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17. Januar 2018 Ridvan Ciftci / Andreas Fisahn

Neuwahl ist nicht zwingende Konsequenz bei Scheitern der GroKo-Verhandlungen

Foto: dpa

In der SPD wird derzeit kontrovers über das Für und Wider einer Neuauflage der Großen Koalition gestritten. Parteilinke und Jungsozialisten bezeichnen die Sondierungsergebnisse zwischen Union und SPD als »beschämend«. Den GroKo-Kritikern reichen die Ergebnisse nicht aus.

Sie fordern den von der Parteiführung versprochenen Politikwechsel ein, der mit den erzielten Sondierungsergebnissen nicht zu erreichen sei. So fehle ein höherer Spitzensteuersatz, die versprochene Reform der Krankenversicherung in Form einer neuen Bürgerversicherung sei ausgeblieben und die Regelungen zur Flüchtlingspolitik entsprächen nicht den Kriterien, die der SPD-Parteitag im Dezember 2017 für weitere Verhandlungen mit der Union beschlossen habe.

Der Parteivorstand, die sozialdemokratischen Sondierer und viele Landesvorsitzende betonen dagegen, dass man trotz eines dramatischen Bundestagswahlergebnisses von 20,5% sehr viel herausgehandelt habe. Die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles wirft den Kritikern daher vor, die Sondierungsergebnisse »mutwillig« schlechtzureden.

In der Presse und auch in Konversationen sozialdemokratischer Funktionäre und Abgeordnete in sozialen Medien geistert ein sehr wirkmächtiges Argument rum: »Wenn wir die GroKo ablehnen, wird es Neuwahlen geben.« Also ein Automatismus als Argument, das dem Zweck dient, die »aufmüpfige« Basis zu disziplinieren, den »Zwergenaufstand« (Dobrindt) niederzuringen. Denn eine Neuwahl – so wird befürchtet – werde für die SPD verheerend ausfallen. Viele Bundestagsabgeordnete rechnen mit dem Verlust ihres Mandats und viele Parteimitglieder sehen in einer historischen Schwächung der SPD, die Partei am Rande der Auflösung.

Aber gibt es diesen Automatismus? Was sagt das Grundgesetz dazu und welche Hürden stellt es, um den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Vorweg: Es ist kompliziert.

Das Grundgesetz sieht vor, dass der Kanzler oder die Kanzlerin[1] in mehreren Wahlgängen gewählt werden kann. Im ersten Wahlgang wird der Kanzlerkandidat vom Bundespräsidenten vorgeschlagen und es ist bekanntlich die absolute Mehrheit erforderlich, um die Person zur Kanzlerin zu wählen. Absolute Mehrheit heißt 50 % + x Stimmen aller Mitglieder, nicht nur der anwesenden Abgeordneten, des Bundestages. Der mit dieser Mehrheit gewählte Kanzler muss vom Bundespräsidenten ernannt werden. Das war bisher das übliche Verfahren in der Bundesrepublik. Scheitern die GroKo-Verhandlungen, ist die Wahl einer Kandidatin mit absoluter Mehrheit der Stimmen unwahrscheinlich.

Das Grundgesetz ist allerdings nach den Erfahrungen mit wechselnden Mehrheiten in der Weimarer Republik auch auf schwierigere Situationen ausgelegt. Deshalb sieht es weitere Wahlgänge vor, wenn die Kanzlerin im ersten Wahlgang nicht mit absoluter Mehrheit gewählt wird. Art. 63 III GG normiert, dass der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem ersten Wahlgang wieder mit der absoluten Mehrheit seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen soll, der dann eben nicht vom Bundespräsidenten vorgeschlagen wurde. Auch dieser Kandidat braucht also die Kanzlermehrheit, die ohne Koalition zurzeit nicht zu haben ist.

Gelingt es dem Bundestag nicht, einen Kanzler zu wählen, weil die Kandidaten keine absolute Mehrheit erhalten, findet gemäß Art. 63 IV GG unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem derjenige gewählt ist, der die meisten Stimmen erhält. Das heißt in diesem dritten Wahlgang reicht die relative Mehrheit der Stimmen.

