegen die Umsetzung des Gesetzes, ohne Erfolg. Der Protest hält an, indem die Installation der Wasserzähler weiterhin von vielen verweigert und der Aufforderung zur Zahlung der Pauschale nicht nachgekommen wird. So wurde dann in linksradikalen Kreisen mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass zwar mehr als 50% der Haushalte die Zahlung verweigern, ihre Parteiformationen aber nur von 3% der Wahlberechtigten unterstützt werden.

Die starke Mobilisierung wird u.a. damit erklärt (Murphy 2016), dass in Irland als einem post-kolonialen Land der lokale Zusammenhalt und das örtliche Gemeinwesen historisch tief verwurzelt sind und heute einem dominanten Platz gegenüber gesamtgesellschaftlichen und staatlichen Angelegenheiten im Wertesystem einnehmen. Durch die neoliberale Kommodifizierung der Wasserversorgung sei die Austerität sprichwörtlich mit den Wasserleitungen in die Wohnviertel und in die Häuser geliefert worden. Dass war dann nicht nur der Tropfen, mit dem das Fass der Unzufriedenheit mit der Austeritätspolitik zum Überlaufen gebracht worden ist und zu der breiten Selbstmobilisierung geführt hat, sondern damit sei dann auch die kritische Auseinandersetzung mit der repräsentativen Demokratie befördert worden. Die gesunkene Wahlbeteiligung lässt darauf schließen, dass die Bereitschaft zur aktiven Verteidigung gegen Einschränkungen der sozialen Lebenslage nicht unbedingt in politische Aktivität übergeht.


Die irische Harfe: neue Töne im politischen Feld?

Ob und in welchem Umfang sich die Zivilgesellschaft mit aktivem Protest im neuen Parlament Gehör verschaffen kann, bleibt abzuwarten. Da die drei Parteien, von denen in der Geschichte der Republik Irland abwechselnd immer eine oder zwei in Regierungsverantwortung waren, ihre strukturelle Machtposition eingebüßt haben, wird die Regierungsbildung nicht einfach werden. Die irische Labour Party ist mit ihrer »Pasokierung« in der politischen Bedeutungslosigkeit verschwunden. Fine Gael und Fianna Fáil scheinen sich weiterhin zu blockieren, die historischen Gründe liegen weit zu zurück, die sozialen und politischen Hintergründe dafür sind nicht offensichtlich. Sollte diese Blockade bestehen bleiben, wird wohl keine tragfähige Regierung gebildet werden können, so dass in absehbarer Zeit Neuwahlen angesetzt werden müssten.

Die Austeritätspolitik der drei großen Parteien ist zweimal in Folge abgewählt worden. Doch anders als in den südeuropäischen Krisenländern reichen die errungenen Stimmen und Sitze der Parteien und Abgeordneten links der Sozialdemokratie nicht aus, um ein politische Wende durchsetzen zu können, obwohl es mit rund 25% der Stimmen und etwa 20% der Sitze das historisch beste Ergebnis ist. Insofern besteht für die progressiven und linken Kräfte die paradoxe Situation darin, dass bei einer Umgruppierung der Parteienlandschaft durch eine Koalition der beiden großen konservativen Parteien der politische und gesellschaftliche Einfluss der Linken wachsen könnte, indem die Rolle der führenden Oppositionspartei von Sinn Féin übernommen wird. Die Harmonien im Dáil Éireann könnten von Dur nach Moll wechseln oder auch in Dissonanzen ausklingen.

Ein zentrales Problem der nächsten irischen Regierung wird die Frage der Neuregelung für Großbritannien in der Europäischen Union sein. Nicht wegen der Freizügigkeit; hier gibt es Sonderregelungen zwischen den beiden Ländern, die den freien Grenzverkehr unabhängig von der EU-Zugehörigkeit gewährleisten. Aber im Falle eines Brexits werden die tiefen Wirtschaftsbeziehungen beider Länder einer harten Belastungsprobe ausgesetzt, wodurch selbst die konfessionell-nationalen Auseinandersetzungen in Nordirland wieder reaktiviert könnten.

