10. April 2016 Otto König / Richard Detje: Aktionstag der IG Metall
»Stahl ist Zukunft!«
»Schockszenario in der Stahlindustrie« titelte die Westfälische Allgemeine Zeitung anlässlich einer Prognos-Studie, der zufolge bis 2030 rund »380.000 Arbeitsplätze verschwinden, wenn es in der Stahlindustrie zu einem exogenen Schock kommt«. Prognos sieht nicht nur die 87.000 Arbeitsplätze in der Stahlbranche gefährdet, sondern verweist in der Modellrechnung auf die besondere Rolle der Stahlunternehmen als Auftraggeber für Logistiker und Dienstleister, als Lieferanten für den Maschinen- und Fahrzeugbau sowie für die Elektroindustrie.
Ein »exogener Schock«, so wird orakelt, drohe durch die geplanten strengeren Regeln der EU-Kommission für den Handel mit Kohlendioxid-Verschmutzungsrechten, d.h. der Verknappung des Angebots von CO2-Zertifikaten ab dem Jahr 2021 mit dem Ziel, um eine weitere Absenkung der CO2-Grenzwerte zu erreichen. Für den Präsidenten der Wirtschaftsvereinigung Stahl, Hans Jürgen Kerkhoff, Auftraggeber der Studie, sind das »existenzbedrohende« Pläne, denn damit würden der Stahlbranche ab 2021 Belastungen von durchschnittlich eine Milliarde Euro pro Jahr, bis 2030 sogar von 1,6 Milliarden drohen.
Eine weitere alarmierende Meldung verbreitete wenige Tage später die Rheinische Post. Sie berichtete, der indische Konzern Tata Steel erwäge einen Einstieg in die europäische Stahlsparte von Thyssen-Krupp. Die Gespräche seien weit fortgeschritten. Während diese Spekulationen an der Börse für deutliche Kursanstiege der Stahlaktien sorgten, löste die Nachricht bei den Stahlarbeitern im Ruhrgebiet Existenzängste aus. Denn nur rund 200 Kilometer entfernt im niederländischen Ijmuiden betreibt Tata eines der profitabelsten europäischen Stahlwerke – mit direkter Nordseeanbindung.
Die »aktuell kritische Situation« erhöhe den Druck auf alle Stahlhersteller, über Fusionen nachzudenken, hatte Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger schon vor der Hauptversammlung des Konzerns Ende Januar betont. Grund genug, für die Stahlarbeiter um ihre Arbeitsplätze zu fürchten, würde doch eine Abtrennung des Stahlgeschäfts gut ins strategische Konzept des Konzern-Chefs und des schwedischen Finanzinvestors und Großaktionärs Cevian passen. Inzwischen spielt das einstige Kerngeschäft Stahl im Konzern eine untergeordnete Rolle. Es macht nur noch 30% des Umsatzes aus und ist anscheinend weniger profitabel als der Bau von Aufzügen, Rolltreppen, Fabrikanlagen oder Automobilzulieferteilen.
Drei Jahrzehnte nach der großen Stahlkrise droht der Branche erneut eine Krise. Sie ist einerseits Ergebnis der geringen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage in der OECD aufgrund des Konjunkturabschwungs in China und anderen aufstrebenden Volkswirtschaften und andererseits Resultat nicht getätigter Investitionen in dringend notwendige Infrastrukturmaßnahmen in Europa in Folge der Austeritätspolitik. Laut OECD hat sich die Kapazität der weltweiten Stahlindustrie seit Anfang der 2000er Jahre mehr als verdoppelt.
Alle Stahlhersteller, nicht nur die chinesischen Produzenten, haben darauf mit Exportoffensiven unter Einsatz aller Mittel reagiert, was zum Einbruch der Marktpreise um bis zu 40% geführt hat. Die europäischen Produzenten plagt also nicht vorrangig ein »Tonnen«-Problem, sondern ein »Rendite«-Problem mit niedrigeren Profitraten. So rutschte beispielsweise ThyssenKrupp in den ersten drei Monaten des laufenden Geschäftsjahres 2015/2016 wieder in die roten Zahlen. Mit einem dicken Minus schloss auch der Konkurrent Salzgitter das Jahr 2015 ab (Bremer Nachrichten, 17.3.2016).
Fakt ist: Bei genauerer Betrachtung deutet alles darauf hin, dass sich derzeit auf dem stagnierenden Welt-Stahlmarkt ein klassischer Konkurrenzkampf um Marktanteile sowie die Verdrängung von Wettbewerbern abspielt. Obwohl es auch in Europa hohe »nicht genutzte Kapazitäten« gibt, richtet sich die Kampagne vorrangig gegen China, weil dort mehr als die Hälfte des weltweiten Stahls hergestellt wird. Inzwischen bemüht sich die chinesische Regierung bereits um eine Korrektur der Kapazitäten und kündigte den Abbau von 500.000 Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie an. In der Kohleindustrie sollen 1,3 Millionen Arbeitsplätze wegfallen.