Wenn bei den gegenwärtigen Mehrheitsverhältnissen nur eine der Parteien einen Kandidaten aufstellt, beispielsweise die SPD, würden deren Stimmen reichen, um einen Sozialdemokraten zum Kanzler zu wählen. Zu erwarten ist aber, dass auch die CDU eine Kandidatin aufstellt, die aufgrund der Sitzverhältnisse mehr Stimmen erhalten würde.

Mit Blick auf die Rechtsfolge unterscheidet die Vorschrift dann zwischen absoluter und relativer Mehrheit. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der absoluten Mehrheit auf sich, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Das ist zurzeit die unwahrscheinlichere Variante. Erreicht der Gewählte nicht die Kanzlermehrheit, so hat der Bundespräsident zwei Handlungsoptionen: Er kann den mit relativer Mehrheit Gewählten entweder binnen sieben Tagen zum Bundeskanzler ernennen oder er muss den Bundestag auflösen.

Wörtlich heißt es in Art. 63 IV GG: »Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.«

Folge: Der Bundespräsident ist keineswegs verpflichtet, den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen anzuberaumen. Er kann auch die mit relativer Mehrheit gewählte Kandidatin ernennen. Nach diesem Szenario könnte der Bundespräsident also Merkel zur Kanzlerin ernennen. Dafür gibt es nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich stichhaltige Argumente.

Nach den aktuellen Umfragen würde eine Neuwahl die gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse nicht in dem Sinne grundlegend ändern, dass die Koalitionsbildung einfacher wäre. Da der Bundespräsident aber nach dem Telos des Grundgesetzes bestrebt sein sollte, eine Regierungsbildung zu ermöglichen, muss für ihn die naheliegende Option sein, die mit relativer Mehrheit gewählte zu ernennen. Es gäbe also eine Minderheitsregierung.

Die neu ernannte Kanzlerin der Minderheitsregierung könnte nun selbst auf eine Auflösung des Bundestages hinarbeiten, indem sie die Vertrauensfrage – evtl. in Verbindung mit einer Gesetzesvorlage – stellt und dafür sorgt, dass sie diese Abstimmung verliert. Wenn die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages der Kanzlerin nicht das Vertrauen ausspricht, kann der Bundespräsident gemäß Art. 68 I GG auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen. Er muss es aber nicht.

Welche politischen und rechtlichen Möglichkeiten bleiben, wenn der Bundespräsident den Bundestag nicht auflöst? Dann kann die Bundeskanzlerin aus politischen Gründen zurücktreten. Das hat aber keine Neuwahl des Bundestages zur Folge. Das GG geht vielmehr davon aus, dass dann nach allgemeinen Regeln eine Neuwahl des Kanzlers stattfindet.

Zwei Mal wurde in der Geschichte der BRD nach verlorener Vertrauensfrage das Parlament aufgelöst. Helmut Kohl stellte 1982 nach dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum, mit dem er zum Kanzler gewählt worden war, die Vertrauensfrage. Obwohl die schwarz-gelbe Koalition eine Mehrheit im Bundestag hatte, erhielt Kohl keine absolute Mehrheit. Der Bundespräsident löste daraufhin den Bundestag auf und es wurden Neuwahlen durchgeführt, was Sinn des Manövers war. Dieses Verfahren wurde kritisiert und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Das BVerfG formulierte zunächst ebenfalls Skepsis gegenüber diesem Verfahren, bestätigte es aber letztendlich.