Und im Falle der Ablehnung des Brexits in Britannien stünde für die irische Regierung die Entscheidung an, ob sie den sozialen Einschränkungen für die vielen in Britannien lebenden und arbeitenden Iren und Irinnen dann tatsächlich in dem vorgesehenen Verfahren zustimmen soll. Auf jeden Fall müssten die in der Vereinbarung zwischen Britannien und der EU festgelegten Änderungen des EU-Vertragswerks, die die Bindungsentpflichtung Britanniens gegenüber der EU betreffen und die bei einem Verbleib Britanniens in der EU wirksam werden sollen, dann früher oder später den irischen WählerInnen ebenfalls in einem Referendum vorgelegt werden. Die Nachfahren der Untertanen des britischen Empire würden über das Schicksal der Regierung Ihrer Majestät der Königin von Großbritannien und Nordirland entscheiden.

Ob der Trend, dass in Ländern, die auf Troika-Hilfsprogramme zurückgreifen mussten, die Linke gestärkt aus Parlamentswahlen hervorgeht, auch weiterhin anhält, wird – wenn es denn zuvor nicht doch wieder in Irland oder in Spanien der Fall sein wird – in Kürze bei Irlands Antipoden im Südosten Europas zu prüfen sein: Die Parlamentswahlen in Zypern finden im Mai statt.

Quellen und weitere Publikationen
Ronon Burtenshaw: Ireland: An Establishment in Decline. Election Analysis. transform!Europe, 25.2.2016 http://www.transform-network.net/en/blog/blog-2016/news/detail/Blog/an-establishment-in-decline.html
Conor McCabe: The Radical Left in Ireland. Socialism and Democracy 3-2015, S. 158–165. DOI: 10.1080/08854300.2015.1084697
Geraldine Kennedy: This election will be different to any other. The Irish Times, 2.1.2016; http://www.irishtimes.com/news/politics/geraldine-kennedy-this-election-will-be-different-to-any-other-1.2482265
Mary P. Murphy: Irish civil society. Rearranging the deckchairs on the Titanic? A case study of fighting Irish social security retrenchment. Journal of Civil Society 1-2016, S. 17–32. DOI: 10.1080/17448689.2016.1117244
Eoin O'Leary: Irish Economic Development. High-performing EU state or serial under-achiever? London, New York 2015. Siehe hierzu die Rezension: Frank Barry, Book Review. Eoin O'Leary, Irish Economic Development: High-Performing EU State or Serial Underachiever. The Economic and Social Review (ESR) 4-2015 (Winter), S. 605–611; http://www.esr.ie/article/view/456/123
Redaktion Sozialismus: Referendum in Irland. Votum über Austeritätspolitik und Fiskalpakt. Sozialismus Aktuell, 29.5.2012; http://www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/referendum-in-irland
Jonas van Vossole: Framing PIGS - patterns of racism and neocolonialism in the Euro crisis. Patterns of Prejudice 1-2016, S. 1–20. DOI: 10.1080/0031322X.2015.1128056
Timothy J. White; Denis Marnan: The Politics of Remembrance - Commemorating 1916. Irish Political Studies 1-2016, S. 29–43. DOI: 10.1080/07907184.2015.1126930; http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/07907184.2015.1126930
James Wickham: Nach dem Ende der Party. Irlands Beschäftigungsmodell und das merkwürdige Überleben des Sozialstaats. In: Steffen Lehndorff (Hg.): Spaltende Integration. Der Triumph gescheiterter Ideen in Europa – revisited. Zehn Länderstudien. Hamburg 2015, S. 109–130. [Engl. Fassung in: Steffen Lehndorff (Hg.) (2015); Divisive integration. The triumph of failed ideas in Europe - revisited. Brussels 2015: European Trade Union Institute (ETUI), S. 127-148; http://www.etui.org/content/download/19023/145189/file/15+Divise+integration+Lehndorff+EN+Web+version.pdf

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