»Dumping-Konkurrenz aus China, Wettbewerbsnachteile durch verschärften Emissionshandel: Die deutsche Stahlindustrie ist in ihrer Substanz bedroht«, heißt es in einem IG Metall-Flyer, mit dem Stahlbelegschaften und Teile der Bevölkerung in den Regionen für den bundesweiten Stahlaktionstag am 11. April mobilisiert werden. Der Kampf um Erhalt der Stahlarbeitsplätze unter dem Motto »Stahl ist Zukunft« ist absolut richtig. Denn Stahl ist und bleibt Teil einer qualitativ hochwertigen Wertschöpfungskette. Dafür könnte der Aktionstag tatsächlich ein wichtiges Signal aussenden.
Doch wofür und mit wem wird tatsächlich gekämpft? Ist es wirklich im Interesse der Stahlarbeiter, wenn an diesem Tag gegen die vermeintliche Wettbewerbsverzerrung durch verschärften Emissionsrechtehandel demonstriert wird? Ist es wirklich angebracht, Seite an Seite mit Unternehmenseignern und dem Management gegen die »gelbe Gefahr«, sprich »Billigimporte« zu protestieren und »Schutzzölle« einzufordern?
Deutschland hat sich bis zum Jahr 2030 zu einer Reduktion der CO2-Emissionen, die die Klimakatastrophe mit vorantreiben, um 40% verpflichtet. Unbestritten ist, dass die deutsche Stahlindustrie in der Vergangenheit erhebliche technologische Maßnahmen ergriffen hat, um den CO2-Ausstoß zu verringern. Es ist jedoch falsch, den Eindruck zu erwecken, als seien alle Möglichkeiten ausgereizt.
Es spricht auch nichts dagegen, bei den vorliegenden EU-Plänen »Nachbesserungen beim Zertifikate-Handel«, übrigens ein marktwirtschaftliches Instrument, das sich zu einem lukrativen Geschäft entwickelt hat, zu verlangen. Das darf jedoch nicht dazu führen, dass die Stahlunternehmen aus der Pflicht entlassen werden, ihre Forschungs- und die Innovationsanstrengungen zur weiteren Reduzierung des Kohlendioxidausstoßes zu verstärken.
Auch der Verweis darauf, dass mit den EU-Plänen die »chinesischen Dreckschleudern« bevorzugt würden, zieht nicht, denn die Zeiten, in denen China wie Ende der 1980er Jahre stillgelegte Anlagen im Ruhrgebiet wie in Hattingen und Dortmund aufkaufte, demontieren und im eignen Land wieder aufbauen ließ, sind längst vorbei. Die heute produzierenden Werke wurden von deutschen Maschinen- und Anlagenbauern u.a. aus dem Siegerland in Asien neu errichtet.
Die Forderung nach »Anti-Dumping Zöllen« gegen China widerspricht zudem einer Politik, die sich auch den Beschäftigten der Automobilindustrie und Maschinenbau verpflichtet fühlt, die umgekehrt betroffen wären, wenn China als Gegenmaßnahme deren Marktzugang einschränken würde. Mit protektionistischen Maßnahmen werden Arbeitsplätze und Stahlstandorte nicht gesichert.
Im Übrigen weist die EU-Kommission in ihrer Mitteilung »Die Stahlindustrie: Erhaltung von dauerhaften Arbeitsplätzen und nachhaltigem Wachstum in Europa« (16.3.2016) darauf hin, »dass inzwischen schon insgesamt 37 handelspolitische Schutzmaßnahmen für Stahlerzeugnisse ergriffen worden seien, 16 davon beträfen Einfuhren aus China«.
Teil einer vorausschauenden Strategie wäre es, die Unternehmen darauf zu verpflichten, ihre Produktion noch mehr als bisher auf Spezialstähle auszurichten. Hier liegt die Zukunft und nicht im Massenstahl. Die EU-Kommission mahnt in ihrer März-Mitteilung erneut »gezielte Maßnahmen in Bereichen wie Handel, Innovation, Wettbewerb oder der Energieunion« an, was dazu beitragen könne, dass die Stahlindustrie auf der Grundlage von Innovation, Ressourceneffizienz, Modernisierung und Reformen konkurrenzfähig bleibe.
Darüber hinaus sollte Druck gemacht werden für eine Wirtschafts- und Strukturpolitik, die entgegen der praktizierten Austeritätspolitik Ausgaben für Infrastrukturmaßnahmen wie beispielsweise Brückensanierungen und den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes fördert. Themen, die der Stahlindustrie neue Perspektiven eröffnen könnten.