Das Gericht führte aus: »Aus dem normativen Zusammenhang erschließt sich danach, dass die Auflösung des Bundestages auch über den Weg des Art. 68 GG stets eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag voraussetzt und als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal erfordert, dass der Bundeskanzler der stetigen parlamentarischen Unterstützung durch die Mehrheit des Bundestages nicht sicher sein kann. ... Eine Auslegung dahin, dass Art. 68 GG einem Bundeskanzler, dessen ausreichende Mehrheit im Bundestag außer Zweifel steht, gestattete, sich zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt die Vertrauensfrage negativ beantworten zu lassen mit dem Ziel, die Auflösung des Bundestages zu betreiben, würde dem Sinn des Art. 68 GG nicht gerecht. ... Insbesondere verfehlt es grundlegend den Sinn des Art. 68 GG wie der vom Grundgesetz geformten repräsentativen Demokratie, die Auflösung des Bundestages und Neuwahlen mit der Behauptung zu fordern, ein über ein konstruktives Misstrauensvotum neu gewählter Bundeskanzler bedürfe neben seiner verfassungsmäßigen Legalität noch einer durch Neuwahlen vermittelten Legitimität.«

Die Auflösung des Bundestages sei dennoch verfassungskonform gewesen, meinte das BVerfG in einer überraschenden Wende, weil die FDP nach dem Koalitionswechsel ein zerstrittener und damit unzuverlässiger Koalitionspartner gewesen sei, also eine instabile Lage bestanden habe (E 62, 1).

Ähnlich war die Lage 2005 nach der für die SPD verlorenen Landtagswahl in NRW. Kanzler Schröder stellte die Vertrauensfrage, mit dem Ziel diese zu verlieren und beantragte beim Bundespräsident die Auflösung des Bundestages, dem Antrag wurde entsprochen und Neuwahlen durchgeführt. Auch in diesem Fall wurde beim BVerfG geklagt und die Klage letztlich abgewiesen.

Das BVerfG wiederholte: »Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Handlungsfähigkeit bedeutet, dass der Bundeskanzler mit politischem Gestaltungswillen die Richtung der Politik bestimmt und hierfür auch eine Mehrheit der Abgeordneten hinter sich weiß.«

Aber auch hier gibt es die überraschende Wendung, die nun etwas allgemeiner begründet wird: »Ob eine Regierung politisch noch handlungsfähig ist, hängt maßgeblich davon ab, welche Ziele sie verfolgt und mit welchen Widerständen sie aus dem parlamentarischen Raum zu rechnen hat. Die Einschätzung der Handlungsfähigkeit hat Prognosecharakter und ist an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden.« Im konkreten Fall nahm das Gericht an, dass Kanzler Schröder die Unterstützung der SPD-Linken verloren habe und deshalb die Auflösung verfassungskonform gewesen sei (E 114, 121).

Diese Urteile signalisieren, dass der Bundespräsident – sollte die mit relativer Mehrheit gewählte Kanzlerin die Vertrauensfrage stellen – den Bundestag verfassungskonform auflösen kann. Er muss es aber nicht. Es bleibt eine Prognoseentscheidung, die letztlich auf der Einschätzung beruhen muss, ob sich nach einer Neuwahl die Zusammensetzung des Bundestages so geändert hat, dass die Kanzlerin auf stabile Mehrheiten bauen kann.

Einen Automatismus »Neuwahl bei Scheitern der Verhandlungen« existiert nicht. Die Auflösung des Bundestages als Voraussetzung zur Ansetzung von Neuwahlen unterliegt verfassungsrechtlichen Hürden, die zunächst überwunden werden müssten. Eine Minderheitsregierung ist somit nicht ausgeschlossen.

Ob eine Neuwahl tatsächlich der SPD einen Niedergang historischen Ausmaßes bescheren wird, ist außerdem ungewiss. Bekanntlich entscheidet sich die Wahl nach einem zähen und langwierigen Wahlkampf an einem Wahlsonntag. Bis dahin kann die SPD ihre Gründe für das Ablehnen weiterer Verhandlungen erläutern. Oftmals ist der Wähler einsichtiger als der ein oder andere sozialdemokratische Abgeordnete und Funktionär es glauben mag.

Andreas Fisahn ist Professor für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der Universität Bielefeld. Ridvan Ciftci ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeit am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der Universität Bielefeld.

[1] Im Folgenden wird der sprachlichen Flüssigkeit wegen mal das eine, mal das andere Geschlecht verwendet, aber immer sind beide gemeint. Im GG ist nur vom Kanzler in der männlichen Form die Rede.

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